zu »1918«

Menschen. Macht. Revolution

Freies Wort, 7.11.2018 — Micael Plote

„Jeder macht, was er will.“ - Das Deutsche NationaltheaterWeimar wagt es, Alfred Döblins „November 1918“ für die Bühne zu adaptieren. Das ist ein opulenter, sinnlicher, anstrengender Theaterabend.
Die Premiere steigt in Weimar am 3. November 2018. Genau 100 Jahre zuvor steigen Kieler Matrosen aus dem Krieg aus. Die Musik grummelt aus dem Orchestergraben, aus den Gräben des Krieges. Ein melancholischer, trauriger Sound. Schon brüllen sie „Für Deutschlands Freiheit!“, schmettern „Von der Maas bis an die Memel“. Kriegsverlierer liegen im Lazarett, verwundet an Gliedern und in der Seele.
Alfred Döblin schreibt an seinem großen Geschichtsepos „November 1918“ von 1937 bis 1943. Da lebt er längst im Exil, er ist verarmt, sein literarischer Ruhm nach „Berlin Alexanderplatz“ verblasst. Wie kaum ein anderer Autor oder Historiker jener Zeit verwebt Döblin in den vier Bänden und auf über 2200 Seiten politische Geschichte und persönliche Alltagsgeschichten, gesellschaftliche sowie private Katastrophen und Aufstiege.
Wie kann so eine Fülle und Vielfalt an Geschichte und an Geschichten, an persönlichen und politischen Schicksalen auf die Bühne gebracht werden? Regisseur André Bücker, Intendant in Augsburg und zuvor in Dessau, trug die Idee über Jahre mit sich herum. Genauso DNT-Chefdramaturgin Beate Seidel. Sie fanden sich und entwickelten aus Döblins Epos eine Theaterfassung mit Musik, die den Roman auf wichtige Erzählstränge komprimiert und auf viel weniger Figuren reduziert. Eine Adaption, die Schauspielern, Chor, Solisten und der Staatskapelle Weimar sehr viel zutraut und den Zuschauern einiges abverlangt.
Entstanden ist ein opulentes, facettenreiches Geschichtspanorama mit individuellen Schicksalen, politischen Protagonisten, Geistern und Teufeln, Träumen und Alpträumen, mit sich aufdrängenden Parallelen zur Gegenwart. Das alles wird geschickt und schlüssig in spektakulären Massenszenen und auch kammerspielartig erzählt und kommentiert. Es wird gesungen und gebrüllt, musiziert und monologisiert, geredet und geraunt.
Der Lehrer Friedrich Becker (Max Landgrebe) wankt, zittert und schüttelt sich. Das Trauma des Krieges wird er nicht los. Er träumt vom Frieden nach dem Krieg. Wacht auf, verdammt noch mal. Sie singen die Internationale: das Volk, die Masse, die Menschen auf der Straße. Beckers Kriegskamerad Maus (Thomas Kramer) stürzt sich in dieses „Berliner Kuddelmuddel“, in Versammlungen, Demonstrationen, Streiks, Prügeleien, in die Beziehung mit Hilde (Simone Müller), die er besitzen will, vergewaltigt und schließlich bekommt. Da ist Becker längst aus dem Spiel um „Glaube, Liebe, Hoffnung“. Die auf der privaten Ebene eskalierenden Konflikte spielen die drei berührend und bestürzend.
Das politische Personal dieser bewegten Tage vom 9. November 1918 bis 15. Januar 1919 lässt Regisseur André Bücker als extreme Außenseiter interpretieren. Friedrich Ebert (Sebastian Nakajew) verkommt hier zur Karikatur, ebenso Philipp Scheidemann (Julius Kuhn). Karl Liebknecht (Markus Lerch) und Rosa Luxemburg (Johanna Geißler) agieren, indem sie agitieren. Die Luxemburg ist da nachdenklicher, unsicher, menschlicher. Sebastian Kowski und Sebastian Nakajew schaffen als Beobachter und Kommentatoren des Spiels um Macht und die Menschen eine ironisch-nachdenkliche Distanz. Herausragend ist die Wandlungsfähigkeit von Elke Wieditz, die manchmal im Minutentakt Kostüme wechselt und in zehn (!) Nebenrollen grundverschiedene Charaktere spielen muss. Das macht sie mit ihrer großen Bühnenerfahrung überzeugend. Christoph Heckel gelingt das ähnlich in fünf Nebenrollen. Die Drehbühne rotiert, wechselt vom Lazarett zur Fabrik, zur Versammlungshalle, zum Gefängnis. Die Bühnenbildästhetik (von Jan Steigert), auch die eingeblendeten dokumentarischen Fotos, erinnern an Bilder von George Grosz, Otto Dix und Künstlern der Neuen Sachlichkeit. Die live von der Staatskapelle Weimar gespielte Musik schafft eine Atmosphäre, die grübeln und gruseln lässt: Wagners „Liebestod“, eine Bach-Kantate, sechs Rilke-Lieder des weißen, am Ende blutenden Engels, interpretiert von der wunderbaren Heike Porstein.
Der große Opernchor des Deutschen Nationaltheaters spielt, singt, spricht und brüllt die Revolution und Restauration auf der Bühne und im Parkett ganz nah am Publikum. Da kommt Gänsehautatmosphäre auf. Der Erste Kapellmeister Stefan Lano komponierte selbst musikalische Übergänge und vertonte die Rilke-Lieder. Er dirigiert und sorgt für den emotionalen Soundtrack dieses nachhaltig beeindruckenden Theaterabends mit Musik. Das muss man als Zuschauer nicht mögen. Das ist für die Künstler auf der Bühne und im Orchestergraben ein anstrengender Abend, der oft sehr atmosphärisch daherkommt, dennoch Längen hat. Teile des Publikums wirkten kurz vor Mitternacht, nach viereinhalb Stunden, ermattet und ermüdet. Theater kann und sollte auch anstrengend für Zuschauer sein. Bei Frank Castorf gehört das zum Konzept. Das Deutsche Nationaltheater beweist mit dieser Inszenierung, welches künstlerische Potenzial alle Sparten gemeinsam mobilisieren können. Das Theater zeigt Flagge als politische Bühne, der Demokratie verpflichtet. Gerade in Weimar.

Jahrhundertwerk für Schauspieler und Staatskapelle

Döblins „November 1918“ im Nationaltheater Weimar

Leipziger Volkszeitung, 6.11.2018 – Roland Dippel

Zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren agiert das Deutsche Nationaltheater mit großer Geste. André Bücker, jetzt Intendant des Staatstheaters Augsburg, und Weimars Schauspieldramaturgin Beate Seidel hatten die gleiche Idee. Alfred Döblins parallel zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im US-Exil entstandener Roman „November 1918“ sollte auf die Bühne: Ein wiederentdecktes Jahrhundertwerk, das in vier Bänden die Wochen vom Kriegsende 1918 bis zur Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Ende Januar 1919 schildert. Jetzt zwingt das DNT das Epos als hochdramatisch in eine bis zum Bersten spannungsgeladene Szenenfolge.
Erst gegen Ende des vierstündigen Abends kommt trügerische Ruhe in die tempo-, personal- und musikintensive Produktion. Da hat der ehemalige Linkssympathisant Maus (Thomas Kramer) die Hakenkreuz-Binde am Arm, in den sich die einstige Lazarettschwester Hilde (Simone Müller) einhängt. Sie entscheidet sich für ihn und gegen Maus’ früheren Kriegskameraden und Freund Friedrich Becker (Max Landgrebe), der in die Abwärtsspirale von Verarmung und Isolation rutscht. Diese private Handlung, in der die großen Gefühle der kleinen Leute über dem Wagner-Rausch von Isoldes Liebestod heftig aufwogen, ist der dünne rote Faden durch das Drama, bei dem das Schauspiel-Ensemble im Totaleinsatz mitmischt: Karikierend, kabarettistisch, auch böse verzerrt als Politiker und Wirtschaftsmagnaten, leidend als die vielen Kriegsverlierer, die im Sturm der apokalyptisch aufbrausenden Zeitgeschichte zu marschierenden Massen werden.
Das DNT macht in dieser imponierenden Produktion ganz großes Bühnen-Kino mit wirklich allen Theater-Mitteln und ohne Schonung von Ressourcen. Die Staatskapelle sitzt im Graben und liefert neben zitierenden Sounds von 1920 eine umfangreiche Szenenmusik ihres Ersten Kapellmeisters Stefan Lano. Der Opernchor skandiert, demonstriert und grölt auf der Bühne und im Parkett. Bilder der Kriegszerstörungen dämmern hinter den Sprossenfenstern auf dem blutroten Hauptvorhang. Jan Steigerts Versammlungssaal mit Mini-Bühne umschließt das Lazarett, den Salon von Beckers überprotektiver Mutter (Elke Wieditz) und die politischen Streitigkeiten von Rosa Luxemburg (Johanna Geißler) mit Karl Liebknecht (Markus Lerch), die die letzten 45 Minuten zum Drama scheiternder Utopien erheben. Wenn dieser Raum aufreißt, flirtet die Dekoration mit dem Expressionismus.
Für den Regisseur André Bücker wurde vor allem die Organisation der Überfülle zur herausfordernden Hauptaufgabe. Natürlich spielt man auf der Bühne lieber kräftig und maßlos als mit dem Feinzeichner, aber dieser große Stoff erfordert einfach die ganz großen Ausdrucksmittel. Sogar dann, wenn Heike Porstein als Engel mit hängenden Flügeln Stefan Lanos Rilke-Lieder zu tröstenden Sopran-Inseln inmitten politischer Stürme weitet.
Nicht zuletzt Suse Tobischs Kostüme, die Babelsberg alle Ehre machten, und die vielen kleinen klugen Aktionssplitter, von denen man im Geschwindigkeitsrausch viele gar nicht erkennt, setzen der mitreißenden Geschichtsreise die Krone auf.

zu »La forza del destino«

Peng und Koks

Süddeutsche Zeitung, 26. März 2018

Verdis "Forza del destino" als Mafia-Albtraum in Augsburg

Von Egbert Tholl, Augsburg

Leonora kennt ihre Mischpoke sehr gut. Und da die Leonora an diesem Abend Sally du Randt ist, kann sie damit auch sehr selbstbewusst und begabt mit viel Komik umgehen. Ihr Zuhause ist ein roter Kitschkäfig, unter dem Kissen hat sie die Pistole, mit der das Unheil seinen Lauf nimmt. Im Gerangel mit ihrem schmierigen Vorstadt-Lover Alvaro, dem von den überschaubaren Segnungen seiner Sangeskunst sehr überzeugten Leonardo Gramegna, kommt Leonoras Vater, der Pate Tobias Pfülb, zu Tode und ihr Bruder Carlos, der mit feiner Präsenz ausgestattete Alejandro Marco-Buhrmester, sinnt daraufhin drei Stunden lang auf Rache. Mit diesen drei Stunden hat man dann das Problem. Denn André Bücker, Augsburgs Intendant, lässt Leonora ihr eigenes Milieu weiterträumen, einen Traum von Krieg, Koks, Kirche, Rache, Geldkoffern und den Tod gemahnenden Eingeborenen wie beim Tag der Toten in Mexiko. Das ist anfangs superlustig, klug und prächtig anzuschauen, aber irgendwann, im dritten Aktoder vielleicht auch erst im vierten, ist die Luft verbraucht. Dann kann auch Domonkos Héja zusammen mit den beherzt aufspielenden Augsburger Philharmonikern nicht mehr alles retten.
So zwingend Bückers Mafia-Erzählung mit vollem Segen der Kirche zwei Akte lang ist, so zunehmend seltsamer wirkt seine viel zu naheliegende Idee, das Ganze als Traum zu erzählen. Traumerzählungen in der Oper wirken immer schnell wie eine Ausrede, mit der man jeden Wahnsinn und alles Sureale legitimieren kann. Natürlich ist Verdis "Forza" eine von vorn bis hinten irrwitzige Angelegenheit. Aber Bücker bräuchte gar nicht den Traumfilter, er könnte seine Deutung auch straight rüberbringen, am besten mit beherzten und für seinen Ansatz gewinnbringenden Kürzungen. Mit Sally du Randt wäre ohnehin mal wieder alles möglich.

Überdosis Schicksal

Donaukurier 25.03.2018

Von Jesko Schulze-Reimpell

Augsburg (DK) Wie viel Zufälle verträgt eine gute Geschichte, um noch als einigermaßen glaubwürdig durchzugehen? Auf jeden Fall nicht so viele wie sich Giuseppe Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave und Antonio Ghislanzoni bei ihrem Musikdrama "La forza del destino" (Die Macht des Schicksals) erlaubt haben. Da löst sich gleich im ersten Akt zufällig ein Schuss und tötet Don Alvaros Schwiegervater in spe.

Er wird allerdings nicht verurteilt, sondern ihm gelingt die Flucht. Dabei verlieren sich die Liebenden, Don Alvaro und Leonora, aus den Augen. Verfolgt werden die beiden von Don Carlo, dem rachesüchtigen Bruder der Geliebten. Zufällig trifft er Don Alvaro, zufällig aber erkennen sie sich nicht und werden sogar Blutsbrüder. Natürlich endet die Geschichte tragisch, alle Helden bringen sich gegenseitig um. Und alles nur, weil zufällig ein Schuss fällt. Zweifellos eine heikle Überdosis Schicksal, ein schwerer Fall für die Logik-Polizei. Der Augsburger Intendant und Regisseur André Bücker hat sich bei seiner ersten Musiktheater-Inszenierung an diesem Haus einen geschickten Kunstgriff ausgedacht, um die ausufernden Schicksalsmächte dramaturgisch in den Griff zu bekommen: Er erzählt die Geschichte als Leonoras Traum.
Bereits während der straff und dramatisch von Domonkos Héja dirigierten Ouvertüre lässt Bücker alptraumhafte Filmprojektionen über die Szenerie flimmern. Die Verdi-Oper spielt für ihn im Drogenmilieu Lateinamerikas, irgendwo im Umfeld Pablo Escobars. Leonora erwacht in ihrem neurreich-kitschig ausgestatteten Schlafzimmer (Bühnenbild: Jan Steigert). Am Tod ihres Vaters trägt sie Mitschuld, denn der Schuss löst sich genau in dem Moment, als sie ihrem Geliebten Don Alvaro die Waffe entreißen will.
Das Zimmer ist eine Art Seelenraum, die Details sind surreal verfremdet. Da schweben Topfpflanzen in der Luft, die Porträts von Leonoras Eltern im Bühnenhintergrund beginnen sich zu bewegen, kommentieren gespenstisch die Ängste der traumatisierten Protagonistin. Vor allem aber ist das Schlafzimmer mit dem riesigen Bett der einzige Spielort der Oper, in dem Soldaten und Mafiosi aufmarschieren, Kokain hergestellt und getanzt wird, das Rotlichtmilieu irrlichtert.
Und immer wieder spuken indianische Gerippe durch die Szenerie, mit Blumengirlanden bedeckten Köpfen, die uns mit knöchernen Fingern ins Totenreich winken. Und im Zentrum von allem hängt fast bedrohlich ein golden schimmerndes Kreuz. Das alles ist nichts als ein surrealer Traum, eine Geschichte, so vital, übertrieben und unwahrscheinlich, als käme sie aus Gabriel García Márquez' Meisterwerk des magischen Realismus "Hundert Jahre Einsamkeit".
So einleuchtend diese Regie konzipiert ist: Das schwache Libretto vermag sie kaum zu retten. Vor allem nicht die vielen Figuren, an denen die abgegriffenen Heldenklischees kleben wie schwerer Ballast. Da ist es schwer, Empathie aufzubringen, und mancher Handlungsexkurs würde zur argen Geduldsprobe werden, wenn nicht so temperamentvoll und einfühlsam vom Opernchor, den Augsburger Philharmonikern und den Solisten musiziert würde. So frisch etwa Sally du Randt die Leonora auch spielt - sie bleibt als Persönlichkeit blass.
Dabei ist die Sopranistin der Star des Abends. Hinreißend, wie differenziert sie die Partie angeht, das verhauchte Pianissimo, mit dem sie das Publikum verblüfft, ebenso das trompetenartige Forte und die unglaublich sonoren Tiefe. Aber auch die anderen Sänger sind wunderbar, etwa der Tenor Leonardo Gramegna als Don Alvaro, der selbst die schwierigsten Passagen souverän meistert. Oder sein Gegenspieler Don Carlo gespielt von Alejandro Marco-Buhrmester, oder Rita Kapfhammer als Preziossilla und Stanislav Sergeev als Padre Guardiano. Eine hervorragende Ensembleleistung und eine schlüssige, durchdachte Regie - all das zumindest ist weit mehr als nur Zufall.

DER TOD IN ROTEN HIGH-HEELS

BR Klassik

27.03.2018 von Dorothea Hußlein

Alles beginnt mit einem Schuss, der sich im Streit aus einer Waffe löst. Marchese di Calatrava wird getötet, als er seine Tochter Leonora di Vargas überrascht, die gerade aus Rücksicht dem Vater gegenüber gezögert hat, mit ihrem Geliebten Don Alvaro zu fliehen. Was als Aufbruch in ein freies Leben gedacht war, endet in Verzweiflung und lebenslanger Flucht vor Leonoras Bruder. Mit "La Forza del destino" schuf Verdi ein radikales Werk. Das Theater Augsburg präsentierte am 24. März eine Neuinszenierung dieser Oper in der Regie von André Bücker.

Die Kontraste der Schauplätze, die Vielfalt der Stimmungen und Emotionen, sind in "Die Macht des Schicksals" so groß wie in keiner anderen Verdi-Oper. Rassismus, Standesdünkel, falsches Ehrgefühl und Rache verhindern eine menschliche Reaktion auf den Unfall mit der Waffe. Der Mörder des Vaters von Leonora, Alvaro, und sein Verfolger Don Carlo sind unfähig, einander zu verstehen. Sie wollen weder verzeihen noch weitere Einmischungen Fortunas akzeptieren, wie ihre beim Militärdienst zufällig entstandene Freundschaft. Erst dadurch wird ihr Schicksal unabänderlich und übermächtig. Verstärkt wird die ausweglose Situation der Hauptpersonen durch den Hintergrund von Macht, Gewalt, Kampf und Todesgefahr, vor dem die ganze Oper mit vielen Chorszenen spielt. Plastikstühle und Porzellan-Dobermann

Die szenische Umsetzung dieser Oper ist ob der vielen Zeit und Ortswechsel eine besondere Herausforderung. Intendant und Regisseur André Bücker verlegt die Handlung von den Kriegsschauplätzen der Renaissance (Italien und Spanien) ins lateinamerikanische Drogendealer-Milieu. Streckenweise wird die Oper zur Mafia Komödie, vermischt mit kolumbianischem Totentanz. Der fatale Tod des Vaters ist für Leonora ein Ur-Schock, der Albtraum einer entleerten Welt, wie Regisseur Bücker es sieht. Das ganze verrückte, bedrohliche und irritierende Universum spiegelt sich in Leonoras Zimmer und ihrem Kopf. Die Bühne ist während der ganzen Vorstellung ein geschmackloses, pinkfarbenes Zimmer, mit zitronengelben Barock-Plastikstühlen, viel Nippes und einem riesigen Porzellan-Dobermann. Rechts und links hängen zwei große Portraits der toten Eltern, die immer wieder als stumme Video-Projektion die Handlung kommentieren. Eros und Thanatos sind allgegenwärtig: die Liebe durch ein rotes Kingsize-Bett und der Tod als bewaffnete Frau in roten High-Heels.

Korrupter Geistlicher

Pater Guardiano als Vertreter der Kirche zeigt wenig Ethik und Menschlichkeit, sondern wird hier als korrupt und sexuell übergriffig interpretiert. Große Chorszenen, die der Opernchor mit Geschlossenheit präsentierte, stehen neben Balladen und lyrischen Arien. Intime Szenen bietet der Abend jedoch wenige, und die Personenregie ist etwas hölzern. Sally du Randt gibt mit melodischer und dramatischer Ausdruckskraft eine mehr naive als zupackende Leonora.

Musikalisch temperamentvoll, szenisch zäh

Die Männer hingegen dürfen präsent und aggressiv sein. Der Don Alvaro ist eine fordernde Tenor-Partie, in der Leonardo Gramegna seine Stimme immer mal wieder an die Grenzen treibt. Alejandro Marco-Buhrmester gibt scheinbar mühelos einen kernigen Don Carlo; souverän agiert Stanislav Segeev als Padre Guardiano. Generalmusikdirektor Domonkos Héja dirigiert Verdi temperamentvoll, temporeich und ohne dickes Pathos. Trotz des vielen Latino-Brimboriums mit Kalaschnikows, Totenköpfen, Sombreros und Ponchos bleibt es szenisch insgesamt ein eher zäher Abend. Immerhin wurde im dritten Akt das Klarinettensolo nicht auch noch durch die Panflöte ersetzt.

Vom Alptraum des Absurden

a3 Kultur, 26. März 2018 - 16:25 | Bettina Kohlen

Intendant André Bücker hat Giuseppe Verdis »La forza del destino« für die Bühne im Martini-Park inszeniert. Zugegeben: Die Handlung ist etwas abstrus. Mit einem Potpourri der Unwahrscheinlichkeiten gerät das Ganze zu einer rechten Mantel-und-Degen-Schmonzette. Dennoch wird mehr als deutlich, wie durch einen Moment des Zauderns alles ins Rutschen gerät: Leonora und ihr Liebster Don Alvaro wollen gemeinsam fliehen, doch sie zögert. Ab dann sorgt »Die Macht des Schicksals« dafür, dass alles auf ein großes Scheitern zuläuft. Leonoras Vater wird erschossen und Rache wird geschworen. Krieg, Gelage und Buße in klösterlicher Abgeschiedenheit folgen. Am Ende stehen weitere Tote. Gewinner: keine. André Bücker siedelt Verdis Oper im südamerikanischen Kokainbandenmilieu der 1980er an, Leonoras Vater ist ein Drogenbaron. In deren Schlafzimmer (Bühnenbild: Jan Steigert) spielt sich alles Kommende inmitten der kitschigen Überheblichkeit von blumigem Damast, Polsterbett, Porzellanhund und sakraler Attitüde ab. Nichts ist hier sicher, die großformatigen Porträts der Eltern entpuppen sich als recht lebendig und die nachgebenden Wände werden durchschritten. In diesem surreal beunruhigenden Setting erlebt Leonora das rabiat absurde Geschehen (vielleicht) als Alptraum … Die Macht der Musik Verdis ist aber unbedingt real und packt von den ersten Takten der Ouvertüre zu, das Leitmotiv führt immer wieder zurück auf den auslösenden Moment des Zögerns, von dem aus es bergab geht. Die immer souveräner werdenden Augsburger Philharmoniker liefern hier mit ihrem Chef Domonkos Heja von der ersten Note an. 1a! Als weiterer Pfeiler des Musiktheaters erweisen sich Opernchor und Extrachor (Leitung: Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek), die mit ihrem überzeugenden Gesang und Spiel wesentlich das Bühnengeschehen tragen. Gastsängerin Rita Kapfhammer (Preziosilla) ist mit ihrer toughen klaren Note eine perfekte Wahl, Alejandro Marco-Buhrmester (Don Carlo) steigert sich aber leider erst allmählich. Als Don Alvaro ist der Gast Leonardo Gramegna zu hören, der zunächst mit strahlendem Klang überrascht, aber im Verlauf des Abends immer mal wieder deutlich daneben liegt. Das Ereignis dieser Inszenierung ist jedoch Sally du Randt, die als Leonora wunderbar und passgenau die Spanne zwischen mädchenhaftem Jubilieren und rauher illusionsloser Erkenntnis auslotet! André Bücker hat der Macht des Schicksals überzeugend geantwortet – entstanden ist eine gelungene Inszenierung, die das absurd Zwangsläufige offenlegt.

zu »Peer Gynt«

Wer bin ich und wenn ja, wie viele Peer Gynts?

Donaukurier 17.10.17

Nicht Fantasien, nicht Suff und auch nicht Sex können dem lebensuntauglichen Träumer Peer Gynt Halt geben. Er findet ihn nicht in Norwegens Bergen, nicht im afrikanischen Marokko, nicht in der Irrenanstalt. Man nennt Henrik Ibsens Drama um den aus der Welt der Funktionierenden gefallenen Sinnsucher gerne den nordischen "Faust". Doch die Inszenierung des "Peer Gynt" am Theater Augsburg zeigt eher ein Geschöpf, das stets das Große will und stets das Kleinste schafft. Einen Mann, dessen Plan zum Bau eines Palastes - warum auch eine Hütte bauen? - schon beim ersten Griff zur Axt an einem Splitter im Finger scheitert. Jede neue Idee verpufft ebenso flink im Reich der Tagträume.

Peer Gynt ist ein junger Mann, der nicht erwachsen geworden ist. Sein Vater hat den Hof in den Ruin gewirtschaftet, seine dominante Mutter hat ihren Spross mit Märchen von Dämonen und Trollen der Wirklichkeit so entfremdet, dass Peer Gynt der Weg aller anderen Dorfbewohner - arbeiten, heiraten, sterben - nicht offen steht. Ein Leichtes wäre die Trendwende zu Beginn des Dramas noch gewesen, hätte er eine schon an Land gezogene gute Partie geehelicht. Doch die lässt er sausen, weil er sich in den Wäldern herumtreibt. Er macht Pläne und scheitert, gerät in die Welt der Trolle und entflieht ihr, er kommt nach Hause und findet die sterbende Mutter - die letzte Verankerung in der Realität geht verloren. Fortan treibt er durch die Welt, landet im Irrenhaus und entkommt, wird reich und verarmt, ehe er den Weg nach Hause wiederfindet.
Die erste Regiearbeit des neuen Intendanten André Bücker verteilt die Figur des Peer Gynt auf sechs gleich gekleidete Schauspieler, die sich wie ein visueller Chor auf der Bühne vervielfältigen. Den echten Chor müssen sie nicht bilden: Die Band Misuk hat eigens Musik und Lieder für den Theaterabend geschrieben. Mit samtig-starker Stimme singt Eva Gold, die zugleich als Statistin zwischen den Peer Gynts umherwandelt, eindringliche und melancholische Songs, in denen das Ungewiss-Bedrohliche mitschwingt. Die Zusammenarbeit mit der Augsburger Band ist ein Glücksfall.
Jan Steigert (Bühnenbild) und Frank Vetter (Video) kennt Bücker hingegen von früheren Produktionen. Gemeinsam ist ihnen eine bildstarke, stimmige und eindringliche Übersetzung des 150 Jahre alten Stücks gelungen. Eine Leinwand für Landschaftsvideoprojektionen umspannt im Halbrund den Bühnenhintergrund im Martini-Park, der sich als höchst geeignete Interimsspielstätte erweist. Eine veränderliche Blockhütte im Zentrum der sandbestreuten Bühne kann offen sein, halb transparent und ihrerseits als Leinwand für Videoübertragungen dienen, die teils aus dem Bühnengeschehen selbst stammen. In schrill-überzeichneten und unentwegt wechselnden Kostümen (Suse Tobisch), passend zur häufig drastischen Darstellung der Trolle, der Irren, der Diebe, herrscht ständig personeller und visueller Tumult auf der Bühne. Das klingt nach dem Regieprinzip "Viel von allem". Was es in der Tat ist, aber bis zum Schluss auf gleich hohem Niveau gehalten wird. Das ist vor allem auch ein Verdienst der Schauspieler. Thomas Prazak, Kai Windhövel, Sebastian Müller-Stahl, Gerald Fiedler, Daniel Schmidt und Anatol Käbisch mimen die sechs Peer Gynts in perfektem Maße wie eine homogene Person und eben doch variantenreich: komödiantisch, melancholisch, nuanciert, exaltiert - alle können alles, inklusive der rhythmischen Sprache des "dramatischen Gedichts", das in einer Übersetzung Christian Morgensterns auf die Bühne kommt.
Als Primus inter Pares erweist sich Anatol Käbisch, dessen Spiel umwerfend konzentriert, vielseitig, scharf gezeichnet und hoch präsent ist. Ihren Spieltrieb dürfen die Peers ausleben, indem sie das komplette restliche Personal des Stücks ebenfalls mimen. Für die Frauen bleiben nur die Rollen der Mutter - Ute Fiedler als glatzköpfige Alte - und Karoline Stegmann als Solvejg, jener Figur, in der zuletzt die Möglichkeit auf Erlösung durch Liebe zumindest als Hoffnungsschimmer am Horizont erscheint.
Die Inszenierung erzählt das Scheitern Peer Gynts nicht nur zeitlich, sondern auch emotional fast linear. Das sorgt für den einzigen Wermutstropfen der Inszenierung: Im zweiten Teil des über dreistündigen Abends gibt es trotz wechselnder Szenarien wegen der starken Verdichtung des langen Stücks echte Längen, in denen der Zuschauer sich mühen muss, nach den inhaltlichen Fäden zu greifen. Nichtsdestoweniger macht André Bückers erste verheißungsvolle Regiearbeit Lust auf mehr. Das gilt nicht minder für das weitgehend neue Ensemble, das sich durch die Bank schauspielerisch in Höchstform gezeigt hat.

Peer Gynt als Sixpack

Augsburger Allgemeine, 09. Oktober 2017

Henrik Ibsens dramatisches Gedicht ist Chefsache: Intendant André Bücker inszeniert es bildmächtig, monströs, geboten abartig. Er fordert seine Schauspieler – und auch sein Publikum Von Rüdiger Heinze

Eben noch betrachteten wir im „Freischütz“ die Persönlichkeitsspaltungen des nationalromantischen Hasardeurs Max, da tritt uns in Augsburgs neuer Ausweichspielstätte Martinipark zum Schauspielstart der Intendanz André Bücker der nationalromantische Hasardeur Peer Gynt in sechsfacher Ausfertigung entgegen. Max und Peer: Zwei tragische Helden, die zu erlösen sind, in zwei großen Balladen. Freilich trennt Max und Peer auch manches. Max kann nur in eine, nämlich bürgerliche Richtung denken, Peer aber in viele Richtungen, unbürgerlich. Peer ist ein Möglichkeitsmensch, anarchisch, freigeistig, launenhaft, fatalistisch. Er springt auf alle Züge auf, die ihn scheinbar oder tatsächlich weiterbringen – egal wohin. Und genau so schnell wird er zum Eskapisten.
Taugenichts, Tunichtgut, Trunkenbold
Dass er auf der Suche nach dem Selbst, nach dem Ich ist, wird ihm erst richtig klar, wenn es zu spät ist. Im berühmten Zwiebel-Monolog, der in Augsburg eingeleitet wird durch zwei Fürze, zieht er sich eine Haut nach der anderen, eine Rolle nach der anderen vom Leib – und findet im Innersten doch keinen Kern. Dass Peer Gynt, der auch gerne mal einen hebt, im Sixpack zu erleben ist, muss der Zuschauer nicht nur als Lebensalter-Abfolge eines Bildungsdramas begreifen; er kann das auch als Abfolge jener Rollen lesen, in die der Taugenichts, Tunichtgut und Trunkenbold schlüpft.
Scharf auf manche Weibs- und Mannsperson unmissverständlich zu begutachten in Augsburg –, mag er erst die geile Troll-Prinzessin ehelichen, um dann doch lieber als Reeder und Sklavenhändler und Missionarsverschieber zu reüssieren, bevor er die verantwortungsvolle Aufgabe eines Wüsten-Propheten auf sich nimmt – und qua Amtsvorteil eine Beduinenhäuptlingstochter besteigen will.
Wird aber nichts Rechtes draus; er kommt wieder nicht zum Ziel, zum Ich. Erst muss er noch Altertumsforscher in Gizeh werden und dilettierender psychologischer Beistand in einem Bezirkskrankenhaus von Kairo – bis er zusammenbricht und sich mit Konsequenz daran erinnert, dass da eine Frau ist, die es zu Hause in Norwegen ehrlich und ernst mit ihm meint und seit Jahrzehnten wartet.
Eine bildmächtige, schrille Revue
Gewiss, all das klingt schwer nach Kolportage, bleibt aber doch auch ein riesiger Fingerzeig auf das Peer-Gynt-Thema Lebenssinn-Suche. Wobei Intendant Bücker, der inszenierend den „Peer Gynt“ zur Chefsache erklärt, seine Auftakt-Spielzeit dialektisch unter das Motto „Sinnsucht“ stellt.
Aber wie auch immer: Wenn Ibsens Titelheld ein Freibeuter des Lebens ist, dann ist Bücker in dieser Produktion quasi ein Freibeuter theatralischer Mittel. Der Lebensweg Peers zieht vor Natur-Panoramen und einer dreh- und aufklappbaren Heimstätte (Bühne: Jan Steigert) als bildmächtige, monströse, schrill-moderne, geboten abartige Revue vorbei. Drastisch wie Shakespeare, saftig wie Goethe. Gynts Biografie ist ein Spektakel, es müsste, wenn’s nicht schon passiert wäre, verfilmt und als große Oper vertont werden. Mithin bedient sich Bücker auch des Videos, der Live-Cam und der Musik: Die Band „Misuk“ mit Frontfrau Eva Gold untermalt und unterstreicht meist introvertiert-melancholisch den steil abschüssigen Weg Peer Gynts.
Nun hat das Werk aber eine hohe, ja überbordende Informationsdichte. Leicht liest man vier Stunden dran und in seiner legendären, aufgezeichneten Berliner Inszenierung kam Peter Stein, der übrigens ebenfalls sechs Peers ins Spiel brachte, auf gut sechs Stunden Spielzeit. Und: Ohne Hochzeits- und Trauergäste, ohne Trolle, Sklavinnen, Irrenhäusler, Schiffsbesatzung etc. sind gut 40 Figuren zu besetzen. Wenn Bücker nun stark, aber verantwortungsvoll auf drei Stunden Spieldauer mit acht multifunktionalen Schauspielern herunterkürzt, dann ist – nennen wir’s wie’s ist – ein komplexer und ein wenig labyrinthischer Abend gewährleistet.
Ein extravagantes Idee-Feuerwerk
Gerade dort, wo die fantastischen und exotischen Abenteuer im fabulierenden Riesengedicht ein wenig der Verdeutlichung bedürften, weil sie metaphorisch mehr sind als wunderliche Episoden, gerade dort brennt Bücker ein extravagantes szenisches Ideen-Feuerwerk ab. Also bei den Trollen und im Afrika-Akt. Eine Sause. Dem zu folgen dürfte für denjenigen nicht ganz leicht sein, der das Stück nicht vollkommen intus hat. Bücker fordert vehementen Sprech- und Spieleinsatz; Bücker beansprucht – vornehme Erwartung des Theaters – konzentrierte Hör- und Seh-Arbeit.
Unter den sechs Peer Gynts ragen heraus: der junge Anatol Käbisch (beinahe treuherzig), der mittelalte Sebastian Müller-Stahl (halb verlebt schon und zynisch) sowie Gerald Fiedler als heimkehrender Todeskandidat. Final erspart Bücker dem Publikum eine sentimentale Pietà-Skulptur mit Peer und Solvejg: Stattdessen geht Gynt gebrochen zum Knopfgießer, der ihn nun wohl gleich umschmelzen wird... Solvejg ist nicht nur attraktiv, sondern auch schön mit Karoline Stegemann besetzt; Ute Fiedler, die Aase, überzeugt noch mehr als ein nachdrücklich verhandelnder Todesbote. Starker Applaus.

Lüste und Lügen

Bayrische Staatszeitung, 13.10.2017

Eine bildmächtige Inszenierung von „Peer Gynt“ eröffnet die Augsburger Theatersaison

Einen kühnen Wurf wagt Augsburgs neuer Intendant André Bücker mit Peer Gynt zur Eröffnung der neuen Schauspielsaison. Seine bildmächtige Inszenierung dieser mit vielerlei nordischen Märchen- und Mythenmotiven gewürzten Saga aus der Feder Henrik Ibsens stützt sich vorwiegend auf Christian Morgensterns gefällige Verse, die jedoch regelmäßig von ein paar qualmenden Platzpatronen aus dem Wörterbuch des Alltagsmenschen aufgeschreckt werden.
Im Mittelpunkt von Jan Steigerts Bühne im provisorischen Spielort Martini-Park (wo alles zur Zufriedenheit der Zuschauer hergerichtet ist) steht die Behausung von Peers Mutter Aase: eine rustikale Holzhütte, die sich bei Bedarf auch leicht und locker im Kreise dreht.
Beeindruckende Videokunst
Spiritus Rector der Szene ist jedoch der Videokünstler Frank Vetter, der den Zuschauer in einer wahren Flut von Bildern ertränkt, von reißenden Flüssen über abgrundtiefe Seen bis zu undurchdringlichen Wäldern, dazu immer wieder Großporträts der Akteure im Dialog. Das ist alles andere als dem Zeitgeist geschuldeter modernistischer Schnickschnack, sondern ein höchst eindrucksvoll eingesetztes optisches Kommunikationsregister.
Dass Peer Gynt mit seiner auf Lüsten, Begierden, Lügen, Phantasmagorien und Illusionen gründenden Lebensphilosophie kein singulärer Charakter ist, sondern, einer sich ständig häutenden Zwiebel gleich, ein ewiger Picaro auf der Suche nach sich selbst, veranlasst die Regie, die Hauptrolle auf sechs Schauspieler zu verteilen. Ihnen obliegt es, die schier explodierende Welt hinter Peers Schädelgitter zur Schau zu stellen. Und ob dies nun Anatol Käbisch und Daniel Schmidt, Thomas Prazak und Sebastian Müller-Stahl oder Kai Windhövel und Gerald Fiedler unternehmen, so sind sie doch in ihrer schauspielerischen Vielfalt und Unterschiedenheit ein Peer Gynt.
Ute Fiedler ist Peers sorgenvolle Mutter Aase und Karoline Stegemann die leise, beharrlich und hingebungsvoll liebende Solvejg. Uneingeschränktes Lob für ein überzeugendes Multi-Tasking- Ensemble, ebenso auch für die Band „Misuk“ mit ihren sehr diskret eingeschobenen Chansons. André Bückers Inszenierung, die zwischen Magie, Exotik, Surrrealität, Absurdität, Untergangslust, ein paar derbkomische Comedy-Gags inklusive, so ziemlich alles bedient, was das Auge zu fassen bereit ist, hinterlässt ein sehr aufmerksames, gelegentlich zwischen Verwirrung und Verstörung dreieinhalb (lange) Stunden ausharrendes Publikum, das sich mit außergewöhnlich freundlichem Beifall bedankt. (Hanspeter Plocher)

Ein halbes Dutzend Gynt

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2017

Die tollsten Geschichten von Peer Gynt: André Bücker, der neue Intendant in Augsburg, findet im Kulturmüll zurück zur Natur des Erzählens.

Ein Langhaariger! Selbst hier oben? Die Mode ist einfach nicht totzukriegen. Und der Spross des hohen Nordens, dem das sonnenblonde Haar so üppig sprießt, springt auch noch in sechsfacher Ausfertigung vor der Fjordkulisse herum. Am längsten hält sich die Mode, deren Trendsetter sich selbst kopiert. Gleich ein halbes Dutzend Darsteller des Peer Gynt bietet André Bücker auf, der neue Intendant des Theaters Augsburg, der sich mit seiner Inszenierung von Henrik Ibsens dramatischem Gedicht dem Publikum vorstellt. Kann er Armeen aus der Erde stampfen? Nicht nötig, die sechs Hauptdarsteller wachsen aus dem Bühnenboden.

Peer Gynt ist ein Naturbursche und war so lang mit sich allein, dass er jetzt im Verein auftritt. Wie er in den Wald hineinblickt, so schaut es zurück. Als nach dem ersten Jüngling mit falschgoldener Mähne, nackter Brust unter jeansblauem Hemd und nackten Füßen unter hellblauer Hose ein etwas älterer Jüngling in identischem Outfit sichtbar wird, vermutet man für einen Augenblick, Bücker wolle mit einer Psychologie des Doppelgängertums Ordnung in Peer Gynts Abenteuer bringen. Doch dann wandert der Dreifachgänger ins Bild, gefolgt vom Vierten und Fünften im Waldeinsamkeitsbunde. Und als der Sechste so daherkommt, wie ihm die Haare gewachsen sind, hat man begriffen: Hier wird eine naturwüchsige Überschussproduktion gefeiert, die sich auf keine binäre Funktionslogik reduzieren lässt – die pure Lebenszeitverschwendung, die der Anfang des Theaters ist.
Peer Gynt zieht nicht aus. Das soll auch in der Großstadt vorkommen. Aber auf dem Land, in der norwegischen Weite, wo keine Universität steht, in der ein ewiger Jüngling zur Tarnung den Tag vor dem Abendbrot loben kann, das daheim bei Muttern auf ihn wartet, da ist das Feld-, Wald- und Wiesenhockertum eine Schande. Peer Gynt begibt sich nicht unters Friseurmesser und macht auch selbst keinen Schnitt. Er denkt gar nicht daran, sich abzunabeln. Der Mutter sind vor Kummer schon die Haare ausgefallen. Dabei ist sie hart im Nehmen – und im Geben. Ihre Ohrfeige hallt sozusagen optisch nach. Einer der sechs Peer Gynts bekommt sie, die anderen fünf halten sich ebenfalls die Backe. So wird, auch wo Peer Gynt vollkommen passiv ist und eine jämmerliche Figur macht, immer etwas Größeres aus seinen Verrenkungen, ein mythisches Geschehen. Die vergeudeten Lebenschancen, die ihm ins Gesicht hängen und die Sicht nehmen, sind zugleich ein riesiges Potential. Er treibt es toll, toller, am tollsten, will sich die Braut zurückerobern, die er aus den Augen und aus dem Sinn verloren hat, verliert sie gleich wieder, weil er lieber mit Solveig tanzt, der mysteriösen Migrantin, und will mit dieser aber erst dann in den Himmel hineintanzen, wenn er sich die Erde untertan gemacht hat, als Kaiser von Gyntiana mit der Hauptstadt Peeropolis. Alle männlichen und viele weibliche Nebenrollen in dieser Szenenfolge werden von den Darstellern Peer Gynts übernommen, also von Peer Gynt selbst. Es sind Wesen der Unmöglichkeit: Gammler auf Hochtouren, Hippies, die ihre Sache tierisch ernst nehmen, faule Zauberkünstler. Der König der Trolle klingt mit seiner weinerlichen Kulturkritik in der Übersetzung von Christian Morgenstern schon wie ein Wahlredner der Alternative für Norwegen: „Mit uns geht’s die letzten Jahre zurück, / Wir haben den Halt, sozusagen, verloren, / Und Volkshilfe macht uns am End’ wieder flügg.“

Recycelter Kulturmüll

Den Schöpfer der Phantasiegeschöpfe erkennt man an ihren strähnigen Haaren: Sie sind samt und sonders Schmierenkomödianten und rundweg brillant. Ein besonderer Höhepunkt: die Trollprinzessin, die mit dem Trollbalg im Einkaufswagen Jagd auf den flüchtigen Papa macht. Die Haare des Kindes sind scheinbar länger als die Beine. Eifrig ballt es im rollenden Sitzstall die Fäustchen, um die mütterlichen Alimenteforderungen zu dirigieren, wie vom Affen des Morgensternschen Rhythmusgefühls gebissen. Zum Schießen, wie der kleine Tolpatsch das spielt!

Ein Einkaufswagen? Selbst hier unten: Die Mode ist einfach nicht totzukriegen. Bücker importiert die Versatzstücke des zeitgenössischen Trash-Theaters – was nicht als Hommage an den Ortsgeist der Industriehalle gemeint ist, die dem Theater Augsburg während der Sanierung des Großen Hauses von 1877 als Ausweichspielstätte dient und ausgesprochen schmuck hergerichtet wurde. Das Wunder dieser Eröffnungspremiere: Die Reste-Rampe mit vulgären Effekten aus dem Castorf-Katalog wird vor dem überwältigend schönen Prospekt nordischer Videolandschaftsbilder zum Ort einer poetischen Epiphanie. Der Kulturmüll wird recycelt – wie Ibsen sein Gedicht zusammenbastelte aus Sagenfragmenten teilweise dubiosen Altertums, die in seiner Heimat so herumlagen. Die Blockhütte der Mutter, der trotzigen Braut, der engelsgeduldigen Solveig bleibt dreieinhalb Stunden lang auf der Bühne stehen, dient als Projektionsfläche und leuchtet je länger, desto geheimnisvoller: die Urhütte der erfinderischen Jugendkraft des mythischen Erzählens.

zu »Fräulein Julie«

„Fräulein Julie“ ohne anbiedernde Verrenkungen aktualisiert

Rhein Zeitung Koblenz

Premiere Regisseur André Bücker hat Strindbergs Schauspiel von 1888 in einem ehemaligen Koblenzer Kino für seine Darsteller, unsere Zeit und den Spielort bearbeitet

Von unserem Kulturchef Claus Ambrosius

Koblenz. „Kommen se rein! Da tanzt die Jenny.“ Das sind nicht die Eröffnungsworte, die August Strindberg seinem Drama „Fräulein Julie“ 1888 mitgegeben hat. So oder so ähnlich startet jetzt aber der Abend mit „Fräulein Julie“ vor dem „Luxor“ in der Koblenzer südlichen Vorstadt. Das Lichtspielhaus, das nach Abebben der Pornokinowelle schließen musste und neuerdings wieder vielfältig genutzt wird, atmet an diesem Abend Rotlicht. Und davor steht der muskulöse Koberer, kaum zu glauben, dass es ein Statist ist, ebenso wie „Jenny“, die sich auf der Bühne zum Discowummern die Seele aus dem Leib tanzt.

Jenny also, im Nachtklub. Und nicht Julie in der herrschaftlichen Küche. Wieder so eine „Fräulein Julie“-Adaption, die das Stück als Vorwand nutzt zu wilden Collagen wie in der Region zuletzt Robert Borgmann vor einer Handvoll Jahren am Mainzer Staatstheater?

Ganz und gar nicht. André Bücker, in Koblenz mit seiner energiegeladenen Inszenierung von „Eine Familie“ (August: Osage County) in guter Erinnerung, ordnet seine Adaption des einstigen Strindberg-Skandals zwar vorwarnend als „nach Strindberg“ ein – bleibt aber ganz nah dran an der Handlung, über Stellen auch an der originalen Sprache.

Sicher, nach 1888 klingt vieles nicht, die meisten Kraftausdrücke, die im „Luxor“ fallen, waren da noch nicht erfunden. Und eine Sexszene, die so unverblümt und dabei desillusionierend realistisch zu sehen ist, war Strindberg sicher auch noch nicht vorstellbar. Dafür haben aber viele der Grundkonstellationen, die zur Uraufführung für einen Skandal sorgten, im Wechsel unserer Gesellschaftsnormen an Relevanz und Brisanz verloren – und die gibt ihnen Bücker in Koblenz ansatzweise zurück. Der Grundkonflikt bleibt unangetastet: Wie ungebremste Züge rasen zwei Menschen aufeinander zu, die verschiedenen Milieus entstammen. Einmal Jean mit Migrationshintergrund und ohne Geld, dafür mit dem Drang nach oben auf der Gesellschaftsleiter. Er ist Angestellter des Halbweltbosses, dessen Tochter Julie eisern Disziplin übt, aber auch alles ausprobiert, um sich selbst zu finden. Der Tabubruch ist nicht, dass sie sich mit Jean einlässt – eher, dass sie auf der Suche nach Gefühlen für einen Moment Verletzlichkeit zeigt. Was prompt in der Katastrophe mündet.

Der mal unmerklich, mal bewusst ausgestellte Wechsel von alter und neuer Sprache ist ebenso wie der Umschlag von Partystimmung für alle zur doch gewohnten, wenn auch durch den ganzen Klub mäandernden Zuschauersituation einer der starken Momente dieses Abends, der einen Klassiker für ein potenziell neues Publikum aufbereitet, ohne ihn dabei an eine anbiedernde Beliebigkeit zu verraten. Und der vor allem den drei Hauptdarstellern im denkbar intimsten Rahmen große Entfaltungsmöglichkeiten für saftiges Schauspieler-Theater gibt.

Wer Katja Sieder nur von prominenten Vorabend-TV-Serien kennt, wird von ihrer Julie verblüfft sein. Hinter der angestoßenen Hochglanzfassade des hartherzigen It-Girls das gebrochene Kind zu zeigen, die Achterbahnfahrt der Emotionen, die in der Nähe zum Publikum von sehr zart bis turboheftig ausfallen dürfen – das macht ihr sichtlichen Spaß.

Auch David Prosenc darf – und kann – als Jean eine große Bandbreite auffahren. Sein Wechsel vom in jeder Hinsicht abhängigen Angestellten zum berechnenden Spielmacher ist einer der roten Fäden dieser kurzweiligen 90 Minuten. Und Isabel Mascarenhas als professionell animierende und auch auf dämliche Anmachen um keinen Spruch verlegene Kristin, die vom Leben gebeutelt die wohl realistischsten Einschätzungen der Situation liefert, wertet diese kleinere Rolle entscheidend auf.

Natürlich muss man „Fräulein Julie“ nicht zwingend so erzählen. Das Stück funktioniert auch noch im Original und mit hohem Sprecherton auf großen Bühnen. Aber es ist ein spannendes Experiment, dass auch erfahrenem Publikum mit vielen schlauen Querverweisen im Text diebische Freude bereiten kann. Und der Schluss? Das lassen wir hier offen. Soviel: Drinnen tanzte die Jenny. Ob sie den Abend überlebt, ist ebenso zweifelhaft wie bei Fine, Julies Hündchen, das die Regie im Tausch gegen den Ziervogel des Originals eingefügt hat – wohl, weil hier mehr Blut zu holen ist. Es hat einen Grund, dass der Abend frei ab 16 ist.

zu „Götz von Berlichingen“

Mein Flug ist der Aufstand, Theater der Zeit, Mai 2015

André Bücker setzt seiner Intendanz am Anhaltischen Theater Dessau mit Goethes Freiheitsdrama "Götz von Berlichingen" ein furioses Ende

von Gunnar Decker

Wer jetzt noch weiter am Theater sparen will, macht es vorsätzlich kaputt. Und wenn die Strukturen erst einmal zerstört sind, dann ist das unwiderruflich. Da ist sich Intendant André Bücker sicher. 25 Jahre Abbaudiskussionen haben das deutsche Stadttheater an den Rand seiner Existenz gebracht, auch das Anhaltische Theater Dessau.

Dass das unverantwortlich ist, sagt er jedem, der es nicht hören will, gleich ob Dessaus Oberbürgermeister oder dem Kultusminister Sachsen-Anhalts Stephan Dorgerloh, der mit viel Geld Kirchen zum großen Luther-Jubiläum restaurieren lässt, aber an der Gegenwart der Kultur spart. Immerhin: Kein anonymes Gutachten einer Unternehmensberatung, das als Alibi für den Abbau herhalten muss, sondern ein "Kulturkonvent" mit Experten, die über die Zukunft der Kulturlandschaft Sachsen-Anhalt berieten, das schien 2011 ein verheißungsvoller Ansatz zu sein.

Das Ergebnis war verblüffend, jedenfalls für den Kultusminister: Es wurde ein Mehrbedarf von acht Millionen Euro festgestellt! Schnell kassierte der Minister die selbst in Auftrag gegebenen Thesen zur Kultur ein und verkündete stattdessen einen weiteren Abbau - allein dem Anhaltischen Theater Dessau fehlten nun drei Millionen Euro im Haushalt. Eine selbstherrliche Dreistigkeit, die André Bücker an den Rand der ihm eigenen Höflichkeit brachte. Dessau ist immerhin als Bauhaus-Stadt eine Urzelle der Moderne und kämpft zudem mit starken sozialen Verwerfungen. Da gibt es brennend aktuelle Themen und drängende Aufgaben für ein Stadttheater!

Mit "Hallo Nazi!" hatte das Theater im vergangenen Jahr offensiv auf die wachsende Neonazi-Szene reagiert; die Kommunalpolitik schaute skeptisch zu. Wurde da nicht ein hässliches Thema, über das man besser nicht öffentlich spricht, unangemessen aufgewertet? Es gab diese Stimmen, und Bücker ist darüber immer noch fassungslos. Einfach wegschauen, die Touristen nicht beunruhigen? Das entspricht nicht dem Kulturauftrag, wie er ihn versteht. Aber auch lokalgeschichtliche Annäherungen wie die in Tine Rahel Völckers Stück "Der fliegende Mensch" über den Flugzeugbauer Hugo Junkers stießen bei der Lokalpolitik vor allem auf Skepsis. Der Vorwurf der Nestbeschmutzung lag in der Luft.

Die Zuschauer jedoch standen hinter ihrem Generalintendanten. Seit der Wende gab es noch nie eine so große Demonstration wie die für den Erhalt des Vierspartenhauses, erinnert sich Bücker. Das Problem sei, dass in der Landes- und Kommunalpolitik viele Politiker bei komplizierten kulturpolitischen Themen einfach weghörten. Mit den eigentlichen Akteuren werde ohnehin nicht gesprochen. Als das Theater im Landtag zu Fragen der Strukturentwicklung Rederecht hatte, unterhielten sich die im Saal verbliebenen Abgeordneten oder beschäftigten sich mit ihren iPhones. Perfide und böse nennt Bücker diese Art Umgang, bei dem Argumente nicht mehr zählen, weder geistige noch wirtschaftliche. Der Bauhaus-Direktor Philipp Oswalt musste gehen, nun auch Bücker, dessen Vertrag ausläuft. Er könne sich ja wieder auf seine Stelle bewerben, teilte man ihm lakonisch mit, ihm, der das Haus sechs Jahre erfolgreich geleitet hatte – und mehr als das.

Das Problem, so Bücker, seien selbstherrliche Provinzfürsten, die sich bei jeglicher Kritik sofort beleidigt zeigten und versuchten, starke unabhängige Geister loszuwerden. Da sind wir schon mittendrin in Bückers furioser - fast vierstündiger - Abschiedsinszenierung in Dessau, Goethes Frühwerk "Götz von Berlichingen". Es sind zwei von knapp vier Stunden gespielt, da hebt der um seine Freiheit fechtende Ritter mit der eisernen Hand ab wie Heiner Müllers Engel der Vernichtung: "Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen." Dieses Tableau aus Ritterburgen, Wirtshäusern und Bauernkrieg bekommt dabei etwas auf andere Art Angstmachendes: Es wird inwendig. Das scheint einem Weltenwechsel ähnlich, einem Genrewechsel auch: von einem vielstimmigen Zeffirelli-Breitwandepos zu einem ebenso inständigen wie eisigen Kammerspiel.

Was hier in Dessau gespielt wird, ist das Drama der Freiheit, nun aber ganz ungeschützt auf des Messers Schneide balancierend – und das im doppelten Sinne, auf der Bühne und in Bezug auf den Regisseur des "Götz von Berlichingen", den Intendanten des Hauses André Bücker. Auf der Bühne, die überall ist, wirkt es wie von Godard oder Bergman fotografiert. Dieser hier fortwährend betriebene optische Wechsel gleicht dem von einem Weitwinkel- zum Teleobjektiv. Was anonymes Schicksal schien, wird individuell. Und das, wo jetzt die Schlachten, nein, das Schlachten beginnt.

Die Filmästhetik sei durchaus gewollt, sagt Bücker. Der Tisch in seinem Büro ist mit Büchern beladen. Er schiebt einen Stapel mit Noten vom "Ring des Nibelungen" beiseite. Irgendwo muss schließlich auch die Kaffeetasse noch Platz finden. André Bückers "Ring des Nibelungen" ist als "Bauhausring" bereits in die Wagner-Aufführungsgeschichte eingegangen. Für diesen fand er eine verblüffende Bildsprache (Oskar Schlemmers Figurinen!), entwickelte ein eigenes Zeichensystem. Nibelheim als Rechenzentrale einer anonymen Macht!

Auch beim "Götz von Berlichingen", mit dem er sich nun aus Dessau verabschiedet, entdeckt er Ausdrucksmöglichkeiten, in denen sich Goethes Text und unsere Gegenwart auf unerwartete Weise verbinden. Dieser Ritter in eigener Mission, der sich nicht kaufen und zum Vasallen machen lässt, sei, so Bücker, eine "aufgerissene Figur".

Die filmschnittartige Struktur gibt es bereits bei Goethe, das habe ihn fasziniert, sagt er. 72 Figuren und 53 Szenen im Stück, die in dieser Inszenierung nun fast alle erhalten sind, wenn auch manchmal nur mit einem oder zwei Sätzen. Inszenieren, wie man einen Film schneidet! Die Türen zum Zuschauerraum stehen vier Stunden lang offen, das ist Teil der Spielanordnung. Frontaltheater fand Bücker in diesem Fall nicht sinnvoll: Es herrscht schließlich der Ausnahmezustand im "Götz von Berlichingen", innerlich ebenso wie äußerlich. Darum sitzen wir nun mittendrin, das Drama der Freiheit des Stürmers und Drängers Goethe wird nicht irgendwo gespielt, sondern mitten unter uns.

Was als Erstes auffällt, ist der Chor, der wie eine Mischung aus griechischem Schicksalskommentar, Landfrauen-Gesangstherapie und Agitprop-Erinnerung daherkommt – immer mit dem passenden Lied im Gepäck. Dieser Chor gehört zu Bückers Konzept des "Totaltheaters". Ein Chor ist vielstimmig, er zeigt die Masse als Subjekt, das fand er gerade für die Zeit des Bauernkriegs wesentlich. In Massen gärt etwas Revolutionäres, besonders dann, wenn sie zu singen beginnen! Aber ist die Masse nicht auch etwas sehr Unberechenbares, siehe Elias Canettis Analyse in "Masse und Macht"? Genau, sagt Bücker, aus der Fluchtmasse könne plötzlich eine schweigende Masse werden, auch eine Pogrom- oder Panikmasse.

Nach zwei Stunden hält Götz seine Rede über das Faustrecht. Felix Defèr ist ein Götz wie aus einer Motorradgang, wo man sich Bierbüchsen und grobe Sprüche zuwirft. Kein Hort hohen Idealismus, sondern ein Abgrund vorzeitig begrabener Energien, die wieder an die Oberfläche drängen. Derer trägt – ebenso wie Sebastian Müller-Stahl, der Götzens früheren Freund und Gegenspieler Weislingen spielt - diesen langen Abend, der einem doch nie lang wird. Das liegt an der Intensität, die hier – ein Wunder geradezu – von Stunde zu Stunde nicht ab-, sondern zunimmt! Was ist Freiheit ohne Stärke des Charakters, ohne Willen, den Preis für sie zu bezahlen?!

Das alles gehört zu Defèrs freier Rede über Götzens eiserne Faust und das Recht, das er sich verschafft. Götz, der Selbsthelfer in höchster Not! Diese Ansprache ans Publikum trägt "Volksfeind"-Züge. Kein Agitator spricht hier und kein Entertainer, aber wer dann? Ein Bekenner, der sich immer wieder in Abstand zur eigenen Botschaft bringt; daher die Brechungen, der Bumerang der Dialektik, der jedes Argument in den Mund, der es ausspricht, zurückkehren lässt, aber nun unter negativem Vorzeichen.

Der Einzelne als widerständiges Sandkorn im Getriebe, mit dem keiner rechnet, der aber das Getriebe zum Knirschen oder sogar zum Stillstand bringt. Anarchie als Nullpunkt einer neuen Ordnung? Manchmal ist solch gärender Stillstand zu wünschen: Denkpause für alle Beteiligten, Chance zur Korrektur.

»Auf Gnad und Ungnad!« - Goethes »Götz« in Dessau, Wutbürger von heute und die Krux der Kompromisse, neues deutschland, 28.04.2015

von Hans-Dieter Schütt

Deutsche Einheit Ost: Du sitzt in Dessau und denkst Rostock. Beide Theater-Städte sind derzeit so überall, wie es die Kali-Kampfstätte Bischofferode war. War! Der Staub, der aufgewirbelt wird, bleibt gewöhnlich Herr der Lage: Er setzt sich durch, indem er sich auf alles - legt. Und so wird sich alles Wutschaffende wohl leider friedhöflich beruhigen, wird im Regelwerk der Bürokratien ersticken. Am Anhaltischen Theater Dessau etwa muss Intendant André Bücker gehen - um diesen Kasus herum: das übliche Gezerre um Etats, Kürzungen. Kulturpolitiklosigkeit. Missachtung. Politikkulturlosigkeit.

Kurz vor Schluss inszenierte Bücker nun »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand« von Johann Wolfgang von Goethe, »ein deutsches Lied von der Freiheit«. Purer Sturm und Drang. Wie ein Vor-Spiel zu Schillers »Räubern«. Eisenfaustkämpfer Götz, solidaritätsnah den aufständischen Bauern und noch näher dem ehrlichen, offenen, regeltreuen mittelalterlichen Faust- und Fehderecht - er trifft aufs keimende bürgerliche Recht. Standesrecht. Abstrakt. Manipulierbar. Gummizäh auslegbar. Berlichingen - B wie Bohley: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Der Rechtsstaat ist ein Fortschritt, unbedingt. Aber auch er lehrt, was Fortschritt immer war, in jeder Gesellschaft: im Fortschreiten ein Wegdriften. Von Werten, Tugenden. Und also muss Götz in vielen, vielen Szenen aus Schlacht und Schlingelei - untergehen.

Die Dessauer Inszenierung hat ihre ganz eigene Dialektik - von Hölderlin gedichtet: »Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.« Dies Rettende, für jeweils vier Aufführungsstunden: eine mitreißende Kraft, aus des Ensembles Notwehr geboren; im Abschied ein glühender Überschuss; ja, wo das Gift der herrschenden Politik an die Wurzel geht, da blüht noch einmal die Krone grün wie nie. Fast zynisch, was Krisen bewirken. »Und alle Welt hofft«, heißt’s im »Götz«. Vergebens, aber hier doch sehenswert. Sehenswert, weil die Inszenierung, weil das Rauschfest dieser Truppe zwar alle Wut-Literatur dieser Welt zitierend zusammenholt, von Büchner bis Pussy Riot, von Luther bis Ensslin, von Sophokles bis Camus, aber: An keinem Punkt dieser Intensitäten und Improvisationen wird das eigene Theaterschicksal zum leiernden, liturgischen, launigen, gar larmoyanten Thema erhoben. Man macht kein Theater, man spielt Theater. Verdammt flammiges, pathetisch flächenfressendes, genussvoll expressives Theater.

Was zu sagen ist: Lass es krachen! Das hatte schon auf dem Vorplatz des Theaters begonnen, mit brennenden Fässern, Kanonenschlag und schleimig warnenden Law-and-Order-Reden sogar vom Dach des Hauses. Aber unten auf den Treppen: ketzerisch die Luxemburg - mählich mischt sich das gesamte Spielensemble unter die Zuschauer. Gaukelei, die den Geist der kommenden Veranstaltung ins Gewusel der Leute pustet und prustet.

Die Aufführung weitet eine Wunde: Träumende Sehnsucht treibt den Menschen in den Aufruhr - einsichtiger Verstand treibt ihn dort wieder weg. Bücker fährt sie alle auf, die wir kennen, die Bühne ist dafür weit und groß und leer genug: Da ist der unideologische Eisengeist, da sind sympathische Trotz-alledem-Typen, da ist der eingefleischte Blutbad-Pädagoge, da ist der Mann des Handschlags, und da ist natürlich auch der Animator des Tot- und Kahlschlags. Ein irrwitziges Energiezittern geht durch die Personage. Vom Rang meldet sich der Opernchor: samten, stürmisch, körnig, kunstvoll. Aufputsch, Aufwind. Und deftige Zwischenrufe nach unten. Die werden erwidert: »Schnauze da oben!« Das Schlachtfeld: immer auch Showtableau.

Stark, wenn auf der großen Bühne der Mensch allein steht und wirkt. Erst apodiktisch kühn, dann apokalyptisch gepeinigt - und darin erst eigentlich würdevoll. Der Götz des Felix Defèr: jung, sehnig. Großer Junge, draufgängerisch, mit den Elastizitäten eines Turners. Ein Beispiel, dieser Kerl. Immer heißt es ja, man möge bei der Betrachtung von Verhaltensweisen den Charakter der jeweiligen Zeit betrachten, alles aus dieser Zeit heraus bewerten (auch die DDR lässt grüßen). Das sagen am innigsten die Feigen. Denn Zeit, was ist das? Es sind Menschen, und immer haben Einzelne, im Augenschein der gleichen Konflikte, gar in gleichem Geiste, doch mutiger, erschütterbarer gehandelt als die Menge, waren weniger säuselnd sittsam und waren nicht so lauernd listig wie die Karrieristen - die nie von Karriere, sondern von Einsicht und Pflicht haspelten (aber es gibt auch einen Karrierismus der idealgefütterten Mitläuferschaft). Dessaus Götz steht und widersteht und wundert sich irgendwann, warum er so alleine steht.

Mario Klischies als Georg, der Getreue des Götz: hier ein Behinderter, sprachverzögert, aber trommelstockpräzise. Berührend. Der Bauernkrieg: Aktion Mensch. Sebastian Müller Stahl gibt den Weislingen, auch ein Vertrauter von Götz und am Ende doch der Weg- und Überläufer, der Schinder, der Wankende und Weiche - bestechend einfühlsam diese Studie der Schwäche, antikisch hart und heulenswert dann: Weislingens Sterben. Aufschwebt hinter ihm Maria (in Stille doch so wild: Katja Sieder), die Schwester von Götz, geflügelt, Heiner Müllers Engel der Verzweiflung: »Ich bin der, der sein wird. Ich bin das Messer, mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt.« Und: »Meine Hoffnung ist die erste Schlacht.« Die erste Schlacht nach der jeweils letzten. Schön dann, wieder von Siegen zu träumen.

Adelheid, eine der Frauen im Stück (Illi Oehlmann: dämonisch, abgefeimt), wird mit Rilke auf den Lippen sterben: Schönheit? Nur immer der Anfang des nächsten Schreckens. Denn Verführung (ob durch schöne Märchen oder schöne Mädchen, ob durch schöne Weltentwürfe oder schöne Weiber) ist immer auch Entführung - und mancher Verführte sieht sein Ich nie wieder. War so, ist so, bleibt so. Zum Beweis dessen kommt verwegene, verwirrte, verwahrloste, verarmte Masse auf die Bühne. Da eine FDJ-Fahne, da das Regenbogenbanner, dort ein SA-Mann, da drüben der Rotarmist, und unter Schwarz-Rot-Gold werden die Schwerter gezückt wie die Gewehre in Anschlag gebracht. Alle Epochen gleichsam in einer, das ist immer so falsch wie wahr. Vor allem wahr.

Starkes Theater der Verzweiflung: Die Welt ist grausamer geworden in ihrer Gelassenheit, Selektion zu ertragen, Arm und Reich, Wert und scheinbaren Unwert. Und diejenigen, die selektieren, sind raffinierter geworden, Selektion zu vertuschen. Angekurbelt wird so die Wutbürgerproduktion. Die Ratlosigkeit auch. Wir sehen diesen Kaisertreuen und Fürstenhasser Götz, sehen diesen Rebellen und wissen um uns selber: Wir sind Koalitions- und Konsenskünstler. Der Kompromiss ist unsere Schule der Freiheit - aber: Kompromissfähigkeit zerstört auch, und zwar die Entschiedenheit, einen Zustand nicht hinzunehmen und daraus den Mut zu entwickeln, ein radikales Zeichen zu setzen. Menschenrechte? Unbedingt! Aber was ist mit den Rechten eines Gefühlshaushalts, der die Wut herauslässt, statt ihn in einen Diskurs zu kanalisieren? Der das Feuer anzündet, statt es als Lichterkette aufglimmen zu lassen?

Du siehst diesen Götz, du begreifst sein Scheitern, wie du Kohlhaas’ Scheitern jedes Mal neu begreifst - solche Gestalten bleiben ungebetene Abgesandte unseres Unbewussten. Das just dort hassen, zürnen, toben will, wo die Vernunft immer wieder zur Mäßigung treibt. Verfluchen wir nicht manchmal das, was sich in uns Vernunft nennt, in Wahrheit aber Elend ist? Im Stück das letzte Wort über Götz: »Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt.« Übersetzt ins Heute: Ein Land, in dem man sich nach solchen Leuten sehnt, befindet sich vielleicht schon mitten im Verfall.

»Mich ergeben! Auf Gnad und Ungnad! Mit wem redet Ihr?« So steht das selbstbewusste Wort des Götz groß an der Theaterfassade. Das gefällt, klar. Denn in Gedanken lügen wir uns gern Mut und Sprengkraft an - die Körper aber sagen die Wahrheit: Sie folgen den Regeln. Reinigung, umstürzlerische Konsequenz? Ja, schön wär’s und nötig auch, und bleibt doch nur ein Sündenspiel für den Geist. Mehr nicht. Wieder draußen aus dem Theater (dessen Saaltüren während des Spiels ständig offen standen), erkennen wir jenes Blutrot, das aus den Geköpften der Story sprang, in jedem Ampelschein. Aber halten doch brav an. Und morgen auch wieder den Mund?

Nächste Vorstellungen: 3., 29. Mai, 20. Juni

Vom hohen Stil der Kunst unter den Deutschen, Süddeutsche Zeitung, 24.03.2015

André Bücker gibt mit Goethes „Götz von Berlichingen“ seinen Abschied von Dessau: Ein krisengebeuteltes Theater zeigt die Faust

von Gustav Seibt

…Während der vierstündigen Aufführung bleiben die Türen des Zuschauerraums offen, das Spiel bezieht die Sitzreihen und den Rang ein, es wird gekämpft und gebrüllt wie bei den alten Rittern, die als heutige Rockerbande ihr plausibles Kostüm haben. Das ist hier kein Getue, sondern eine gelungene Wiederherstellung des Sprach-Schocks, den Goethes Stück im späten Rokoko bedeutet haben muss: Entgrenzung des Schauplatzes und der Sprache. Die Handlung entsteht aus einer Wirtshausschlägerei, Goethes Text aber windet sich fast unmerklich hervor aus dem Geflapse der Schauspieler, die das auf die Sitze strömende Publikum anreden – ein wunderbarer Effekt.…

Den ganzen Text können Sie im Rahmen des neuen Angebotes „SZ plus“ lesen.

„Er kann mich im Arsche lecken!“ am Theater Dessau, mdr figaro, 21.3.2015

MDR artour, 21.3.2015

Zum Abschied ein Western, Mitteldeutsche Zeitung, 23.3.2015

von Andreas Montag
Der scheidende Generalintendant André Bücker liefert einen gelungenen „Götz von Berlichingen“ ab und kann erhobenen Hauptes gehen.

Was für eine Vorlage! Und welche Leistung, sie nicht in eigener Sache wohlfeil zu verwandeln. Gemeint ist der überaus gelungene Premierenabend, mit dem sich André Bücker, der Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, jetzt von seinem Publikum und seinem Ensemble verabschiedet hat. Johann Wolfgang von Goethes Drama „Götz von Berlichingen“ gab es, ein nicht gerade häufig gespieltes Werk und eigentlich ein klassischer Western. Allerdings war dieses Genre um Helden und Schurken, Liebe, Treue, Verrat und Tod zu Goethes Zeiten noch gar nicht erfunden.

Allein: Die Struktur hat der spätere Geheimrat schon angelegt. Sein Stück wird vielen Besuchern allerdings gar nicht mehr präsent gewesen sein - bis auf jenes berühmte, deftige Wort, das der Titelheld einem hohen Herrn auszurichten bittet: Der könne ihn „im Arsche lecken“.

Damit wäre auch der Konflikt beschrieben, der im Dessauer Fall eben ein doppelter ist und deshalb nach genüsslichem Ausleben auf der Bühne förmlich zu verlangen schien. Goethes Götz ist, ähnlich seinem historischen Vorbild, ein Reichsritter, ein anarchischer Held, der sich nur Gott und Kaiser verpflichtet sieht, nicht aber den adligen und geistlichen Bonzen, die ihre Macht ausspielen wollen.

Bücker hingegen, dem rebellischen Theaterleiter, war keine Vertragsverlängerung angeboten worden. Und dass eine erneute Bewerbung um den Intendantenposten wenig aussichtsreich gewesen wäre, konnte man sich angesichts des zerschnittenen Tischtuchs zwischen ihm und den Landesfürsten an den Fingern einer Hand abzählen. Auch Bücker selber, der mit Pathos und Polemik gegen die Magdeburger Sparbeschlüsse gekämpft hatte, sah das so und verzichtete auf eine Kandidatur. Nun geht er weg und dies ist wirklich ein Verlust - ohne dem Nachfolger Johannes Weigand zu nahe treten zu wollen, der sich schon seit geraumer Zeit in Dessau warmläuft für seinen neuen Job.

André Bücker hat bei seiner „Götz“-Inszenierung jedenfalls die Größe besessen, seinem Ensemble die Chance zu geben, einen gut abgehangenen Klassiker derart erfrischt auf die riesige, überwiegend kahle Bühne zu bringen, dass man sich über fünf Stunden hinweg niemals langweilt. So lange dauert das Spektakel, zählt man das Vorspiel auf dem Theaterplatz mit, wo ein Wildschwein am Spieß schmurgelt und portionsweise unter die Leute kommt, während Schauspieler auf das Kommende einstimmen.

Das Textangebot reicht von Forderungen rebellischer Bauern bis zu den legendären Worten der Kommunistin Rosa Luxemburg, die Freiheit sei immer die Freiheit der Andersdenkenden. „Ein deutsches Lied von der Freiheit“ ist die Dessauer Inszenierung ja nicht von ungefähr untertitelt, darum geht es schließlich dem Ritter mit der eisernen Hand. Die soll Götz von Berlichingen tatsächlich getragen haben, weil ihm seine Rechte im Kampf abhanden gekommen war. Felix Defèr, der in Dessau den Götz mit sehr viel Konzentration, aber bei allem Ernst auch mit jungenhaftem Charme gibt, sinniert einmal darüber, wie durchaus unbequem der eiserne Ersatz im Leben wie im Spiel ist.

Überhaupt haben der Regisseur und seine Darstellerriege alles versucht, ihr Publikum mitzunehmen, nicht zuletzt das nicht nur heiter gemeinte Geplänkel eingangs wie ausgangs der Pause zeugt davon. Da gibt es schon mal die Empfehlung, sich im Theaterrestaurant bei Bockwurst und Kartoffelsalat ein paar Gedanken über die Freiheit zu machen. Hier wird auf fest verwurzelten Traditionen in Dessau verwiesen, die Pausenwurst gehört zum Stück wie das Gläschen Sekt - die Anspielung darauf passt besser als der etwas pathetisch geratene Aufgalopp vor dem Hause. Aber geschenkt, die Inszenierung packt einen an, kein Gedanke flieht mehr hin zu müßigen Überlegungen, an welcher Stelle Bücker womöglich mehr sich selbst inszeniert hätte. Zwar ist er von den Herren des Landes nicht in Acht und Bann geschlagen worden, wie es Götz durch des Kaisers Befehl zeitweilig erging, aber seine Grenzen hat man ihm schon gezeigt.

Was am Dessauer „Götz“ besticht, ist die klare Hinführung auf den Punkt: Hier der Ritter, der einer aussterbenden Spezies angehört, dort die Fürsten und Bischöfe, denen die freiheitliche (freilich zuweilen auch räuberische) Art von Götz und Genossen nicht in den Streifen passt. Sie wollen das Gesetz über alles stellen - und das Gesetz sind sie. Wer dagegen ist, wird sich doch anpassen müssen. Oder gebrochen werden. Wer will, kann prüfen, wie zeitnah uns das ist.

Die verzweifelten Bauern jedenfalls haben mit ihrem Aufstand zu Beginn des 16. Jahrhunderts schlechte Karten - auch Götz, den sie zum Hauptmann wählen (oder als Geisel nehmen?) kann ihrer Sache nicht zum Siege verhelfen.

Manchmal geht es es ein bisschen bunt zu, was die Zuweisungen betrifft, die Rote Armee Fraktion gespenstert durch die Aufführung, rote Fahnen, auch sowjetische und die der FDJ flattern in den Händen der Damen und Herren vom Opernchor, der seine Sache im Übrigen ebenso famos macht wie die ganze Schauspieltruppe.

Voran und stellvertretend für alle müssen Felix Defèr und sein ebenbürtiger Kontrahent, der wankelmütige Weislingen (Sebastian Müller-Stahl) genannt werden, Götzens Freund, der schließlich zum Verräter wird und auf die Seite der Macht überläuft. Sterben müssen sie am Ende beide. Bücker findet große, ruhige Bilder zumal nach der Pause, er vertraut seinen Akteuren und sie machen ihre Sache wunderbar in diesem riesigen, leeren Bühnenraum. Dessen Wucht, lässt man sie denn „mitspielen“, verleiht der Inszenierung eine Höhe, die szenisch und textlich allein schwer zu erobern wäre.

Zum langen, herzlichen Schlussapplaus sind viele der Zuschauer aufgestanden: Das war ein Ereignis, wie man es nicht alle Tage sieht und Maßstäbe für Kommendes setzt. Und gar kein Vergleich zu Bückers Einstieg vor sechs Jahren, als der „Nathan“ noch recht steif daherkam. „Wir haben uns alle weiterentwickelt seitdem“, sagt Bücker nach der Premiere, die Freude steht ihm ins Gesicht geschrieben. Mit Stolz wird er nun gehen - und fast ohne Bitterkeit. (mz)

Steh auf, wenn du am Boden bist, nachtkritik.de, 21.3.2015

von Wolfgang Behrens
In großen Lettern prangt es an der Fassade des Anhaltischen Theaters: "Mich ergeben! Auf Gnad & Ungnad! Mit wem redet Ihr?" Man weiß natürlich, dass dies ein Zitat aus dem "Götz von Berlichingen" ist – es sind sogar die einleitenden Worte zu dem "Götz"-Zitat –, doch man kommt nicht umhin, es auf André Bücker, den Noch-Intendanten des Dessauer Theaters, zu beziehen. Was hat dieser Mann um sein von den Unbilden der Kulturpolitik gebeuteltes Theater gekämpft, bis man sich seiner nur noch zu erwehren vermochte, indem man seinen Vertrag nicht verlängerte. Ergeben aber hätte er sich nie, ha! Mit wem redet Ihr?
Götz von Berlichingen und Intendant Bücker, zwei Unbeugsame
Nun hat Bücker zu seiner Abschiedsinszenierung noch einmal groß ausgeholt. Und auch wenn Chefdramaturg Andreas Hillger nicht müde wird zu betonen, dass der "Götz" schon angesetzt war, noch ehe sich das Ende von Bückers Intendanz abzeichnete, so wirkt es doch wie eine trotzige, eine gleichsam autobiographische Wahl: Bücker führt einen Unbeugsamen vor, der es – gleich ihm – in Fehd und Handlungen mit der Diplomatie nicht allzu genau nahm und stattdessen lieber sehenden Auges, aber aufrecht in den Untergang galoppierte. Ob Bücker für sich und das Theater hätte mehr rausschlagen können, wenn er sich ab und an etwas konzilianter gegeben hätte – man wird es nie erfahren. Sein Gesicht jedenfalls hat er stets gewahrt.
Glücklicherweise aber haben Bücker und seine Mannschaft der Versuchung widerstanden, aus dem "Götz" eine Selbstbespiegelung des Theaterkampfes der vergangenen Jahre zu machen (die hat ja vor einem guten Jahr in The Beggar's Opera bereits ausgiebig stattgefunden). Das Porträt des Intendanten als Ritter mit der eisernen Hand fällt also aus. Stattdessen spannt das Haus hier noch einmal all seine Kräfte zusammen, um zu zeigen, wie man auch mit knapp bemessenen Stadttheatermitteln ins Große zielen kann. Und deshalb ist nicht nur das gesamte 12-köpfige Schauspielensemble (+ Leitungsreferent + Öffentlichkeitsarbeiter) im Einsatz, sondern auch gleich noch der Opernchor, der an diesem Abend wohl ein größeres Pensum absolviert als in den meisten Musiktheaterproduktionen.
Klotzen, nicht kleckern
Es wird jedenfalls geklotzt, nicht gekleckert. Bücker hat die riesige Bühne des großen Hauses komplett leergeräumt und auch den Rang fürs Publikum sperren lassen, zudem bleiben durchgängig die Saaltüren geöffnet – die Zuschauer sehen sich mit einer Surround-Bespielung konfrontiert. Für die Kampfszenen hat man sich der Dienste Klaus Figges versichert, des Großmeisters der Fechtchoreographie, und entsprechend klirren die Schwerter, dass es einem bange wird. Und weil Goethe allein nicht reicht, um Freiheit und Recht auf Widerstand zu beglaubigen, gibt es noch jede Menge Fremdtext-Implantate von Martin Luther bis zu RAF-Manifesten, derweil der Chor, von Trompete, Flöte und Trommeln militärisch stimmungsvoll begleitet, klangschön deutsche Freiheitslieder zum Besten gibt.
Was durchaus Effekt macht: Steh auf, wenn du am Boden bist, auch so ein Widerstandslied – freilich kein historisches, sondern eines von den Toten Hosen –, schmettern die Chorsänger*innen einmal und marschieren in Landfrauen-Kitteln und Alltagsklamotten, Fahnen der Diversität schwenkend, an die Rampe, während Götz auf dem Rang die Anführer-Pose einnimmt, eine mächtige Regenbogenflagge schwingend. Da möchte man elektrisiert aufspringen und mitsingen: "Halt dein Gesicht einfach gegen den Wind, egal, wie dunkel die Wolken über dir sind ..."
Dosenbier gegen Sekt
Bücker erzählt an diesem Abend die Geschichte der kleinen Revoluzzer gegen die Zyniker der Macht. Die verschworene Truppe um Götz (Felix Defèr spielt ihn ungemein energiegeladen als jugendlich virilen Rebellen) trinkt ihr Bier aus Dosen und geriert sich kumpelhaft und grölend wie eine Gruppe Motorrad-Rocker oder Fußball-Fans; am Bamberger Bischofshof hingegen säuft man, während man Ränke schmiedet, den Sekt aus der Flasche: Dekadent ist's bei den großen Herren!
Was man Bücker sicher vorwerfen kann, ist mangelnde Einfallsökonomie. Vor allem vor der Pause wirkt es manchmal so, als sei jedes körpersprachliche Angebot der Schauspieler und jede noch so platte Anreicherung des Goethe-Textes durch Gegenwartsjargon ("Mach 'ne Biege!", "Willst du mich verarschen?" etc.) ungeprüft in die Aufführung gewandert. Andererseits entwickelt diese ungehemmte Zeigelust der Darsteller auch ihren ganz eigenen Drive – zumal Bücker dann im zweiten Teil die Kurve zu immer konzentrierteren und strengeren Arrangements nimmt. Spätestens ab den Bauernkriegs-Szenen entfaltet die leere Bühne zunehmend ihre Kraft – und die langsam in die Vereinsamung driftenden Helden müssen sich nun in diesem Riesenraum gegen die immer kältere, immer fahlere Ausleuchtung, gegen die Sprinkleranlage und gegen leise wummernde Stromgitarren-Klänge behaupten.
Wachsendes Pathos
Bücker baut hier einfache, aber umso wuchtigere Bilder: Wenn etwa Götzens Jugendfreund und Gegenspieler Weislingen (der fabelhaft wankelmütige Sebastian Müller-Stahl) seinen Todeskampf austrägt, steigt seine frühere Liebe Marie (Katja Sieder mit Gudrun-Ensslin-Charme), mit weißen Flügeln angetan, als Heiner Müllers Engel der Verzweiflung in die Höhe: "Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen." Längst hat sich die apokalyptische Emphase der anfangs so lebens- und mätzchenprallen Aufführung bemächtigt – ja, es wird geklotzt, auch mit Pathos. Am Ende der fast vier Stunden steht der Saal auf, nicht geschlossen, doch zu zwei Dritteln bestimmt. Es gilt eine stupende Ensembleleistung zu feiern und einen Intendanten, der nun erhobenen Hauptes von Dessau scheiden kann. Auf Gnad und Ungnad.

zu „Das Rheingold“

Das Rheingold, opernglas, 30.1.2015

Auch der »Ring« in Dessau ist nun vollendet. Begonnen im Jahr 2012 mit der »Götterdämmerung« und somit „rückwärts" inszeniert, ist er zu Beginn als „Bauhaus-Ring" tituliert worden. Aber ist er das wirklich? Die »Götterdämmerung« hatte dieses Bild geprägt mit der aus einem sich drehenden Würfel entstehenden Bauhaustreppe Oskar Schlemmers als Walkürenfelsen und Walhall, dem rekonstruierten schwarzen Quadrat auf weißem Grunde von Kasimir Malewitsch als permanentem Guckloch ins Drama, der Schauspielart der sogenannten Biomechanik des russischen Schauspielers und Regisseurs Wsewolod Meyerhold — das mochte in der Bauhausstadt Dessau als willkommener Aufhänger dienen. In der Folge zeigte sich aber, dass Regisseur Andre Bücker vielmehr Film und Medien interessieren, und er sie in Bezug setzt zu den Elementen jener Überwinder der klassischen Kunst, also den Neutönern im musikalischen Sinne (Schlemmer hatte auch Bühnenbilder für Arnold Schönberg gestaltet). 
Ein auf der Spitze aufgestellter, blitzender Würfel ist das Rheingold, umhüllt von einer Filmrolle, die die Sicht auf den Schatz ermöglicht, als die Rheintöchter ihr Gold besingen, was an den Filmvorspann einer großen Film-Produktionsfirma erinnert. Die Bauhaus-Elemente in diesem »Ring« dienen dazu — das zeigte sich verstärkt seit dem »Siegfried« im Frühjahr 2013 —, um die Rolle der Medien mit ihrer Herkunft und Geschichte zu beleuchten. Computerspiele im »Siegfried«, Filmzitate großer Leinwandepen in der »Walküre«. Es ist ein „Medien-»Ring«", und wie sich Medien zum Bauhaus verhalten, dafür findet Bücker gleich zu Beginn in der Projektion alter Gemälde auf den Ringhorizont der Bühne, der auch eine Filmrolle sein könnte, eine simple Erklärung: Es sind die Mittel der jeweiligen Epochen, mit denen sich Kunst Ausdruck verleiht. Seien es die ersten Zeichnungen, Hieroglyphen und Symbole der Menschen, Gemälde wie das des Medusenhaupts vor der Verwandlung Alberichs in den Riesenwurm, die Kriegs(kunst)bilder des toten Che Guevara oder der ersten Atombomben zum Fluch Alberichs: Das »Rheingold« entpuppt sich damit als Parforceritt durch die Kulturgeschichte, gleichsam die Klammer bildend für die vorangegangenen Teile. 
Ihre Stärke bezieht die Inszenierung aus den Stellen, wo augenzwinkernd ernst (aber nie verballhornend) die Protagonisten interagieren, und wo der Filmfan Bücker Filmzitate und -figuren einbaut. Geschauspielert wird viel in Dessau, und daran hat vor allem Ulf Paulsen als Wotan einen großen Anteil: Mit ungeheurer Witzigkeit und Vielseitigkeit gelingt ihm eine grandiose Studie des Göttervaters, die er vielleicht etwas überengagiert begann, weshalb er dem furiosen Beginn am Ende etwas Tribut zollen musste. Rita Kapfhammer als Fricka zeigte nochmals nachdrücklich ihr Können mit einem sicher-strömenden, nuanciert-differenzierten Rollenporträt. Die von Alberich – Stefan Adam sang geschmeidig und präzise – geknechteten Nibelungen sind Kinder, die für Comics Bilder in Massen produzieren müssen. Der Mime von Ivan Turšić lieferte dazu den passend flexibel geführten, klaren und kräftigen Tenor vor dem sich bereits weiterentwickelnden Hintergrund als Wunderrad (Phantaskop), welches im 19. Jahrhundert die ersten bewegten Bilder auf einer sich drehenden Scheibe produziert hatte. Das zur goldenen Filmrolle geschmiedete Rheingold lässt die scheinbare Walt-Disney-Märchen-Idylle beenden und der bewegte Film hält Einzug — Hollywoods Filmindustrie entpuppt sich als kapitalisierte Kunst für die Massen. 
Freia, die die Götter stets mit einer aufputschenden Drogentinktur versorgt (Angelina Ruzzafante mit etwas indifferenter Darbietung), wird mit diesen goldenen Filmrollen aufgewogen, und nur die Erda von Anja Schlosser mit ihrem jugendlich schneidenden, vehementen, aber auch balsamisch nuancierten Alt vermag den zunächst irrlichternden Göttervater zur Raison zu bringen. Die Riesen lieferten mit Stephan Klemm als melancholisch-deutlich prononcierendem Fasolt und Dirk Aleschus als Fafner mit dunklem Bass die jeweils für ihre Partien adäquaten Rollenporträts, David Ameln als Froh mit dem Regiekonzept entsprechendem deutlich vorgetragenen, ironisierend-scharfen Tonfall in seiner charaktervoll-brüchigen Stimmgebung eine ungewohnte, aber sehr treffende Interpretation. Albrecht Kludszuweit gab den Loge mit nachdrücklich spielerischer, aber differenziert ausladender Stimme. „Immer ist Undank Loges Lohn" geriet ihm zu einer farbigen Schilderung mit schillerndem Tenor. Die Rheintöchter gaben mit der kurzfristig eingesprungenen Katharina Göres (Woglinde), Jagna Rotkiewicz (Wellgunde) und Anne Weinkauf (Floßhilde) ein gut harmonisierendes Trio ab.
Generalmusikdirektor Anthony Hermus lieferte mit seiner Anhaltischen Philharmonie Dessau eine ansprechende und vielseitige Interpretation mit teilweise gedehnten und variablen Tempi. Das Vorspiel gestaltete er schwelgerisch, ebenso den Einzug der Götter nach Walhall, und die Verwand-lungsmusiken entfalteten eine durchaus differenzierte Sogwirkung mit spannungs-vollen Crescendi. Am Ende wurden sämtliche Beteiligten gefeiert. Mit stehenden Ovationen frenetisch bejubelt wurden jedoch die zum Saisonende scheidenden Herren Hermus und Bücker.



S. Barnstorf

Wagners "Ring" ist jetzt komplett, Magdeburger Volksstimme, 9.2.2015

von Helmut Rohm

Es ist vollbracht! Der "Wagner-Ring" ist mit dem jetzt auf die Bühne gebrachten "Das Rheingold" komplett. Mit "Götterdämmerung" beginnend - Premiere war am 12. Mai 2012 - hat der nach der Spielzeit Dessau verlassende Generalintendant André Bücker, von der Reihenfolge der von Wagner geschaffenen Teile inspiriert, die einzelnen Opern chronologisch gegenläufig inszeniert.

Alle vier Teile tragen durchgängig eine ganz eigene, einheitliche Handschrift, die durch die Klassische Moderne und insbesondere von der Bauhaus-Ästhetik geprägt ist. Diese herausragende künstlerische Kontiunität basiert sicher auch auf dem durchgängig konstant besetzten Leitungsteam, mit dem Bücker seine Werkeinterpretation gemeinsam stringent umsetzen konnte: Jan Steigert für die Bühne, Suse Tobisch für die Kostüme, Frank Vetter und Michael Ott für die Projektionen.

Unerschütterliches Fundament ist aber auch in "Das Rheingold" die Anhaltische Philharmonie unter GMD Antony Hermus. Dem Orchester gelingt es bravourös, die monumentale Wagnersche Musik facettenreich und im Spannungsfeld von feinstem Tonklang - wie bei den legendären 136 Takten des Vorspiels - bis zu dramatisch laut tönenden, insbesondere vom Blech getragenen Ausbrüchen zu präsentieren.

Kämpfe um Macht, Reichtum und Liebe
Mit dem sich in die anderen drei Ringopern künstlerisch stimmig einfügenden "Rheingold" setzt das Anhaltische Theater die Tradition Dessaus als "Bayreuth des Nordens" auf nachhaltige Weise fort.

Die Farbe Weiß ist dominant in der Inszenierung. Bei den Kostümen sowie den als Projektionsflächen dienenden gebogenen und gegeneinander verschiebbaren Wandelementen. Weiß sind auch die die Figurenhandlungen nachvollziehenden überlebensgroßen Silhouetten. Von unsichtbarer Hand wird die Bühne mehr und mehr in Blau getaucht - und hinab in die Tiefen des Rheins. Dort, wo die Rheintöchter das als glitzernden Würfel geformte geheimnisträchtige Rheingold zu bewachen haben.

Die Kämpfe um Macht, Reichtum und Liebe nehmen ihren spannenden Lauf ... Werktreu und handlungsschlüssig bringt Bücker die Geschichte auf die Bühne. Da raubt Zwerg Alberich, auf Liebe verzichtend, das Rheingold, schmiedet später den machtverleihenden berühmten, doch dem Besitzer Unheil bringenden Ring. Mit einer Videofahrt durch Gerüstwirrungen optisch vermittelt, tauchen Göttervater Wotan und Halbgott Loge in die Unterwelt, bringen sich in Besitz des Goldes und des Ringes.

Erschütternde Aktualität gesellschaftlichen Elends
Die von Wotan im Auftrag gegebene Götterburg Walhalla ist gebaut. Bei der Entlohnung der Riesenbrüder Fasolt und Fafner kommt es zum Eklat, in den auch die Göttin der Jugend, Freia, hineingezogen wird. Erpressung, Gewalt, auch Verzauberung und schließlich auch Mord begleiten das fesselnde Geschehen.
Mit parallel eingespielten, fast nur flüchtigen Videosequenzen erinnert Bücker an die oft erschütternde Aktualität gesellschaftlichen Elends, unaufdringlich, aber emotional wirksam.

In dem ausgeglichen sehr gut agierenden Darsteller-Ensemble treten Stefan Adam (Alberich), Ulf Paulsen (Wotan) und Albrecht Kludszuweit spielerisch und insbesondere stimmlich besonders hervor.
Beim Einzug in Walhalla, dem "scheibchenweise" in sich verschiebbaren, großen, mit Kreiskonstruktionen verknüpften Kubus, der in allen vier Teilen zentrales Bühnenelement ist, soll ein strahlendes Regenbogenmotiv Götteroptimismus vermitteln. Obwohl die aus dem Erdinnern aufgetauchte Urmutter Erda bereits das Ende der Götter prophezeit hatte.

DESSAU: RHEINGOLD – “Bauhaus-Ring”, der neue merker online, 6.2.2015

von Friedeon Rosén

In Dessau wurde jetzt der sog. “Bauhaus-Ring” mit dem Rheingold abgeschlossen. Dieser in Anlehnung an die Bauhaus-Stadt Dessau entstandene Ring wurde erstmals von hinten nach vorne inszeniert, d.h. mit ‘Götterdämmerung’ begonnen, dann hat sich das Regieteam über Siegfried und Walküre jetzt zu ‘Rheingold’, eigentlich das Vorspiel des Bühnenfestspiels, vorgearbeitet. Sinn dieses Vorgehens war die Bewußtmachung der gedanklichen, philosophischen und textlichen Entstehungsgeschichte, wie sie Wagner selber durchlaufen hat. Ob die für Mai/Juni geplanten zusammenhängend kompletten Ringe aber auch im ‘Krebsgang’ vollzogen werden, konnte der Rezensent im Moment noch nicht in Erfahrung bringen.

Die Hauptkriterien der Inszenierung von Noch-Intendant André Bücker wurden auch bei ‘Rheingold’ durchgehalten Ein Rundhorizont, auf dem im Entstehen begriffene Zeichnungen oder Gemälde abgefahren werden (Frank Vetter, Michael Ott), die auch bis an die Seiten vorgezogen werden; ein diesmal mittiger ‘Kothurn’ in Form eines auf Treppen erklimmbares Bauhaus-Teil, das sich später natürlich als die Riesen-Burg herausstellt (Bühne: Jan Steigert); dazu die einheitlich weiße Kostümierung von Suse Tobisch, die in vielgestaltigen Varianten, vom Arzt-Kittel des Alberich bis zu den langen Brautjungfernkleidern der Rheintöchter wieder phantastisch, z.T.”bauhausmäßig” ausfielen. Eine diesmalige Besonderheit war, dass die lebhaften Auseinandersetzungen durch weiße Schattenspiele auf dem Rundhorizont-Prospekt, aber nicht 1:1, verdoppelt wurden. Das unterstrich den lebhaft kommunikativen Gestus des als Kammerspiel bezeichneten Vorspiels. Bestens gelungen ist auch die Nibelungenszene mit in weiße Tuniken gesteckten Kindern, die anstatt Gold zu schürfen wie in einer Schulklasse kunstvoll Folien bearbeiteten und somit wie Sciptgirls bei einem Film zum Einsatz kamen. Später werden die goldenen Filmrollen von Alberich in einer Zwangsjacke heraufbefohlen.

Antony Hermus und die Anhaltische Philharmonie Dessau verstehen es über die gesamte Länge musikalische Spannung aufzubauen und zu halten. Ein ganz langsam sich einschwingendes Rheinmotiv schiebt die Handlung nach und nach an. Später erreichen auch die Blechbläser goldene Wucht. Die sehr fahle hingetupfte Begleitung bei der Alberich- Verfluchung spitzt sich äußerst dramatisch zu und geht wieder in eine fast plauderhafte kommunikative Stimmung über.

Ein stimmlich ausgewogenes Rheintöchterterzett stellen Katharina Göres, Jagna Rotkiewicz und Anne Weinkauf, die bei ihrer ‘Reprise’ als gealterte Frauen vor zur Rampe schreiten, um im Klagegesang die stolzen Götter zu konterkarieren. Wuchtige Riesen sind Stephan Klemm /Fasolt mit liedhaft timbrierten Momenten und Dirk Aleschus/Fafner mit markantem, der Situation angepasstem Bass. Den Mime singt Ivan Tursic als Klassenlehrer der Nibelungen sehr rollendeckend, während Stefan Adam/Alberich von Anfang an/Rheintöchter einen eher verträumten Looser verkörpert, der fast weinerlich wirkt und mit prächtigem, intelligent geführtem Bassbariton überzeugt. Bei den Göttinnen kommen Rita Kapfhammer/Fricka, Angelina Ruzzafante/Freya und Anja Schlosser/Erda zu prägnanten Kurzeinsätzen, während die Götter mit einem agilen, vielleicht bei den stimmlichen Übergängen nicht so souveränen Albrecht Kludszuweit/Loge, David Ameln/Froh und Javis Samadov/Donner präsent reüssieren.

Der Wotan des Ulf Paulsen hat einen in der Tiefe markant fundierten Bassbariton aufzubieten. Sein Spiel, schwarzäugig und mit Augenklappe, ist nachhaltig verschlagen. Auf ihn zentriert sich auch die Personenregie in Bezug auf seine ‘Satelliten’ Fricka, Loge und Erda. Seine Pose ist immer herrisch und eindrücklich, wobei er auch gesanglich in der Hochgestimmtheit seines Timbres (Ring-Inbesitznahme, Verliebtheit in Erda) über sich hinauswächst.

Nibelheim ist gar nichts gegen Sachsen-Anhalt, FAZ, 5.2.2015

Ungeliebt von der Politik: André Bücker vollendet mit „Das Rheingold" den Dessauer „Ring" und nimmt seinen Hut
Von Jan Brachmann

Digitalisierung ist die Zerstörung des Handwerks durch die Trennung von Hand und Werk. Einige Warner sehen darin ein Verhängnis. Sie glauben, dass wir uns mit dieser Trennung von Körperbewegung, Anschauung und deren Folgen das Gehirn wegklicken und die Empathie zu unserer Umwelt verlieren. Ist also die Digitalisierung der Fluch des Rheingolds in Richard Wagners Opern-Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“?

Man könnte auf diese Idee kommen, wenn man sich mit André Bücker unterhält, dem Intendanten des Anhaltischen Theaters Dessau. Er hat gerade mit dem „Rheingold" seine erste „Ring"-Inszenierung vollendet, von hinten nach vorn, denn mit der „Götterdämmerung" fing er 2012 an. Es ist eine Art mediengeschichtlicher „Ring". Bücker erzählt: „Wir fangen bei der Höhlenmalerei an und enden bei der Festplatte. Auch das körperliche Spiel ändert sich, obwohl es in allen Teilen eine starke Stilisierung gibt. Aber von der freien, noch spontan wirkenden Körperlichkeit im „Rheingold“ geht es dann zu einer immer stärkeren Formalisierung in die „Götterdämmerung“ am Ende. Tatsächlich füllt am Anfang des „Rheingolds" eine tintenblaue Farbenkleckserei die schneeweiße Bühne von Jan Steigert. Doch auch sie spritzt schon digital vermittelt herum: durch Projektionen von Frank Vetter und Michael Ott. Wenn die Rheintöchter das Rheingold enthüllen, kreisen bunte Bilder durch die Luft: Aus der Höhle von Lascaux geht es bis zu Delacroix. Wenn die Sänger auch manchmal unnötigerweise in scharfes Sprechen verfallen, singen sie doch leicht und deutlich. Stefan Adam als Alberich macht das fast buffonesk, und Albrecht Kludszuweit als Loge singt Wagner mit der scharfzüngigen Coolness eines Brecht-Songs. Die weißen Belle-Epoque-Kostüme von Suse Tobisch und die flirtende Grazie der Bewegungen geben dem Ganzen den Charakter eines Pariser Konversationsstücks um 1880. Das ist hübsch, vor allem in Verbindung mit den feingezeichneten Linien des Orchesters.

Mehr als fünfzig Jahre hatte Dessau keinen kompletten „Ring" mehr. Im kommenden Mai werden, gleichzeitig mit einem internationalen Wagner-Kongress, noch einmal alle vier Teile zusammenhängend aufgeführt. „Der Ring des Nibelungen in der Bauhausstadt Dessau" heißt dieses Großprojekt, es steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU). Das hat eine fast humoristische Note. Allem Anschein nach ist es nämlich Haseloff zu verdanken, dass „Das Rheingold" Bückers letzte Operninszenierung in Dessau sein wird. Er verlässt das Haus ebenso wie Generalmusikdirektor Antony Hermus, der den „Ring", wie man es von diesem hochbegabten Musiker erwarten darf, wach, behutsam und entschieden dirigiert.

Die große Koalition aus CDU und SPD, die das Land Sachsen-Anhalt regiert, kündigte 2013 an, die Förderung für die Theater werde von 36 Millionen auf dreißig Millionen Euro abgesenkt. Knapp drei Millionen davon sollten dem Anhaltischen Theater Dessau entzogen werden. Der Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) empfahl den Dessauern, künftig auf Schauspiel und Ballett zu verzichten und nur noch Opern anzuschauen, vielleicht noch Puppentheater. Jedoch viermal in Folge sprach sich der Stadtrat für den Erhalt des Vierspartenbetriebs aus. Im April 2014 wurde dann beschlossen, die fehlenden Landeszuschüsse aus kommunalen Mitteln auszugleichen. Es handelt sich um Mehraufwendungen von zehn Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren. Bücker und seinen Leitungsmitarbeitern ist es in Einzelgesprächen gelungen, mit 97 Prozent der Beschäftigten eine Zustimmung zur Teilzeitbeschäftigung von neunzig Prozent zu erwirken. Fünfzig Stellen müssen bis 2018 kündigungsfrei abgebaut werden.

Es gebe große Solidarität im Haus, sagt Bücker, diese Pläne umzusetzen. Doch im Frühsommer 2014 fanden Kommunalwahlen in Dessau statt. Der bislang regierende Oberbürgermeister Klemens Koschig (parteilos) unterlag seinem Herausforderer Peter Kuras von der FDP. Dessen erste Amtshandlung war es, Bückers Intendantenstelle zum 1. August 2015 neu auszuschreiben. Das war formal möglich, weil Bückers Vertrag schon 2013 nicht verlängert worden war, mit Blick auf die ungesicherte Zukunft des Theaters, obwohl das Geschäftsjahr 2013 einen Überschuss von 205 000 Euro und einen moderaten Anstieg der Besucherzahlen erbracht hatte.
Bücker berichtet, der neue Oberbürgermeister habe ihm damals im persönlichen Gespräch erklärt, er sei dem Land „nicht vermittelbar". Auch schon auf Koschig hatte die Landesregierung wegen dieser Personalie offenbar mehrfach Druck ausgeübt, doch der aus der Bürgerbewegung der DDR hervorgegangene Politiker gab diesem Ansinnen nicht nach, anders als nun Kuras. Dabei hatte sich ausgerechnet dessen Parteifreundin, die FDP-Politikerin Cornelia Pieper, an die Spitze der Volksinitiative „Kulturland Sachsen-Anhalt" gestellt, die Unterschriften sammelte, um gegen die geplanten Kürzungen im Kulturhaushalt durch die Magdeburger Landesregierung zu protestieren.

Der Politikstil von Reiner Haseloff und Stephan Dorgerloh erregt inzwischen bundesweit Besorgnis. Birgitta Wolff, seit Januar 2015 neue Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat die Umstände ihrer Entlassung als Wirtschafts- und Wissenschaftsministerin in Sachsen-Anhalt 2013 inzwischen öffentlich gemacht: Haseloff sei dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments nicht zugänglich gewesen und verfüge über keinerlei Streitkultur. Ähnliches berichtet auch Bücker: Nachdem das Theater ein Rederecht im Magdeburger Landtag erwirkt hatte, seien die dort vorgetragenen Gedanken von den Abgeordneten einfach nur verlacht worden: „Argumente, 45 000 Unterschriften, Schülerdemonstrationen — das perlt an denen ab wie an Beton! Das bleibt alles folgenlos!"
Erfahrungen wie diese führen dazu, dass die Bürger den Staat immer weniger als öffentliche Angelegenheit empfinden. Der Parteienparlamentarismus stellt sich als geschlossener Club dar, der an der Willensbildung nicht mehr mitwirkt, sondern durchregiert. Ein Empathieverlust der Politik für die Gesellschaft, die Trennung von Souverän und Exekutive bis zum Gefühl der völligen wechselseitigen Fremdheit — das darf sich nicht zum Verhängnis für die Demokratie auswachsen.

Bückers letzte Dessauer Inszenierung wird Johann Wolfgang von Goethes Schauspiel „Götz von Berlichingen" sein. Keine spontane Reaktion: Das war schon lange so geplant.

Von hinten durchs Ziel
Anhaltisches Theater in Dessau: umjubelter Abschluss des Ring-Zyklus mit »Rheingold«, neues deutschland, 4.2.2015

Von Roberto Becker

Dieser Dessauer Nibelungen Ring ist etwas ganz besonderes. Eine komplette Tetralogie auf einer Bühne, die von den echten Fans – und von den falschen Anhängern – gerne auch als Bayreuth des Nordens bezeichnet wird, nach über 50 Jahren herauszubringen, das ist an sich schon eine historische Tat. Die letzte zyklische Aufführung vermerken die Annalen für den Mai 1963. Der genius loci waltet immerhin noch. Der regieführende Intendant André Bücker und sein Generalmusikdirektor Antony Hermus mussten für dieses Projekt in den letzten drei Jahren jeden Künstlermut vor Ministersesseln aufbieten, als besonders mutige Streiter für das Theater, die Kunst und Wagner immer ganz vorne mit marschieren, um sich dem besonders tumben Kürzungswahn bei den Landesmitteln für die lebendige Kultur (besonders für die Theater in Dessau und Halle) entgegenzustemmen. Man mag gar nicht über die Tragweite nachdenken, die Loges Worte (Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehenden sich wähnen) für das traditionsreiche Dessauer Theater inzwischen bekommen haben. Dass dieser Ring, so wie die Dinge liegen, der vielleicht letzte an diesem Ort ist, macht jedenfalls tief traurig. Und das auch, weil die Aufführung alles in allem musikalisch und als Deutungsansatz so beispielhaft gelungen ist. Sicher gibt es da den einen oder anderen Einwand, aber insgesamt, ist diese Ring-Rechnung aufgegangen. Dies liegt vor allem an dem modernen diskursiven Ansatz, mit dem es dem Team gelungen ist, auch das ästhetische Erbe der Bauhausstadt zu integrieren und daraus Kapital zu schlagen. In seiner Stringenz wird sich das vor allem für jene Zuschauer erschließen, die sich einer der beiden zyklischen Aufführungen im Mai und im Juni in der richtigen Abfolge der Ringteile ansehen werden. Diese Abfolge beginnt in »Rheingold« als Schattenriss, der die Abbildung der Wirklichkeit durch die Kunst, den Film, schließlich durch das Virtuelle und das damit verbundene Potenzial zur Manipulation verdeutlicht. Die Göttergestalten tauchen als Scherenschnitte auf den gebogenen Leinwänden im Profil auf. Sie sind die Vorboten jener bewegten Bilder, die dann die Nibelungen produzieren. Ganz so als wären sie die Zeichnersklaven in Walt Disneys Traumfabrik. Die güldenen Filmrollen sind hier der Schatz, mit dem sich erst Alberich freikauft, und dann Freia von den Riesen ausgelöst wird. Das ist mit Blick auf die Folgen durchaus sinnvoll. Die mythischen Naturelemente, wie das Rheinwasser, der Feuerschein Loges oder der Regenbogen, der den Göttern am Ende den Weg nach Walhall weist, werden durch die gut dosierten Videoeinblendungen hinzugefügt. Wenn vom Welterbe die Rede ist, dann flimmert in schneller bunter Folge der ganze Katalog des Weltkulturerbes über die Projektionswände. Wenn Alberich den vielleicht gewaltigsten Fluch der Operngeschichte ausstößt, dann sehen wir einen Schnelldurchlauf des versammelten Grauens aus dem vorigen Jahrhundert. Diesen weiterführenden geistigen Überbau hat Bücker, ganz dem Charakter des Vorabends der Tetralogie entsprechend, mit einer ironisch witzigen Personenregie unterlegt, die die großen Götter aufs menschliche Normalmaß reduziert. Auch sie setzen sich gerne vorteilhaft ins Bild, kochen aber doch nur ihr eigenes Süppchen. Das Rheingold, das Alberich (Stefan Adam) den Rheintöchtern stibitzt, gibt jenes geometrische Leitmotiv vor, dem wir als Walhall und dann als Walkürenfelsen wiederbegegnen werden. Dieses »Rheingold« wird auch deshalb zum gelungenen Abschluss der Premierenabfolge des Dessauer Rings und zugleich zum sinnstiftenden Auftakt des Gesamtprojekts, weil es eine stringente Ästhetik besitzt und mit einer erstklassigen Ensembleleistung aufwartet. Mit einem Antony Hermus am Pult der famos wagnernden Anhaltischen Philharmonie und mit einem Ensemble, das Ulf Paulsen als Wotan und Rita Kapfhammer als Fricka höchst überzeugend anführen. Jubel in Dessau!!

„Rheingold“ im Bauhaus-Stil, Die Deutsche Bühne, 2.2.2014

von Joachim Lange

Tun wir mal so, als wüssten wir nicht, wo die Reise mit diesem „Rheingold“ in Dessau hingeht. Vergessen wir mal all das, was wir in der „Götterdämmerung“ erlebt haben und über „Siegfried“ und die „Walküre“ schon wissen, und nehmen den Vorabend der Tetralogie wirklich als Exposition. Stellen wir uns also für einen Moment ungefähr so blind für’s Kommende, wie Loge am Ende beim Einzug der Götter in Walhall. Dann würden wir darauf wetten, dass aus dem geschichteten und in sich verschobenen Riesenwürfel, den Wotan und seine Sippe mehr wie einen Götterspielplatz erklettern, denn als prangende Burg wirklich in Besitz nehmen, wohl noch in anderen Versionen wiederkehren wird.

Diese klaren, betont geometrischen Formen, die ein Eigenleben entfalten, sich mit Bedeutung aufladen lassen und deutlich von der Bauhaus-Ästhetik inspiriert sind, bilden tatsächlich bühnenästhetisch ein Leitmotiv dieses Rings. Die Abstraktion der Formen und das Spiel damit verweisen allerdings deutlich auf den inhaltlichen Anspruch eines Rings der „klassischen Moderne“. Dabei geht es um die Bilder, die sich der menschliche Verstand, vor allem aber die Kunst, von der Wirklichkeit machen, um diese zu verstehen, zu manipulieren oder zu verändern.

Was im „Rheingold“ mit einem schlichten zweidimensionalen Abbild der menschlichen, respektive göttlichen Gestalten (auf den halbrunden Projektionswänden im Hintergrund) beginnt, erweitert sich hier zu einem Bilder-Reigen von nicht weniger als dem gesamten kulturellen Erbe der Welt. Alberich singt ja tatsächlich vom Welterbe. Und sein monströser Fluch, nach dem Ringraub durch Wotan, wird dann von einem wahren Bilder-Shitstorm des Schreckens begleitet, für den das vorige Jahrhundert die Vorlagen geliefert hat. Da für diesen Wotan in der scheinbaren Höhe und für seinen Erzfeind Alberich in der scheinbaren Tiefe die Macht die Deutungsmacht der (Ab-)Bilder ist, so liegt es auf der Hand, dass das Nibelungengold hier aus lauter Filmrollen besteht. André Bücker verbindet diesen quasi philosophischen Wegweiser auf das Gesamtprojekt mit einer leichtfüßigen Personenregie. Was durch die historisch stilisierten, ganz in Weiß gehaltenen Kostüme von Suse Tobisch seinen eigenen Witz erhält. Es macht über weite Strecken einfach Spaß, den eitlen Göttern zuzusehen.

Weil Ulf Paulsen ein komödiantisch stimmstarker Wotan, Rita Kapfhammer eine erstklassige Fricka, Angelina Ruzzafante eine wunderbare Freia und Anja Schlosser eine attraktive sissiähnliche Erde ist, ist es auch eine pure Freude, zuzuhören. Dass nicht nur der Götterclan, sondern auch Alberich (Stefan Adam) und Mime(Ivan Tursic) oder Fasolt (Stephan Klemm) und Fafner (Dirk Aleschus) und natürlich der wendige Loge (Albrecht Kludszuweit) und die Rheintöchter ihre stimmlichen Möglichkeiten voll einbringen können, haben sie auch dem GMD Antony Hermus zu verdanken. Der ist am Pult der Anhaltischen Philharmonie in Hochform, liefert den leichten Konversationston ebenso mühelos wie den großen Bogen, den dieser höchst gelungene Auftakt des Großprojektes braucht, um die Schubkraft fürs Ganze zu entfalten. Im Mai und im Juni wird man das bei zwei Aufführungs-Zyklen in der „richtigen“ Reihenfolge der einzelnen Teile noch einmal überprüfen können.

Das Rheingold, operapoint, 2.2.2015

Kurzinhalt

Alberich wirbt um die drei Rheintöchter, die ihn aber nur verspotten. Daraufhin entsagt er der Liebe und stielt ihnen das Rheingold. Aus diesem Gold läßt er einen machtvollen Ring schmieden, mit dessen Kraft er sich die Nibelungen untertänig macht. Die Riesen Fafner und Fasolt haben für den Gott Wotan die Burg Walhall erbaut, und fordern nun von ihm als ihren Lohn die Göttin Freia. Doch Wotan will Freia nicht herausgeben, und der intrigante Gott Loge überzeugt ihn davon, als Ersatz Alberich den Ring und das Rheingold wieder zu entreißen. Alberich verflucht den Ring, den Wotan den Riesen reicht, um Freia zu lösen. Fafner erschlägt seinen Bruder, die Götter aber ziehen in die Burg Walhall ein.

Aufführung

Was ist das „Rheingold“? Eine zentrale Frage, die in Dessau an Bedeutung dadurch gewinnt, daß der Ring gemäß der Entstehungsgeschichte inszeniert wird, also von der Götterdämmerung rückwärts. Das Rheingold ist helles Licht aus einem Kubus, aufbewahrt in einer Wundertrommel, die durch Drehung der Seitenwand bewegte Bilder sichtbar macht. Aus dem Licht zeichnen die versklavten Nibelungen Cartoons, denn auf dem Medium Film oder Bild gründet sich die Macht, die alle erstreben. Verdeutlicht wird dies durch Projektionen (in der Ästhetik des Bauhaus-Stils) auf zwei halbkreisförmige Flächen um eine zumeist karge Bühnenfläche. Walhall ist die oberste Plattform des Walkürenfelsens, ein riesiger Rubik-Würfel, der sich horizontal auffächern läßt. Oben freuen sich die Götter falsch und feig, ihre unschuldigen rein-weißen Kostüme erinnern an den Beginn des 20.Jahrhunderts.

Sänger und Orchester

Eine der Vorzüge dieser Premiere ist ohne Zweifel die Erkenntnis, daß man auch an vermeintlich kleinen Häusern einen Ring auf hohen Niveau besetzen kann, in diesem Fall besonders die drei zentralen Rollen des Rheingolds: An erster Stelle ist Ulf Paulsen zu nennen, mit seiner hellen baritonal gefärbten Stimme läßt er als Wotan viele stimmliche Gestaltungsmöglichkeiten erkennen – und verfügt über genügend Reserven, um besonders in den tiefen Lagen Charakter zu zeigen. Das wird deutlich bei den inneren Kämpfen, aber auch in der Auseinandersetzung mit Loge oder Alberich. Albrecht Kludszuweit (schon als Mime im Siegfried aufsehenerregend) singt als lyrischer Tenor mit Saft und Kraft einen tiefsinnigen Loge, singt die Phrasen betont aus, betont wortverständlich die Sätze: Es wird deutlich, warum Loge nicht in Walhall einzieht. Das stimmliche Duell mit den Göttern kann Stefan Adam (Alberich) mit dämonischer Tiefe offen halten. Hier wird auch deutlich, daß Antony Hermus mit den Sängern mitfühlt – gerade Stefan Adam erhält genügend Zeit und Raum, um die Rolle zu gestalten: Er ist kein Zwerg, sondern agiert auf Augenhöhe mit den Göttern. Aber auch die Zusammenarbeit mit der Anhaltischen Philharmonie kann mit der Einbindung der Sänger und auch orchestral überzeugen, selten hat man das Anschwellen des Rheins, den berühmten Es-Dur-Akkord am Anfang, so feinsinnig gewoben und transparent gehört, beim Einzug der Götter hört man die kommenden Probleme heraus. Auch die Nebenrollen können sich hören lassen: Rita Kapfhammer verfügt über ein schier unerschöpfliches Stimmvolumen und Tonummfang und entspricht dem Format der freundlichen Göttergattin Fricka. Angelina Ruzzafante hat als schwerer Koloratursopran kaum Aufwand mit der kurzen Rolle der Freia, ihre Hilferufe bleiben in Erinnerung.

Ivan Turšić (Mime) und David Ameln (Froh) können in den Tenorrollen mit sicherer Höhe Aufmerksamkeit erregen, Javid Samadov (Donner) und Anja Schlosser (Erda) bleiben zu blaß.

Fazit

Mit geradezu frenetischem Beifall feiert das Theater Dessau die letzte Ring-Premiere und die letzte Premiere der Ägide, Intendant André Bücker (Regie) und GMD Antony Hermus. Beide verlassen das Haus, nachdem wegen rigider Sparmaßnahmen modernes Musiktheater wahrscheinlich nur noch wenig möglich ist. Dieser Ring zeigt mit farbenprächtigen Bildern (manchmal mit zuviel Farbe und Formen), detailliert durchdachter Personenregie und einer fesselnd, beispielhaften musikalischen Erläuterung durch Orchester und Solisten, was eine gute Intendanz leisten kann.

Oliver Hohlbach

Leicht, ironisch, witzig – Das Anhaltische Theater Dessau vollendet seinen Nibelungen Ring mit einem bejubelten „Rheingold“, nmz, 01.02.2015

(nmz) - Der regieführende Noch-Intendant André Bücker und der ebenfalls Dessau verlassende GMD Antony Hermus haben es hinbekommen: Sie haben das Kunststück fertig gebracht und ihren Nibelungen Ring vollendet. Gegen alle widrigen, vor allem politischen Rahmenbedingungen. Selbst der Untertitel „in der bauhausstadt“ ist mehr als nur ein Marketing-Gag. Über weite Strecken wird dieser Bezug zu einer ästhetischen Inspiration, um das Wagnersche Monstrum neu zu befragen. Möglicherweise ist es für das Anhaltische Theater der letzte gelungene Beweis für die mobilisierende Kraft, die ein gemeinsamer Wille zur Kunst auch in Sachsen-Anhalt freizusetzen vermag.

von Joachim Lange

André Bücker kann Dessau nach sechs Jahren als Intendant jedenfalls ruhigen Gewissens verlassen, nachdem er den vergifteten Politiker-Ratschlag, sich doch auf seine Intendanten-Stelle neu zu bewerben, verständlicherweise ausgeschlagen hat. Er kann es aber auch als Künstler. In den Premieren-Jubel für das „Rheingold“, mit dem der Ring vollendet wurde, floss wohl auch die Anerkennung des Publikums für Bücker und Hermus ein, die sich beide als wackere Streiter für Wagner, das Theater und die Kunst erwiesen haben.

Antony Hermus hat seine Anhaltische Philharmonie vom den ersten aus dem Nichts oder besser vom Rheingrund aufsteigenden Tönen bis zum Einzug der Götter in Walhall ganz vorzüglich im Griff. Er liefert mit diesem „Rheingold“ ein schönes Beispiel dafür, wie leicht das eigentlich schwer zu machende klingen kann. Mit allen Finessen, die der leichte Konversationston des Ringvorabends braucht, um die Worte verständlich von der Rampe aus (aber auch aus der Tiefe des Raumes) unters Volk kullern zu lassen Man folgt sozusagen aufs Wort dem nachvollziehbaren familiären Beziehungsstress dieser ach so menschlichen Götter, dem Bruderzwist zwischen den Riesen, dem Gier-Wettbewerb zwischen den beiden Nibelungenbrüdern Albreich und Mime. Aber auch der listige Witz des schlauen Loge funkelt auf, mit dem der jede Falschheit dieses Spiels um die Macht durchschaut und es anheizt, in dem er sich bewusst dumm stellt.

Hier setzt Bücker mit seiner fabelhaften Darstellercrew auf einen ironisch witzigen Zugang. Das artet nie ins Schenkelklopfen aus, aber dabei zuzusehen, wie es zwischen dieser eitlen Götter-Bagage, dem arbeitenden Volk und dem Unterweltpersonal immer wieder menschelt, das macht Spaß. Am besten funktioniert das bei Vollblut-Komödianten wie Ulf Pausen (als Wotan mit Pelzkragen und Wagner-Barrett), Rita Kapfhammer (als fürstlich herausgeputzter und vokal auftrumpfender Fricka), Angelina Ruzzafante (als verschacherter Freia) und Albrecht Kludszuweit als Loge. Etwas steifer im Spiel aber mit tadelloser Eloquenz profiliert Stefan Adam den Alberich, der den Rheintöchtern den Goldwürfel klaut und sich dann trotz großer Videoverwandlungs-Show in Wurm und Kröte, das Gold von Wotan und Loge wieder abnehmen lassen muss.

Da man in Dessau den Ring von hinten aufgezäumt und mit der „Götterdämmerung“ begonnen hat, bleibt dem Zuschauer gar nichts anderes übrig, als sich die „richtige“ Reihenfolge selbst zu denken. So verweist denn das „Rheingold“ mit dem dominierenden, fast unschuldigen Weiß der spielerisch auf die Entstehungszeit verweisenden Kostüme von Suse Tobisch und den beweglichen Projektionswänden von Jan Steigert auf jenes Stadium in dem die Bilder laufen lernten. Da beginnen die Scherenschnitte der Götter und Riesen ein Eigenleben, da wird das Blau des Rheins schwungvoll hingetuscht oder ein leuchtendes Rot für das Feuer Loges projiziert. Das symbolträchtige Gold schließlich ist ein Bildersturm, der gleich das ganze Welt(kultur)erbe zitiert. Folgerichtig illustriert eine Ikonographie des Schreckens bis in die Gegenwart hinein Alberichs Fluch. Da es um die Macht des Mediums Films geht, ist Nibelheim ein Disney-Studio, in dem die Nibelungen wie in der Klippschüler sitzen und zeichnen.

So besteht denn der Schatz, mit dem Freia ausgelöst wird, logischerweise aus goldenen Filmrollen als Symbol der Macht, die zur Macht der Bilder wird. Noch ein zentrales optisches Leitmotiv dieses Rings hat hier seinen Ursprung: der Würfel. Aufgefächert und mit einer Umrahmung, die auch etwas ans Kanzleramt erinnert, steht er hier zunächst für die gerade vollendete Götterburg Wahlhall… Obwohl dieser Ring jetzt komplett jetzt ist, steht die eigentliche Premiere noch bevor – im Mai und im Juni wird es den gesamten Zyklus zu sehen geben. Dann erstmals in der richtige Reihenfolge.

Wagners „Rheingold“ im Bauhaus-Stil, Mitteldeutsche Zeitung, 01.02.2015

von Johannes Killyen

Am Anhaltischen Theater Dessau feiert Richard Wagners „Rheingold“ eine umjubelte Premiere. Die Anhaltische Philharmonie spielt schillernd und leicht - mit romantischem Hörnerklang und warm timbrierten Holzbläsern.*

Macht hat ihren Preis, und die Götter werden ihn bezahlen. Einstweilen jedoch freut sich der unsterbliche Nachwuchs über die neue Götterburg. Während das Elternpaar unschlüssig auf das kubische Wunderwerk blickt. Und der ungeliebte Halbgott lieber draußen bleibt.
Wie ambivalent der Schluss von Richard Wagners Musikdrama „Das Rheingold“ ist, wurde Freitag bei der umjubelten Premiere am Anhaltischen Theater Dessau deutlich: Mit dickem Pinsel breitet der Meister da sein Regenbogen-Motiv aus, das blendend vom Triumph der Götter kündet.
Doch viel ist passiert, bis es dazu kommt: Betrug und Raub, Erpressung und Mord. Welten liegen zwischen dieser scheinheiligen Entrückung und dem unschuldigen Naturlaut zu Beginn des Werkes, das 1869 seine Uraufführung erlebte.

In umgekehrter Reihenfolge
Mit dem „Rheingold“ ist der Dessauer „Ring“ am Anfang und zugleich am Ende angekommen. In umgekehrter Reihenfolge hat der Regisseur und scheidende Intendant André Bücker den Untergang der Götter als Gleichnis auf die Macht der Bilder inszeniert: Nach dem finalen Systemabsturz in der „Götterdämmerung“, den virtuellen Bilderwelten des „Siegfried“ und der Hollywood-„Walküre“ findet das „Rheingold“ seinen Platz in der Frühgeschichte des Films.

Dieser stringente Ansatz wird ergänzt durch die am Bauhaus-Stil geschulte Ästhetik aller Inszenierungen und den Einsatz von Videoprojektionen (Frank Vetter und Michael Ott), die den Zuschauer mit ihrer Bilderflut stark fordern, aber konstitutiver Bestandteil der Lesart sind. So ist ein unverwechselbarer Dessauer „Ring“ entstanden, der die große Wagner-Tradition des mitteldeutschen Hauses im Geiste der Moderne fortschreibt.

Es gehört zu den Eigenheiten des musikalischen Regietheaters, dass bei aller Adaption die Musik unangetastet bleibt. So sangen die Sänger, spielte die Anhaltische Philharmonie die gleichen Noten wie vor 120 Jahren – und sie taten es großartig. Unter dem ebenfalls scheidenden Generalmusikdirektor Antony Hermus hat das Orchester an Transparenz und Selbstbewusstsein gewonnen und traf für das „Rheingold“, diese heimliche Komödie, den richtigen Ton: Nicht mulmig und schwer, sondern schillernd und leicht – mit romantischem Hörnerklang und warm timbrierten Holzbläsern.

Nur wenige Konzentrationsmängel waren im Graben zu registrieren. Dafür im Saal zu Recht frenetischer Beifall, als am Ende alle Instrumentalisten auf der Bühne erschienen. Zur farbigen Romantik der Musik setzen Jan Steigert (Bühne) und Suse Tobisch (Kostüme) Kontrapunkte in Schwarz und Weiß.

Die Rheintöchter, denen der Zwerg Alberich das Rheingold stiehlt, tummeln sich in einem weißen Zoetrop: ein optisches Gerät mit gegenläufigen Zylindern, das bewegte Bilder erzeugt. In weißen Gewändern handeln die Götter mit den ebenso weiß gekleideten Riesen Fasolt und Fafner um den Baupreis für die Götterburg Wallhall. Während ihre Ebenbilder im Hintergrund ein Eigenleben als Schattenrisse führen.

Im Halbdunkel der Höhlen Nibelheims zeichnen Kinder – welch gruselig-geniale Szene – im Akkord Bilder für Comicfilme, die dort heimlich entstehen. Denn Filme in goldenen Hüllen: Das ist die neue Technologie, die Alberich aus dem Rheingold gewonnen hat. Mit einem Ring der Macht, den Göttervater Wotan und Halbgott Loge dem Zwerg abnehmen als Preis für die Riesen, die Göttin Freia in ihrer Gewalt haben – die Hüterin der ewigen Jugend.

Vom verfluchten Ring mag Wotan freilich erst nach dem Rat der Göttin Erda lassen. Eine gute Entscheidung, weil Fafner im Streit um den Ring seinen Bruder Fasolt erschlägt. Der Weg nach Wallhall ist für die Götter frei. Das dominante Weiß der Inszenierung suggeriert Erstarrung, gegen die das Sängerpersonal aber grimmig komödiantisch anspielt: Überragend agieren Ulf Paulsen als Wotan und Albrecht Kludszuweit als Loge, eine der schönsten Wagner-Rollen überhaupt.

Einzug der weißen Götter
Stefan Adam überzeugt als wandelbarer Alberich, Ivan Turšic als weinerlicher Mime, während Javid Samadov und David Ameln als Donner und Froh etwas zu nah am Slapstick sind. Rita Kapfhammer bietet als Fricka dem Göttervater Paroli und kämpft um die verletzliche Freia (Angelina Ruzzafante). Fasolt und Fafner (Stephan Klemm, Dirk Aleschus) poltern rollengemäß, kennen aber auch lyrische Töne. Anja Schlosser ist eine sehr diesseitige Erda.

Nicht nur Riesen und Zwerge finden im Dessauer „Rheingold“ ein schlechtes Ende: Zum Einzug der Götter in Wallhall tippeln die ihres Goldes beraubten Rheintöchter (Katharina Göres, Jagna Rotkiewicz, Anne Weinkauf) als Greisinnen über die Bühne. Und mahnen ohnmächtig: „Falsch und feig ist, was dort oben sich freut.“

zu „Die Walküre“

operapoint, 17.10.2014

Kurzinhalt
Der verfolgte Wälsunge Siegmund findet bei der verlorengeglaubten Zwillingsschwester Sieglinde Zuflucht und zeugt Siegfried. Fricka verlangt Sühne für Ehebruch und Blutschande. Durch die eigenen Gesetze gebunden, muss Wotan Siegmund opfern. Todgeweiht will Siegmund die Schwester lieber töten, als sie ungeschützt zurückzulassen. Da beschließt Brünnhilde, entgegen Wotans Befehl, die Wälsungen zu retten, doch Wotan bewirkt Siegmunds Tod. Brünnhilde flieht zunächst mit Sieglinde vor Wotan, aber Wotan bestraft Brünnhilde und bettet sie in einen Feuerring, aus dem nur ein Held sie erretten kann.
Aufführung
Die opulenten Bühnenbilder von Jan Steigert übernehmen die Formensprache der bisherigen Ringteile. So finden sich zwei halbkreisförmige Projektionswände, die sich rings um die Bühnenmitte herum anordnen lassen. Auf diesen Flächen lassen sich Personen, Vorgänge oder Landschaften wie die Köpfe am Mount Rushmore abbilden. 
Hundings Hütte ist ein Balkenturm, in dem ein überdimensionales, in allen Regenbogenfarben leuchtendes Glasfaserkabel hängt — aus dem Siegmund das Schwert zieht. Walhall befindet sich hoch über dem Lichtermeer von Los Angeles. Der Walkürenfelsen ist wie im Siegfried ein riesiger Rubik-Würfel (Zauberwürfel), der sich in allen horizontalen Ebenen auffächern läßt. Der Walkürenritt ist eine Cocktailparty für verzogene Töchter der höheren Gesellschaft.
Sänger und Orchester
Die Besetzung in Dessau (ein Haus mit 150 Jahren Wagner-Tradition) ist festspielwürdig: Ulf Paulsen kann mit seiner hellen baritonal gefärbten Stimme als Wotan viele stimmliche Gestaltungsmöglichkeiten erkennen lassen — und verfügt über genügend Reserven, um besonders in den tiefen Lagen vollmundig zu klingen. 
Da wird endlich einmal deutlich, welche inneren Regungen Wotan plagen: fast bekommt man Mitleid. Im großen Finale Wotans Abschied trifft er auf Iordanka Derilova als Brünnhilde. Ihr schwerer dramatischer Sopran gibt der Rolle Gewicht, hohe Töne trifft sie auch im Forte, selbst wenn dies nicht frei von Schärfen gerät. Im Finale klingt sie mild und weise, sie kann mit Stimmnuancen der Rolle Charakter verleihen. 
Angelina Ruzzafante hat als schwerer Koloratursopran keine Probleme mit der Gestaltung der Rolle der Sieglinde: im ersten Akt singt sie mit Verve und Energie die resolute Frau, im zweiten Akt kann sie mit Zurückhaltung nervöse Verzweiflung glaubhaft machen. 
Da muss sich Robert Künzli anstrengen, um vor allem im ersten Akt als Siegmund mithalten zu können. Er hält sich merklich zurück, kann aber in den zentralen Momenten als lyrischer Tenor voll aussingen; Durchschlagskraft entwickelt er nur in wenigen Momenten, wie ein Schwert verhieß mir der Vater. Die Winterstürme gestaltet er mit warmen harmonischen, eher leiseren Tönen. 
Stephan Klemm trägt als bitterböser, mit sehr dunkler Tiefe ausgestatteter Hunding zu einem stimmlich hervorragend besetzten ersten Akt bei. Rita Kapfhammer verfügt über schier unerschöpfliches Stimmvolumen und Tonumfang und verleiht der durchsetzungsstarken Fricka Format. Sie wirkt wie ein Heimchen am Herd, klingt aber niemals keifig, sondern singt mit voller Durchschlagskraft aus. Eine Rollengestaltung von wahrlich göttlicher Macht, die man gerne öfters hören würde. Antony Hermus führt die Anhaltische Philharmonie ohne Probleme durch die Untiefen des Rings. Die Orchesterstücke wie der Walkürenritt haben zwar monumentale Breite, jedoch niemals hohles Pathos. Vielmehr gelingt es, die Wagnerschen Klangbögen zu einem großen Ganzen zu verschweißen und die Motive auf dem Silbertablett zu servieren.
Fazit
Zugegeben ein bisschen gewöhnungsbedürftig ist es schon, dass die einzelnen Ringteile in Dessau von der Götterdämmerung rückwärts (also gemäß ihrer dramaturgischen Entstehung) gezeigt werden. Dafür sind in dieser Walküre Antworten auf Fragen aus den Aufführungen Siegfried und Götterdämmerung möglich, z.B. zur Beziehung Brünnhilde-Siegfried.
Das stellt Andre Bücker mit einer ausgefeilten, sehr ausdrucksstarken Personenregie dar, was von den Sängerdarstellern (selten gehört heutzutage!) auch stimmlich einfühlsam betont umgesetzt wird. Das modernistische Bühnenbild, die Überblendungen und Regieeinfälle sind Wegweiser zu weiterführenden Gedanken, denen der Zuschauer folgen kann, aber nicht muss. Wenn der Zuschauer diese ignoriert, ist es die konservativste, durchdachteste Ring-Inszenierung unserer Tage. Schade, dass überzogene Sparmaßnahmen dazu führen, dass der Ring nur zweimal als Zyklus gezeigt werden kann. Ab der kommenden Spielzeit sind nur noch kleinere Produktionen möglich. Die einhellige Begeisterung des Publikums für die heraus-ragenden Sängerdarsteller, für Dirigent, Orchester und Regie spricht Bände.

O. Hohlbach

(K)ein Würfel zum Einschlafen Richard Wagners „Walküre“ in Dessau nmz online, 28.09.2014

von Joachim Lange

Der erste Akt der „Walküre“ ist bei den Fans populär und spielt sich eigentlich von selbst. Zwischen den Sturmböen des Vorspiels und Siegmunds „Wes Herd dies auch sei“, bis hin zum inzestuösen „So blühe denn Wälsungenblut“ der Wotanssprößlinge Siegmund und Sieglinde fühlt sich noch jeder Wagnerfan wohl. Wenn es gut geht, auf der Stuhlkante. In Dessau war das nicht ganz so. Was nicht an Antony Hermus und der Anhaltischen Philharmonie lag, die sich von Anfang an wiederum als Wagnerorchester von Format erwiesen. Es lag auch nicht an Robert Künzli als wackerem und konditionsstark strahlendem Siegmund oder Angelina Ruzzafante, die eine beeindruckende Sieglinde von der erwachenden Neugier über den emotionalen Ausbruch bis hin zu ihrem traurigen Ende ablieferte. Nicht mal an dem recht eigenwillig intonierenden Stephan Klemm, der als Sieglindes Zwangsehemann Hunding immerhin eine imponierende Gestalt beisteuerte, aber nicht ganz an das nahezu hauseigene Ensemble heranreichte.

Irgendwie fügte sich das Ganze nicht zwischen Jan Siegerts nüchterner Gerüstkonstruktion unter dem frei baumelnden Kabelbaum, zu dem Hundings Wohnzimmer-Stamm (samt der Geheimwaffe, die Wotan für den Sohnemann Siegmund hier für alle Fälle deponiert hat) mutiert ist. Auch die Projektionen, die das Computer-Innere irgendeiner Übermaschine assoziieren sollen, helfen nicht weiter. Man rätselt mehr darüber, Wer hier eigentlich Wo ist und amüsiert oder ärgert sich über kleinteilige Einfälle: die Geschwister sind von Suse Tobisch in sterilem Weiß verpackt. Sieglinde muss wie eine Stewardess Assiettenessen und Büchsendrinks bis an den letzten vermummten Hundingkämpfer verteilen. Sonst aber unbeholfen hin und her und auf Siegmund zu irren. Immerhin: Wenn die Winterstürme vorm Wonnemond weichen, funkelt der Sternenhimmel und man kommt dem Mond gefährlich nahe. Und wenn Siegmund das (ganz klassische) Schwert aus dem Kabelgewirr zieht, tanzen auf dem Bildschirm Horizont die Zahlenkolonnen. In diesem ersten Akt bleiben dennoch als (bedeutendes!) Trostpflaster vor allem Hermus und Co im Graben und die beiden Wälsungen auf der Bühne!

Doch dann startet die Inszenierung durch. Der eigentlich viel schwierigere zweite Akt packt von Anfang an. Wird ein Fest zum Hören, Schauen und Nachdenken! Denn auf hohem Podest mit knallroten Schalenstühlen und einem nächtlich funkelndem Metropolen-Panorama im Hintergrund residiert Wotan. Ein Logenplatz zum Beobachten der Welt. Ulf Paulsen stellt mit seinem beträchtlichen komödiantischen Talent und einer seiner besten stimmlichen Leistungen einen Wotan auf die Bühne, dem man gerne so gebannt zuhört wie zusieht: Wenn er mit seinen Allmachtsphantasien immer mehr ins Rutschen kommt, nicht nur seine Frau Fricka sondern mit ihr gleich noch die bestehende Ordnung austricksen will, sich in Widersprüche verstrickt und daran leidet. Der oberste Gott im Stück als der eigentliche Mensch. Das ist eine Glanzleistung bei der Paulsen sich kein bisschen schont und doch noch genügen Kraft fürs Finale behält. Und er hat die richtigen Partnerinnen dazu. Da ist seine Ehefrau Fricka, die rein gar nichts von der Umgehung des Inzesttabus hält, das Wotan eingefädelt hat. Rita Kapfhammer ist eine der besten Frickas weit und breit. Es ist höchst glaubwürdig wie sie ihren Göttergatten zusammenfaltet. Natürlich war auch die Vorfreude auf Iordanka Derilovas Walküren-Brünnhilde voll auf berechtigt. Die macht schon aus ihrem ersten Hojotoho ein vokales Fanal und ein schauspielerisches Kabinettstück mit Handy und Handtasche macht. Jetzt funktioniert das blendend, weil es mit boulevardesker Ironie gewürzt ist und die Frauen Wotan sozusagen ein wenig zum Gott des Gemetzels machen. Dabei entpuppt sich Wotan zwischen seinen Filmrollen, Drehbüchern und Oscars mit dem Blick auf die berühmten Hollywood-Schriftzüge in Kalifornien schnell als mächtiger Film-Produzent. Brünnhilde ist seine Favoritin, als Tochter und als Regisseurin. Sie inszeniert die Todesverkündigung als Hollywood Drama um die Liebe des Zwillingspaares vor grandioser Landschaft. Wenn Siegmund gegen seinen Filmtod revoltiert schreibt sie das Drehbuch einfach um und putscht so gegen ihren Chef und den Lauf der Dinge.

Was uns einen ebenso gelungenen wie erstaunlich kurzweiligen dritten Akt beschert. Um den mit architektonischem Ehrgeiz stylisch aufgefächerten (Felsen-)Würfel versammeln sich herrlich aufgedonnerte Diven mit Vorliebe für Handtaschen und das smarte männliche Personal im Matrosenlook. Es gibt jede Menge gut gemachte Videoüberblendungen und eine Ahnung davon, dass wir uns im Dessauer Ring wohl durch eine Geschichte der medialen Reflektion oder Verfremdung der Welt bewegen, die in der „Walküre“ bei einer cineastischen Verarbeitung der Wirklichkeit und der Macht der Bilder angekommen ist.

In den letzten beiden Akten wirkt der Umgang mit der Livekamera souverän (oder bewusst improvisiert). Der einmal auftauchende Mount Rushmore aus South Dakota mit den in Stein gehauenen Präsidenten-Porträts ist zwar recht weit weg von Hollywood, hat aber durchaus mehr mit der Macht der Bilder zu tun. Es ist ein bewusster Bezug auf Frank Castorfs Marx-Lenin-Stalin-Mao Adaption des amerikanischen Heiligtums, die im aktuellen Bayreuther Ring die Gemüter ebenso faszinierte wie erregte. Selbstbewusst erinnert Andre Bücker damit daran, dass Dessau und sein Theater ein wichtiger Teil der Wagner- und deutschen Stadttheaterwelt bisher waren. Und es, trotz aller Anstrengungen vereinigter politischer Inkompetenz, noch sind. Stehende Ovationen im und für das Dessauer Theater!

André Bückers Dessauer Nibelungen-Ring ist bei der Walküre angekommen, Leipziger Volkszeitung, 29.09.2014

von Peter Korfmacher

Zu Beginn des zweiten Walküren-Aktes schaut Wotan im Anhaltischen Theater Dessau am Samstagabend mit wohlgefälliger Zuversicht durch den Motivsucher. Noch kann er sich einbilden, sein Nibelungen-Film verlaufe wie geplant. Dann aber kommt die zänkische Fricka und verlangt den Tod des inzestuösen Ehebrechers Siegmund. Wotan reicht sein Drehbuch vertrauensvoll an Lieblingstochter Brünnhilde weiter. Die lässt zu, dass auch Siegmund darin herumfuhrwerkt, und am Schluss sind sie alle wieder gescheitert. Denn: Zu viele Drehbuch-Autoren verderben den Film. Oder so. Wotan, der eingebildete Spielmacher, in Walhall ist also bei André Bückers drittem Ring-Abend (in Dessau begann man mit der Götterdämmerung, um rückwärts durch die Tetralogie zu arbeiten), der eingebildete Film-Regisseur. Dieser ziemlich naheliegende Einfall prägt die Bildwelt der rund fünf Stunden im Anhaltischen.

Der erste Akt zeigt Siegmund und Sieglinde, Hunding und die Seinen in einer Art Rechenzentrum, man speist aus der Bordküche, was gut dazu passt, dass Suse Tobisch Hunding lufthansafarben einkleidete. Die Welt-Esche schraubt sich als Lichtleiter-Vielfach-Helix von der Decke; ein metallenes Gerüst (Bühne: Jan Steigert) erlaubt es den Akteuren, darauf umherzusitzen. Hinten fahren zwei gebogene Leinwände hin und her, worauf Frank Vetter und Michael Ott ihre mannigfachen Projektionen werfen.
Diese Projektionen, im ersten Akt noch wichtigtuerische Deko, bemächtigen sich zunehmend der Inszenierung.

Im zweiten, den wir als Bluebox-Installation erleben, mit Brünnhilde auf dem Regiestuhl, und im dritten, worin die Video-Tapete so wild die Szene überwuchert, dass kaum mehr auffällt, dass der van-der-Rohe-Würfel Brünnhilde verschluckt hat, hat der Firlefanz zwischen Los Angeles und Mount Rushmore, zwischen Matrix und Spielekonsole endgültig die Herrschaft übernommen.

In diesem Umfeld ist es beinahe gleich, was Hausherr André Bücker mit seinen Protagonisten anfängt. Seine Gags sind kaum geeignet, den Umstand auszugleichen, dass sich kaum Beziehungen zwischen den Protagonisten dieser Oper ergeben. Nur Wotan und Brünnhilde entwickeln als Paar so etwas wie psychologisches Relief. Der Rest bleibt bei allem Drehbühnen- und Video-Aktivismus seltsam blutleer. Wohl, weil dem Ganzen die Idee fehlt, die auch viele Einfälle nicht zu ersetzen vermögen.

Das ist im weit herunter gefahrenen Graben anders: Antony Hermus setzt auf drahtige Schlankheit. Verstörend greifen bereits die ersten schwellenden Streicherflächen ans Gemüt. Unruhe, Unheil, Ausweglosigkeit in Tönen von muskulöser Gespanntheit. Und obschon man auch im Blech der Anhaltischen Philharmonie bisweilen hört, wie schwer diese Partitur ist, kommt doch vom Orchester die positive Überraschung des Abends. Hermus leuchtet vor allem die Bläserbehandlung Wagners aus. Zu immer neuen Farben mischen sich die Leitmotive, die Hermus nicht vorführt und abhakt, sondern subtil entwickelt und belebt. Allerdings klingt es hier, im Gegensatz zum gedeckelten Bayreuther Graben, nicht nur leiser, es wird wirklich leiser gespielt. Was nicht ohne Auswirkungen auf die Klangfarben bleibt. Dabei ist die Zurückhaltung, die der Chef von seinen Instrumentalisten einfordert, nicht nur seinen ästhetischen Überzeugungen geschuldet, sondern auch der Rücksicht auf die Sänger. Vor allem für den bei aller Klangschönheit recht kleinen Tenor Robert Künzlis als Siegmund muss Hermus den Klang weit herunterdimmen. Und auch Angelina Ruzzafante beherrscht sich mit ihrem herrlichen Sopran spürbar, um den Zwillingsbruder nicht an die Wand zu singen.

Doch von dieser Unausgewogenheit abgesehen lässt die Besetzung der Hauptpartien wenig Wünsche offen: Rita Kapfhammer singt die Fricka würdevoller und gefährlicher, als Bückers Xanthippen-Abziehbild ahnen lässt. Stephan Klemm ist ein abgründiger Hunding. Die vokalen Glanzlichter setzen Ulf Paulsen und Iordanka Derilova. Gewiss, Wotan kippt bisweilen ins Näseln, und seine Tiefe schärfelt, derweil Brünnhilde zu Beginn oben mit der Intonation ringt. Doch beide machen Wagners herrliche Partitur ebenso wie momentweise Bückers nicht so herrliche Inszenierung zum Vehikel für all die Emotionen, die das ausweglose Verhängnis dieser Geschichte freisetzt. Dafür kassieren sie und das Orchester am Ende den ausführlichsten Jubel. Bei Bücker mischen sich Buhs darunter. Auch die sind in Ordnung, denn wirklich überzeugen kann seine Inszenierung nicht. Aber sie zeigt gleichwohl, dass der Generalintendant in Dessau ein Theater gebaut hat, das auch vor größten Aufgaben nicht zurückscheuen muss. Doch das scheint nicht gewollt im Land der Frühaufsteher, wo die Kulturinstitutionen gezielt ausgetrocknet werden.

Das Eckige im Runden, neues deutschland, 30.09.2014

von Roberto Becker

André Bücker inszenierte Wagners »Walküre« am Anhaltischen Theater Dessau, am Pult: Antony Hermus

Als André Bücker in Dessau sein »Ring«-Projekt von hinten mit der »Götterdämmerung«, also dem größten Brocken des Vierteilers, begann, da war man versucht zu sagen: schlau gemacht. Denn man kann nie wissen, ob die kulturpolitischen Voraussetzungen für so ein Großprojekt in Sachsen-Anhalt über die Jahre erhalten bleiben. Jetzt haben es die Kulturpolitik in Magdeburg und eine bittere Kehrtwende in der Dessauer Kommunalpolitik auf der einen Seite sowie die Beharrlichkeit und der Kampfgeist des Generalintendanten und Regisseurs Bücker auf der anderen Seite tatsächlich geschafft, dass in einer bitteren dialektischen Pointe Hoffnung und Befürchtung gleichzeitig zutreffen: Sie werden den »Ring« in Dessau - das ist jetzt, nach dem dritten großen Teil, klar - mehr als nur achtbar zu Ende bringen.

Aber der durchaus geschickt mit der Dessauer Bauhaus-Ästhetik spielende Vierteiler, der zugleich ein imponierender musikalischer Leistungsnachweis des Hauses ist, wird der Abschluss von André Bückers Intendanz werden. Vielleicht gar die Begleitmusik zu einer leichtsinnig herbeigeführten oder zumindest in Kauf genommenen Theaterdämmerung. Zu den ersten Aktivitäten des neuen Dessauer Bürgermeisters (FDP) gehörte die Neuausschreibung der für eine Kommune so wichtigen Position. Dass Bücker den Hinweis, dass er sich doch auch bewerben könne, als puren Zynismus empfinden muss, wird klar, wenn man sich an das Schicksal des letzten Bauhaus-Direktors erinnert und die Sympathien bzw. unverhohlenen Antipathien des Magdeburger Kultusministers vor Augen führt.

Ein so traditionsreiches und für die ganze Region wichtiges Haus wie das Theater Dessau wird in Kürze ohne Generalintendanten, ohne GMD, mit einem bis unter die Funktionsgrenze eingeschrumpften Landeszuschuss, einem abgemagerten Schauspeil und einem Miniballett dastehen. Auf dieses Rahmenprogramm zur Götterdämmerung hätte man liebend gerne verzichtet.

Wenn unter solchen Bedingungen der Vorhang dennoch für ein so ambitioniertes Projekt wie geplant hochgeht und eine alles in allem beeindruckende »Walküre« ihre Premiere erlebt, dann ist das per se schon ein Riesenerfolg. Er ist es aber auch für sich genommen. Sicher, der erste Akt verläppert sich szenisch seltsam spannungslos. Aber Robert Künzli als Siegmund und vor allem Angelina Ruzzafante als Sieglinde gleichen das vokal aus.

Auf der Bühne von Jan Siegert gibt es wieder eine volle Dröhnung mit Videos von Frank Vetter und Michael Ott. Aber wer die anderen beiden Teile schon kennt, findet sich zurecht. Er erkennt bald den szenischen Weg hin zum bauhausaffinen Walküren-Würfel und in die Welt der Abbilder und Virtualisierung. Mit dem zweiten Aufzug, wenn Ulf Paulsen seinen Wotan als Filmboss in Hollywood mit komödiantischem Furor und imponierender Stimmgewalt ausstattet, wenn Rita Kapfhammer eine super Fricka hinlegt und dann Irodanka Derilova als Brünnhilde der Extraklasse mit Handtasche und Handy aufkreuzt und die Regie im Schmachtfetzen über Siegmunds Tod übernimmt, aber dann doch den vorgesehenen Lauf der Dinge aufzuhalten versucht, ist die szenische »Ring«-Welt in Dessau wieder in Ordnung.

Im Runden formt sich hier das Eckige - am Ende ist das aufgefächerte Konstrukt wieder genau jener Würfel (mit eingeschlossener Brünnhilde), über dessen weitere Verwendung wir schon bescheid wissen. Die gebogenen Riesenleinwände erlauben es, aus dem live gefilmten Lebensende von Siegmund einen Hollywood-Schinken vor imponierender Landschaftskulisse zu fabrizieren - in dem dann auch mal der (echte) Mount Rushmore auftaucht, als augenzwinkernder Gruß an den Roten im aktuellen Bayreuther »Ring« von Frank Castorf.

Dessau als Bayreuth des Nordens - das ist bislang auch deshalb noch kein Märchen aus uralten Zeiten, weil Antony Hermus und die Anhaltische Philharmonie einen fabelhaften Walküren-Sound draufhaben. Er überbrückt mit Grabenspannung auch die szenische Flaute im ersten Akt und schlägt sich in den folgenden beiden voll auf die Seite des Spielwillens und der imponierenden stimmlichen Qualitäten seiner Protagonisten. Jubel für das Ensemble, ein paar Buhs im Beifall fürs Regieteam und stehende Ovationen fürs Orchester!

Brünnhilde mit Mobiltelefon, Junge Freiheit, Oktober 2014

Das Bayreuth des Nordens: „Der Ring des Nibelungen" am Anhaltischen Theater Dessau

von Sebastian Hennig

In Dessau wurde im Jahr 1938 das damals gewaltigste Theater nördlich der Alpen eröffnet. Eine der größten Drehbühnen Deutschlands lässt heute noch die verblüffendsten Wandlungen spielend möglich werden. Kaum einem Werk kommt das so gelegen wie dem „Nibelungen"-Universum von Richard Wagner. Das entsprach auch den Intentionen der Bauherren. Lange bevor das Theater über solche Möglichkeiten verfügte, war die Beziehung zu Wagner hier fest geknüpft. »Ich bezeuge laut, nie eine edlere und vollkommenere Gesamtleistung auf einem Theater erlebt zu haben", äußerte dieser 1872 nach einem Besuch. Im Orchester der ersten Bayreuther Festspiele spielte dann vier Jahre darauf auch ein Dutzend Musiker der Dessauer Hofkapelle. Dessau galt bald als „Bayreuth des Nordens". Das im Krieg schwer zerstörte Gebäude wurde rasch aufgebaut. Zwischen 1953 und 1965 fanden hier Wagner-Festspiele statt. Seit 1963 ist nun erstmals wieder ein kompletter „Ring des Nibelungen" auf der Dessauer Bühne zu erleben. Nachdem 2009 André Bücker als Intendant vom Nordharzer Städtebundtheater nach Dessau wechselte, kam es zu einer kompletten Neuorientierung des Anhaltischen Theaters. Zugleich mit ihm kamen der Generalmusikdirektor Anthony Hermus, die Chefregisseurin und der Ballettdirektor an das Haus. Bei Berücksichtigung der üblichen Planungszeiten ist davon auszugehen, dass die „Ring"-Inszenierung das erste Großunternehmen dieser neuen Ära war. 2012 hatte zuerst „Götterdämmerung" Premiere. Denn die verhängnisvolle Handlung wird in Dessau von ihrem Ende aus im Rückwärtsgang entwickelt. Das ist ein kluges Unterfangen, denn so manche ambitionierte Inszenierung hat sich schon heillos mit ihren Interpretationsbögen vergeigt, oder es kam ihr die Kraft für die große Auflösung abhanden. Wer also die Knoten der Verstrickung gleich festgezurrt hält, der kann in Ruhe die einzelnen Stränge zu ihrem Ursprung zurückverfolgen. Außerdem ist der kostenintensivste Teil gleich bewältigt, und die Ausdauer kann für die künstlerische Umsetzung verwendet werden. Der Dessauer Richard-Wagner-Verband und private Unterstützer sind wichtige Verbündete des Anhaltischen Theaters bei diesem Unternehmen. Mit den Dessauer Wagner-Festspielen werden sich im nächsten Jahr die gemeinsamen Bemühungen fair einen „Ring des Nibelungen" in der Bauhausstadt erfüllen. Die internationale Tagung des Wagner-Verbands wird 2015 zeitgleich zum ersten kompletten „Ring"-Zyklus in Dessau stattfinden. Der Fortbestand des Theaters ist gefährdet doch das Verhältnis zum Land ist nicht ungetrübt. Das Theater steht inzwischen auf der Roten Liste der gefährdeten Kultureinrichtungen. Für den Generalintendanten des Hauses und Regisseur dieses „Rings" wird es wahrscheinlich die letzte Arbeit in Dessau sein. Sein Vertrag wurde ab 2015 nicht mehr verlängert, die Stelle ausgeschrieben. Kritik am Sparverhalten des Landes brachte ihm die Ungnade ein. „Es ist ganz klar, dass man mich hier nicht haben will", sagte Bücker gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung. »Ich werde mich nach fünf erfolgreichen Jahren nicht auf ein Verfahren einlassen, in dem ich keine Chance habe. (...) Ich werde gekippt, weil ich nicht genehm bin." Ein aussagekräftigeres Argument als die gegenwärtige Spielzeit ist in dieser Auseinandersetzung nicht denkbar. Mit der Premiere von „Die Walküre" ist Dessau nach dem Computerspiel-„Siegfried" (JF 9/14) einen großen Schritt weitergerückt und zugleich ein Theaterwunder geschehen. Das Dessauer Haus wirkt nun nicht mehr allein baulich groß. Die Anhaltische Philharmonie unter Anthony Hermus zeigte sich in bester Kondition. Außer Robert Künzli (Siegmund) und Stephan Klemm (Hunding) waren alle weiteren vier Hauptpartien mit Ensemblemitgliedern besetzt, die in keiner Weise hinter den Gästen zurückstanden. Kammersängerin Iordanka Derilova gab eine energische Brünnhilde. Rita Kampfhammer war eine ungewöhnlich sinnlich-leidenschaftliche Fricka und Tom Paulsen ein Wotan voll tragischer Vitalität. Die gestisch-mimische Posse ihrer Auseinandersetzung war durch den dieser Szene innewohnenden Wagnerschen Schalk gerechtfertigt. Die modernistischen Requisiten haben die verhängnisvolle Tragweite der Geschichte nie verjuxt. Die Anklänge an die klassische Moderne sind wirklich mehr klassisch und elegant als bemüht modern. Ein klare und lebendige Beleuchtung der Bühne schärft dem Betrachter die Sinne. Das Programmheft lässt sich darüber aus, wie wichtig die Inszenierung im 19. Jahrhundert für den Erfolg einer Oper war. Das Publikum goutierte damals historistische Kostüme, echte Pferde und dergleichen Schaueffekte. Unzweifelhaft ist heute das Mobiltelefon in der Hand der Brünnhilde das, was dazumal die schwarzen Rabenflügel am Helm Hagens waren: ein dem aktuellen Zeitgeist nächstliegendes Attribut. Doch die Inszenierung verhält sich auch sonst nicht gleichgültig gegen solche Zeichen. So ergibt sich aus solchen Assoziationen etwas mehr Sinn, als man sonst davon gewohnt ist. Wotan ist hier ein Filmregisseur, dem oft gar nicht zusagt, was er durch den Motivsucher erblicken muss. Sein auf der Bühne agierender Kameramann (Kruno Vrbat) lässt mittels Blue-Box-Projektionen die realen Sänger vor mythischen Orten der USA wie Death Valley, Mount Rushmore oder Grand Canyon erscheinen. Die Eigenbewegungen von Sängern, Drehbühne und Kamerafahrt verbinden sich zu einer unheimlich komplexen Vision. Doch zuletzt stellt sich doch die Frage, ob die Medienkritik selbst nicht weiteres ins Feuer unserer Menschheitsdämmerung gießt, anstatt freundlichere Wege offenzuhalten. Zum „Rheingold" im Januar werden wir mehr darüber erfahren können. Dann soll der letzte Wegabschnitt vom Zelluloid-Zeitalter zurück zur Zeichnung und Kalligraphie beschritten werden. Als sich das Orchester am Premierenabend zum Schlussapplaus auf der Bühne aufstellte, erhob sich das jubelnde Publikum von seinen Plätzen. Einzelne Buhrufe für die Regie gingen unter Wellen der Zustimmung unter.

Opernglas, November 2014

DESSAU Die Walküre, 27. September

von Sebastian Barnstorf

Der von hinten aufgezäumte „Bauhaus-»Ring«" in Dessau ist mit der Neuproduktion der »Walküre« nach längerer Zwischenpause in seine entscheidende Phase gegangen, und schon Ende Januar 2015 wird mit der Premiere von »Das Rheingold« der finale Schlusspunkt gesetzt werden. Letzteres auch in anderer Hinsicht, denn die Zukunft des Hauses, das jüngst sogar einen Überschuss von 205.000 Euro erwirtschaftet hatte, steht vor Herausforderungen: Der Vertrag des seit 2009 in finanzieller wie künstlerischer Sicht äußerst erfolgreich arbeitenden Intendanten und »Ring«-Regisseurs André Bücker wurde nicht verlängert, wohl weil er sich gegen die Pläne der Landesregierung, zwei seiner vier Sparten (Schauspiel und Ballett) am Theater zu schließen, gewehrt und an die Spitze der Protestbewegung gegen solche Sparpläne gesetzt hatte. Innerhalb seines Hauses erhielt er viel Unterstützung, seine Mitarbeiter zeigten sich durch freiwilligen Lohnverzicht solidarisch. Dass er aber die verantwortlichen Politiker auch noch in hauseigene Inszenierungen einbezogen hatte („Haseloff, Bullerjahn, kleiner Geist im Größenwahn") schien dann offenkundig des Guten zu viel gewesen zu sein. Auch der ebenfalls seit 2009 am Hause erfolgreich agierende und beim Publikum überaus beliebte GMD Anthony Hermus wird das Haus zum Ende der Saison verlassen.

Die beeindruckenden Vorzüge der vorangegangenen Teile hatten in einer Regie gelegen, die die sich aus dem Kontext heraus entwickelnden Bezüge und Erklärungen vor dem Panoptikum der klassischen Moderne zeigt, dargestellt im eindrucksvollen Bühnenbild von Jan Steigert. »Siegfried«, »Götterdämmerung« und nun auch die »Walküre« sind mit den geometrischen Formen der Symbol- und Formensprache des Bauhaus-Stils bebildert. Der Würfel bildet dabei die Klammer eines einheitlichen »Ringes«, der dennoch vom Ende her inszeniert wird. Aber was bislang phänomenal funktioniert hat, vermochte in der »Walküre« nicht mehr recht zu zünden, obwohl insbesondere im schwierigen zweiten Akt ein Feuerwerk an Effekten und Ideen aufloderte. War der »Siegfried« ein „Computer-Fantasy-Spiel-Spektakel" zwischen „Tetris" und dem „Schwarzen Auge", findet man in der »Walküre« nun ein Sammelsurium an Filmzitaten vor. Hunding und seine Mannen erscheinen im ersten Akt als Ninja-Kung-Fu-Kämpfer ä la Quentin Tarantinos Film-Opus „Kill Bill". Statisch agierend, Cola aus Dosen schlürfend und Sushi verzehrend, müssen sich Siegmund und Sieglinde rätselhafterweise teilnahms- und belanglos durch die Szenerie lavieren. Robert Künzli als Siegmund punktete hier noch mit schön lyrisch geführter, klar strukturierter und teilweise aufblühender Gestaltung seiner Stimme, die in den dramatischen Passagen im zweiten Akt etwas an ihre Grenzen zu gelangen schien. Ihm zur Seite stand mit Angelina Ruzzafante eine Sieglinde, die in Gesang und Spiel seltsam unbeteiligt wirkte. Zwar brachte die gebürtige Niederländerin viel nuanciertes Timbre und lyrisch-textverständlichen Ausdruck mit in die Partie, den geforderten wahnhaft-fiebrigen Ausbrüchen der Verzweiflung im zweiten Akt vermochte sie nicht durchgehend adäquat zu entsprechen. Dagegen überzeugte Stephan Klemm als Hunding mit ausdrucksstarkem, immer fein ausgesungenem, abgestuftem Bass und zeichnete so ein eindringliches Bild als Chef der Ninja-Rächer. Vor dem Hintergrund von Fritz Langs Epos „Die Nibelungen" nachempfundenen Szenen hatte Siegmund seine Vergangenheit geschildert.

Der zweite Akt entwickelte sich mit besonders grellen und teilweise überzeichneten, aber nicht immer unpassenden Einfällen der Personenführung vor dem Panorama von Los Angeles und den geometrisch schwarz-weißen Formen Malewitschs wieder zu einer innovativ-erfrischenden Deutung. Wotan ist der Hollywood-Patriarch und Film-Noir-Wegbereiter John Huston mit Augenklappe. Seine Lieblingstochter Brünnhilde in identisch-bunter Kleidung wie ihr Vater (Kostüme Suse Tobisch) mit Handtäschchen und begleitendem „Filly-Plüschtier" Grane intoniert ihre einleitenden Hojotohos so laut, dass sich der Göttervater seine Finger in die Ohren stecken muss, während die Wotan-Fricka-Auseinandersetzung als lustig skurrile Szene einer Ehe angelegt war. Rita Kapfhammer überragte in der Rolle der Fricka mit warmem Timbre und formschöner, geschmeidiger Intonation. Ihre Darbietung zählte zu den gesanglichen Höhepunkten des Premierenabends. Aber auch Ulf Paulsen als oscarprämierter Filmregisseur Wotan überzeugte mit wunderbarer Deklamation, die im langen, aber zentralen Monolog besonders verfing und die zusammen mit deutlich hinzugewonnener Tiefe differenziert und abwechslungsreich wirkte. Eine eindringliche, plastisch nachvollziehbare Erzählung! Lediglich in den heftigen Wutausbrüchen des dritten Aktes hätte der Interpretation ein wenig mehr an Kraft besser zu Gesicht gestanden. In der Todesverkündigungsszene offenbart sich, dass Siegmund und Sieglinde aus einem Hollywood-Filmplot entsprungen sind: Der freie Held kann Siegmund so gar nicht sein. Je weiter man im von Brünnhilde im Regiestuhl begleiteten Drehbuch voranschreitet, desto mehr beginnt sie mit den verlorenen Filmfiguren zu leiden — darin kulminierend, dass sie Seiten aus dem Regiebuch herausreißt: Sie wird jetzt Siegmund schützen. lordanka Derilova verlieh der Brünnhilde einen dramatisch-großen Ansatz, der sich gelegentlich in nicht ganz klarer Intonation niederschlug, aber dennoch insgesamt der Partie angemessen erschien. Bei ihrem Debüt in der nunmehr dritten Brünnhilden-Partie nach »Siegfried« und »Götterdämmerung« am Hause überzeugte sie insgesamt durch ihr warmes Timbre und eine facettenreiche Darstellung. Vor den ermüdenden weil pausenlos und uninspiriert auf die Bühne projizierten wabernden quadratischen Gitternetzlinien entfaltete sich am Ende allzu viel Leere, die die Anhaltische Philharmonie Dessau unter der Leitung ihres scheidenden GMDs auch durch passioniertes Spiel nicht zu kompensieren vermochte. Über die gesamte Spieldauer hinweg hatte Hermus mit seinem Orchester einen musikalisch soliden Bogen gespannt, der sich über den von anfänglich übel dräuendem Gewittersturm vor einer aus blinkenden Datenkabeln geformten Esche, über die lyrisch-aufblühende Gestaltung der Todesverkündigungsszene bis hin zum pathetisch-erhabenen Abschied mit Feuerzauber erstreckte. Am Ende gab es stehende Ovationen.

Grandiose „Walküre“ in Dessau – der neue merker, 02.10.2014

von Tom Reinhold

Das Anhaltische Theater in Dessau kann auf eine fast 250jährige Geschichte zurück blicken. Zu den Kapellmeistern gehörten bedeutende Musiker wie August Klughardt. Das Haus pflegt eine langjährige Wagner-Tradition und wird manchmal auch als „Bayreuth des Nordens“ gesehen. Nach mehreren Zerstörungen wurde das Theater in der jetzigen Form in den 1930er-Jahren wieder aufgebaut. Die damaligen Ansprüche an Größe und Monumentalität sind kein leichtes Erbe; die über 1.000 Sitze zu füllen, scheint trotz der Nähe zu Berlin in der strukturschwachen Region keine triviale Aufgabe. Auch Diskussionen um die Kürzung öffentlicher Mittel sind eine Belastung; da ist es umso erfreulicher, dass die Kulturschaffenden darauf eine künstlerische Antwort finden und mit einer beeindruckenden Regie und Ensembleleistung nachdrücklich für das Haus werben.

Seit 2012 wird in Dessau an einem neuen „Ring“ geschmiedet, und zwar – wohl aus fördertechnischen Gründen, da parallel in Halle ebenfalls ein „Ring“ entstanden war – rückwärts. Über die „Götterdämmerung“ konnte schon Positives berichtet werden (s. Merker xxx), und nach einem ebenfalls recht gelungenen „Siegfried“ fand nun die Premiere der „Walküre“ statt. Mit dieser ist Regisseur André Bücker sein Meisterstück gelungen, nicht nur, weil sich sein Gesamtkonzept allmählich besser erahnen lässt. Diese „Walküre“ überzeugt auch für sich genommen, mit einem grandiosen Bühnenbild von Jan Steigert (immer wieder von der Bauhaus-Tradition in Dessau inspiriert), intelligenter Personenregie und vielen bewegenden Momenten. Das Sängerensemble bot eine durchgängig homogene Leistung auf hohem Niveau, mit schönen Stimmen und vorzüglicher Textverständlichkeit; Es ist immer wieder beeindruckend, welche Kräfte „in der Provinz“ heranwachsen.

Robert Künzli und Angelina Ruzzafante begeistern als Wälsungen-Paar. Sie passten auch optisch (nicht nur durch die weißen Kostüme) hervorragend zusammen. Beide setzten ihre Stimmen ökonomisch intelligent ein, so dass Siegmund seine „Wälse“-Rufe und das „blühende Wälsungenblut“ sowie Sieglinde ihr „hehrstes Wunder“ mit durchschlagender Kraft in den Saal schleudern konnten. Stephan Klemm war ein stimmgewaltiger Hunding, dessen Stimme auch noch in größeren Häusern tragen würde. Wie im Berliner Götz-Friedrich-„Ring“ hatte er seine Mannen mit dabei, die von Sieglinde mit Cola und Nudeln vom Trolleywagen verköstigt wurden. Die Liebesszene im 1. Aufzug war wunderbar inszeniert – tatsächlich wichen die Winterstürme einem Sternenhimmel, durch den dann ein wunderbarer „Wonnemond“ von rechts nach links über die Bühne glitt und Gänsehautgefühle erzeugte.

Im 2. Aufzug hatte ich das Gefühl, dass sich das Regieteam etwas vom aktuellen Bayreuther „Ring“ hatte inspirieren lassen, aber nach dem Prinzip „Jetzt zeige ich Euch mal, wie man das richtig macht“: Auch hier gab es einen Mount Rushmore und zahlreiche Videoprojektionen, aber im Gegensatz zum umstrittenen Castorf-Ring war hier ein dramaturgisches Konzept erkennbar und die Projektionen sorgten für zusätzliche und zur Geschichte passende Erkenntnisse. (Wobei hinzugefügt sei, dass das Grundkonzept von Bücker sicher schon seit mindestens zwei Jahren steht und er keinen Castorf nötig hat…) Zu Beginn ist die nächtliche Skyline von Los Angeles, passend fotografiert vom Observatorium aus, zu sehen, vor der die großen Wotan-Monologe stattfinden. Wotan wird grandios von Ulf Paulsen verkörpert, der vor allem in den tiefen Lagen eine wunderbar wohlklingende Stimme hat (in der Höhe wirkt er leider etwas dünn) und mit ausdrucksvoller Mimik die Entwicklung des Gottes, der sich in seinen eigenen Stricken gefangen hat, aufzeigt. Sehr schön fand ich den Regieeinfall, dass Wotan einige Erkenntnisse erst während der Handlung gewinnt: So wird ihm, als er sich „das Ende“ wünscht, bewusst, warum er dies tut (durchaus passend zum Text: „Jetzt versteh ich den stummen Sinn des wilden Wortes der Wala“). Und als ihn Brünnhilde später informiert, dass Sieglinde einen Wälsungensohn gebären wird, ist er überrascht und überlegt sofort, was das für den Fortgang der Geschichte heißt und dass er jetzt nicht eingreifen darf (deshalb dann auch „Nie suche bei mir Schutz für die Frau noch für ihres Schoßes Frucht“).

Fricka, genauso attraktiv wie zickig, wird überzeugend von Rita Kampfhammer gespielt und gesungen. Brünnhilde ist, wie schon bei den späteren Teilen der Tetralogie, Kammersängerin Iordanka Derilova, die mit der Rolle weiter gewachsen ist und stimmlich wie emotional überzeugt. Dass sie Wotan nicht konzentriert zuhört, vermag zu erklären, warum sie später in der „Götterdämmerung“ nicht schneller die Zusammenhänge um den Ring begreift. Besonders gelungen sind Siegmunds und Sieglindes Flucht sowie die Todesverkündung. Hier arbeitet Bücker mit den angesprochenen Videoprojektionen (Frank Vetter, Michael Ott), wobei die Flucht als ein Hollywood-Film gezeigt wird – das Ganze nach einem Drehbuch von Wotan, der die Inszenierung an Brünnhilde übergibt. Als diese sich von der Drehbuchvorgabe löst und Siegmund zu retten beschließt, sehen wir im Hintergrund in der Projektion, wie Wotan dies erzürnt mitbekommt und seine Augenklappe abnimmt – das fehlende Auge in perfekter Maske zum Fürchten gut erkennbar.

Dass beim Walkürenritt Musik und Handlung korrekt umgesetzt werden, erwarte ich in keiner Inszenierung mehr. Hier servieren einige Jünglinge Alkohol und Drogen an 8 poppige Mädels, die sich dann aber durchaus als mitfühlend gegenüber Brünnhilde und Sieglinde erweisen – und alle erfreulich gut singen können. Als Bühnenbild dient ein großer Würfel, schon aus den Folge-Opern bekannt, der zunächst aufgefächert ist, und am Ende zum Feuerzauber vollständig zusammen geschoben wird. Wotans Abschied gelingt emotional sehr berührend, und die körperliche Statur der beiden Akteure erlaubt, dass Wotan Brünnhilde auf die Arme nimmt und in ihr Schlafgemach im Würfel trägt. Wünschen wir dem Dessauer „Ring“ nicht nur deshalb, dass beide Sänger den Folgeaufführungen erhalten bleiben!

Gleiches gilt für den hervorragenden jungen Chefdirigenten Antony Hermus, der mit der Anhaltischen Philharmonie Dessau wirklich Großes geleistet hat. Außer wenigen, Tagesform abhängigen Wacklern in den Trompeten, konnte das Orchester durchweg begeistern, spielte durchhörbar und nicht zu laut, mit charmantem Holz, samtigen Streichern und dramatischen Pauken. Damit rundete es eine Ensembleleistung ab, in der es keinerlei Ausfälle und viele erfreuliche Höhepunkte gab.

Für alle Beteiligten gab es Bravo-Stürme, auch für die Regie; für letztere durchsetzt von einigen wenigen Buhrufen von Zuschauern, die sich wohl mit den Videoprojektionen schwer taten. Einziger Verbesserungsvorschlag an die Regie: Auch nach dem 1. und 2. Aufzug kann man durchaus den Vorhang noch mal für die Sänger öffnen, anstelle den Beifall verhallen zu lassen!

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es – nach der „Rheingold“-Premiere im Januar 2015 – im Mai und Juni 2015 zwei geschlossene „Ring“-Zyklen geben wird, für die noch wenige Karten erhältlich sind. Begeisternden Wagnerianern, und erst recht solchen, die von jüngeren Regiearbeiten enttäuscht sind, kann der Besuch uneingeschränkt ans Herz gelegt werden.

Dessau: Die Walküre 27.9. 2014 Premiere, der neue merker, 02.10.2014

von Friedeon Rosén

In Dessau hatte jetzt Wagners beliebte Oper Die Walküre Premiere, erster Tag des an der Bauhaus-Bewegung inspirierten Dessauer Rings, von dem bisher Götterdämmerung und Siegfried mit großem Erfolg aufgeführt wurden. In Dessau werden die Ringteile also im “Krebsgang” herausgebracht, und den Abschluß bildet im Januar ’15 Das Rheingold. Man will damit in der Regie von André Bücker, Bb.:Jan Steigert, aufzeigen und bewust machen, wie Wagner die Konzeption des Ring des Nibelungen von hinten herein bewerkstelligte, ausgehend von ‘Götterdämmerung’, seinerzeit noch ‘Siegfrieds Tod’ benannt, sich über den ‘Jungen Siegfried’, die ‘Bestrafung der Walküre’ zum ‘Raub des Rheingolds’ vorarbeitete und diese Konzeption in seinen eigenen Texten/Gedichten verarbeitete. Die Komposition begann er dann mit dem ‘Rheingold’ von vorne.

Die Abstraktionskraft auch in der Walküre drückt sich wieder in erster Linie im Bühnenbild aus, die als Klammer für die gesamte Ring-Konzeption erscheint. Dabei wird hier auf einen Filmstil zurückgegriffen, der sich noch in der Stummfilmära und besonders mit dem Monumantalfilm Metropolis von Fritz Lang herausgebildet hat. Die nächtliche riesige Stadt, über der Wotan am Anfang des 2.Aktes thront, ist zwar eine moderne Projektion, aber andrerseits keiner heute real existierenden Stadt einfach zuzuordnen. Dagegen könnte Hundings Behausung gerade aus einem unterirdischen Gemäuer dieser “Metropolis” entstammen. Mit der Todesverkündigung Brünnhildes beginnt dann ein Filmdreh in Hollywood, bei dem Brünnhilde als Regisseurin auftritt, und bei dem Siegmund und Sieglinde als d a s klassische Liebespaar in weiß auftreten. Es wird in den weiten Wildwest-Landschaften gedreht, wobei auch Mount Rushmore nicht fehlen darf. Es fragt sich aber, ob man aus der eher nüchternen Bauhaus-Vorgabe nicht ausbricht, wenn man Anleihen auch beim kitschigen Hollywood nehmen muß. Im 3.Akt findet vielleicht eine Vereinigung der beiden Stile statt, wenn der Brünnhilde-Felsen eine streng in bunten Rechtecken strukturierte Formkonglomeration aufweist, vor dem sich aber Party-Boy lasziv räkeln und die Walküren mit Cocktails bedienen. Somit hat auch die Walküre einige nette die Ideen aufzuweisen, wenn sie auch disparat erscheinen.

Dirigent Antony Hermus bevorzugt wieder von Anbeginn eine flotte Gangart, die von der Anhaltischen Philharmonie gern aufgenommen und ausgestaltet wird. Alles klingt frisch und animiert, wobei die Musik ja am wehesten im 1.Teil bei der tragischen Wälsungenschilderung Siegmunds klingt. Da nehmen sich die die Musiker kammermusikalisch zurück.

Der Kameramann im 2.Akt, der ganz schön nah an das Geschehen rangeht, ist Kruno Vrbat. Die Kostüme von Suse Tobisch sind diesmal nicht ganz so zwingend wie in den vorhergehenden Ringteilen ausgefallen. Aber die Walküren-Truppe ist ganz phantasievoll partymäßig individuell gestilet, und Gerit Ada Hammer, Einat Ziv, Cornelia Marschall, Anne Weinkauf, Kristina Baran, Jagna Rotkiewicz, Gwendolyn Reid Kuhlmann und Constanze Wilhelm singen alle einen super Part. Ganz in schwarzer Montur und Frisur gibt Rita Kapfhammer die Fricka und singt mit tollem Mezzo so auftrumpfend, dass Wotan ganz schnell einknickt. Der Siegmund wird von Robert Künzli eher zurückhaltend und ohne großes Timbre gesungen, ist aber um gutes Spiel bemüht. Seine Sieglinde Angelina Ruzzafante ist mit stinmmlichen Mitteln im Gegensatz zu ihm geradezu gesegnet, kann jederzeit in einen hochdramatischen Modus wechseln und ist daher eine ideale Zwillingsschwester, auch wenn sie mit weißer Haube leicht matronenhaft wirkt. Der Hunding des Stephan Klemm wirkt fast zu hoch “gestimmt” und glatt für die Rolle. Auch Wotan Ulf Paulsen flüchtet sich öfter ins Nasale hat aber besonders in der Tiefe eine gute Diktion (“Als mir die Jugend verglomm…”) In den schwarz-weiß Projektionen (F.Vetter, M.Ott) soll er immer ganz furchteinflößend wirken. Brünnhilde Iordanka Derilova ist in etwas unscheinbarer 70er Jahre-Gewandiung stimmlich bestens aufgelegt und stößt nur bei den hohen Rufen an eine Grenze, was aber nicht sehr ins Gewicht fällt bei ihrer jederzeit anrührenden Gestaltung.

Dessau: Die Walküre 27.9. 2014 Premiere, der neue merker, 28.09.2014

von Andreas Hauff, der-neue-merker.de, 28.09.2014 DESSAU: DIE WALKÜRE. Premiere: 27.09.2014

Es ist ärgerlich, wenn man erst über Politik reden muss, bevor es um Kunst geht. Doch kann man die Leistung des Anhaltischen Theaters nicht würdigen, ohne den eisigen politischen Gegenwind zu erwähnen, der die ganze letzte Spielzeit aus der Landeshauptstadt Magdeburg wehte. Immerhin war der Dessauer Widerstand nicht ganz umsonst. Ich zitiere dazu die Einschätzung von Oliver Thust aus dem Theaterbrief des Theater-Freundeskreises: “Das Minimalziel ist erreicht. Das unermüdliche Streben der Theaterleitung, der Stadt Dessau-Roßlau und der Bürgerschaft hat bewirkt, dass das Kultusministerium den Vorschlag der Stadt zur Erhaltung des 4-Sparten-Theaters angenommen hat. Möglich wurde das nur durch die Solidarität der Mitarbeiter des Anhaltischen Theaters, die mit der Akzeptanz eines Teilzeitvertrags überhaupt eine Finanzierung möglich machten. Auch die Stadt Dessau-Roßlau wird deutlich mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen müssen. (…) Das Ensemble des Schauspiels und des Balletts werden um die Hälfte reduziert, das weitere Ensemble wird durch Altersabgänge und Fluktuationen abgeschmolzen. Es bleibt dringend zu mahnen, dass sich die Anerkenntnis der Arbeit der Theater und Orchester in Sachsen-Anhalt langfristig ändern muss, wenn es nicht zum Kollaps der Theaterlandschaft kommen soll.”

Zu ergänzen bleibt: Der Vertrag von Intendant André Bücker wird nicht über Sommer 2015 hinaus verlängert. Auch Generalmusikdirektor Antony Hermus wird das Anhaltische Theater verlassen, um in seine niederländische Heimat zurückzukehren. Damit ist klar: Es bleibt ihnen nur noch diese Spielzeit, um mit “Walküre” und “Rheingold” den Dessauer “Ring” fertigzuschmieden. Beim internationalen Richard-Wagner-Kongress im Mai soll er vollständig zu sehen sein.

Besonders spannend an diesem Dessauer Wagner-Projekt sind drei Aspekte: 1. versucht das Anhaltische Theater, an seinen alten Ruf als “Bayreuth des Nordens” mit entsprechender musikalischer Qualität wiederanzuknüpfen, 2. bemüht man sich in Dessau als einem der Geburtsorte der klassischen Moderne (Stichwort “Bauhaus”) um eine moderne Bühnenästhetik, und 3. spielt man den “Ring” so, wie ihn Wagner entwarf, vom Ende her. (Was nebenbei den Vorteil hat, dass endlich einmal die “Götterdämmerung” häufiger zu sehen ist als das “Rheingold”.) Interessant ist, wie sich nun auch die Inszenierung “von hinten erfindet”. War die “Götterdämmerung” geprägt von geometrischen Formen und den Hauptdarstellern als maschinenartigen Figurinen, so tauchte man im “Siegfried” in die Welt der Computerspiele ein. In der “Walküre” schält sich nun die Idee heraus, die zunehmende Inbesitznahme des Menschen durch technische Medien zu zeigen – was ja nun endlich einmal eine wirkliche Idee wäre statt eines Sammelsurium von mehr oder weniger plausiblen Regieeinfällen.

Konkret heißt das: Die Dessauer “Walküre” soll zurückführen ins Zeitalter des Films. Das gelingt allerdings André Bücker als Regisseur, seinem Bühnenbildner Jan Steigert und den für die Projektionen zuständigen Mitarbeitern Frank Vetter und Michael Ott im 1. Aufzug kaum, im 2. grandios und im 3. mittelmäßig. Zu Beginn irrt Siegmund (als Gast: Robert Künzli) in einem groß dimensionierten Computerdatenspeicher mit einem Kabelbaum in der Mitte herum. Sieglinde (Angelina Ruzzafante) arbeitet hier anscheinend als Angestellte. Getrunken wird aus Aluminiumdosen, gespeist aus zugeschweißten Plastikverpackungen. In diesem Szenario erscheint nun Hunding (als Gast: Stephan Klemm) mit seinem Schwert wie ein Zeitreisender aus dem Mittelalter, allerdings begleitet von vier schwarzgekleideten Bodyguards, die die meiste Zeit reglos herumstehen. Manchmal deutet ein altertümlicher Schwarz-weiß-Film die Kindheitserinnerungen Sieglindes und Siegmunds an, aber es ist kaum etwas zu erkennen.

Im 2. Aufzug erblicken wir Wotan (Ulf Paulsen) als Filmregisseur auf einem erhöhten Beobachtungsposten, neben sich Filmrollen und ein Filmdrehbuch, zu Füßen die Lichter von Los Angeles. Die jugendlich beschwingte, schlanke Brünnhilde (Iordanka Derilova) wird instruiert, dass der bevorstehende Zweikampf zugunsten Siegmunds ausgehen solle, doch da erscheint Fricka (Rita Kapfhammer) wie eine beleidigte Filmdiva und nötigt Wotan, sich zugunsten Hundings zu entscheiden. Mit diesem Auftrag nimmt die Walküre am Set Platz. Wir sehen dann Sieglinde und Siegmund, später auch Brünnhilde direkt auf der Bühne abgefilmt. Und während das liebende Geschwisterpaar melodramatisch in Schwarzweiß vor verschiedenen Filmkulissen erscheint, spürt man, wieviel Wagner in Hollywood steckt – oder, umgekehrt, wieviel Hollywood schon in Wagner. Pünktlich wie geplant tritt Brünnhilde in Aktion, doch je mehr Siegmund sich gegen das ihm zugedachte Schicksal wehrt, desto mehr läuft auch der geplante Film aus dem Ruder. Und erstaunlich: Indem die Kamera das Mienenspiel aller Beteiligten einfängt, desto mehr gewinnt die Auseinandersetzung an Intensität und desto mehr zerbricht das Hollywood-Klischee. Siegmund und Brünnhilde wehren sich gegen den gnadenlosen Blick der sie verfolgenden Linse, und die Wotanstochter reißt die entscheidenden Seiten aus dem Drehbuch des Vaters heraus. Doch der erscheint erst drohend auf dem Bildschirm im Hintergrund, dann in Person auf der Bühne, hält mit seinem teleskopartigen Speer Siegfrieds Schwert fest und schaltet die Kamera aus. Zuletzt lässt er sich vom Kameramann die Speicherkarte aushändigen.

Im 3. Akt feiern die einfallsreich aufgetakelten Walküren eine vergnügte Sektparty an dem treppenartig verschiebbaren schwarz-weißen Kubus, den wir schon aus der “Götterdämmerung” kennen. Die eine oder andere führt ein kleines Stoffpferd mit sich, manche auch einen Miniaturhelden. Sie bieten ein Bild fröhlicher Dekadenz, das durch das wiederkehrende “Hahahaha” in Wagners Partitur seine Plausibiltät gewinnt. In ihrer Ernsthaftigkeit und Sensibilität, aber auch in den von Kostümbildnerin Suse Tobisch bewusst gestalteten Kleidungs- und Ausstattungsnuancen hebt sich Brünnhilde deutlich gegen diese Schwestern ab. Zunächst sehen wir die Flüchtige auf dem Bildschirm in einer filmtypischen Verfolgungsjagd: Nervös fangen sich ihre Augen im Rückspiegel eines Autos, parallel zu Wotans Gesicht im Verfolgerwagen.Und während sie den Walkürenfelsen erreicht, staunt man über Ulf Paulsens reichhaltiges Repertoire an grimmiger Mimik. Später, als er nach öffentlich verkündeter Strafe doch noch mit seiner ungehorsamen Tochter ins Gespräch kommt, wird er für Momente sehr viel weicher. Der dann von Fotos der beiden dominierte Bildschirm wirkt leicht surrealistisch. Auch werden geometrische Formen projiziert wie schon in der “Götterdämmerung”. Doch die Bebilderung wirkt mehr wie eine inszenatorische Pflichtübung. Der Aufführung schadet sie nicht.

Denn spannend ist vor allem, was zwischen den Personen auf der Bühne geschieht. Und das ist – mit Ausnahme von Hundings künstlich versteiftem Wachpersonal – in Sprache und Ton, in Mimik und Gestik ganz unaufgesetzt und dermaßen subtil entwickelt, dass die langen Dialoge keinen Augenblick langweilen – mit anderen Worten: ganz dicht an Wagner. Anrührend ist schon Sieglindes und Siegmunds langsame Annäherung, witzig ist Wotans allmähliche Kapitulation vor Fricka, ergreifend das Reifen von Brünnhildes Gewissensentscheidung. Am stärksten aber fesseln die Szenen zwischen Wotan und Brünnhilde, in denen das Ungesagte spürbar wird: Wie sehr steckt in Wotans Wut auf Brünnhilde sein Zorn über die eigene Feigheit! Wie klug und wie aufopfernd ist Brünnhilde, dass sie Wotans ureigenes Projekt des freien Menschen vor dem tobenden Urheber selbst rettet! Und wie bewegend ist der versöhnliche Abschied, nachdem Wotan in der degradierten und verstoßenen Tochter sein eigenes besseres Ich erkennt!

Wagners psychologischem Scharfblick lässt sich gut folgen. Selten überdeckt das Orchester den Gesang, die Artikulation der Sänger ist – bei vorhandener Übertitelung - bemerkenswert deutlich, die Diktion sprechend. Organisch und unangestrengt (!) tragen die Stimmen die Satzmelodie – mit leichter Einschränkung bei einigen der Walküren. Die Pausen, in denen der Dialog stockt und das Orchester Verschwiegenes ausspricht, wirken unter Antony Hermus’ feinfühligem und geschmeidigen Dirigat lebendig und beredt. Immer wieder fallen sorgfältig durchgehörte und gestaltetete Details auf: Hier eine ungewöhnlich schmeichelnde Trompetenfanfare, da ein leise bohrender Orgelpunkt, dort ein ruhig ausschwingendes Solo der Bassklarinette, und all dies eingewoben in einen über drei Akte tragenden Spannungsbogen. Und immer wieder blüht in der Musik die illusorische Hoffnung auf, die üble Geschichte mit dem Ring könne doch noch zu einem guten Ende kommen.

Enthusiastisch feierte das Premierenpublikum Orchester und GMD, enthusiastisch auch die Darsteller, allen voran Paulsen und Derilova. Für das Regieteam gab es viel Beifall, für Regisseur André Bücker auch vernehmliche Buhrufe. Tatsächlich überzeugt diese “Walküre” von der Bühnenästhetik deutlich weniger als die ersten beiden Etappen des “Rings”. Die hatten allerdings bessere Voraussetzungen. Es galt nicht, nebenbei noch einen Spielplan umzustellen und ein Theater zu retten.

Dessau: Die Walküre 27.09.2014, der neue merker, 28.09.2014

von Christoph Suhre

Im Dessauer „Ring“ erzählt Regisseur André Bücker die Mediengeschichte des 20. Jhs. Wagner ging es darum, darzustellen, welchen Einfluss die Macht des Goldes auf die gesellschaftliche Entwicklung hat. Nicht weniger gefährlich ist die Macht der digitalen Welten. Sie manipulieren und verbiegen Menschen. Insofern gibt es vielfältige Parallelen zwischen Richard Wagners Mythos und der unmittelbaren Gegenwart. In der Bauhausstadt Dessau ist es geradezu hehre Pflicht, auch eine auf geometrischen Figuren basierende Formensprache zu entwickeln, die die Ästhetik der Tradition der Klassischen Moderne zum Ausdruck bringt. Große Rundhorizonte als Projektionsflächen und der gigantische, in sich drehbare Kubus bestimmen erneut den von Jan Steigert entworfenen Bühnenraum. Wer gewillt ist, in diese faszinierende Bilderwelt unvoreingenommen einzutauchen, wird vieles entdecken, was möglicherweise neu, aber zumeist logisch ist. Dass dabei Wort und Bild nicht durchweg miteinander korrespondieren, nimmt man in Kauf.

Im 1. Akt darf Siegmund immerhin ein richtiges Schwert aus dem (Kabel-)Baum ziehen. Wo dieser angesiedelt ist, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Eine Gerüstkonstruktion, Kabelgewirr, Schaltkästen… Geht man davon aus, dass Hunding Leute befehligt, könnte es eine Art Schaltzentrale im Stile eines Fernamtes sein. Hier verabreicht Sieglinde den Männern das Mahl. Dabei bedient sie sich eines Wagens, wie ihn Stewardessen im Flugzeug benutzen. Das Essen wird in Assietten verabreicht. Irgendwann steht Siegmund mit seinem Plastikbesteck da und grollt „Ein Schwert verhieß mir der Vater.“ Das sind Szenen, die erheiternd, aber nicht lächerlich wirken. Da die Mediengeschichte des 20. Jhs. erzählt werden soll, müssen permanent filmische Sequenzen eingeblendet werden. Frank Vetter und Michael Ott haben diesbezüglich Hervorragendes geleistet. Ich gebe zu, dass mich im 1. Akt die sich ständig bewegenden Bilder etwas gestört haben. Mitunter strahlt die Musik ja auch Ruhe aus, dennoch flackert ständig etwas herum. Im 2. Akt relativiert sich das allerdings. Auf seinem Hochsitz gebietet Wotan seinem Filmimperium. Im Hintergrund erscheint auf dem riesigen Rundhorizont die nächtliche Silhouette einer typischen Weltmetropole. Brünnhilde schmettert ihr „Hojotoho“ ins Handy, das sie griffbereit aus ihrer Handtasche gezogen hat. Das sind Bilder, die wir alle aus dem täglichen Leben kennen. Ein exzellentes psychologisches Kammerspiel entwickelt sich hernach zwischen Fricka und Wotan. „Wann ward es erlebt, das leiblich Geschwister sich liebten?“ Fricka kann es nicht fassen. Wotan wiegelt süffisant ab: „Heut hast du’s erlebt!“ Die Art und Weise seines Kommentars gefällt Fricka überhaupt nicht. Sie greift in die Hausbar, genehmigt sich einen Schluck und setzt zu ihrer bekannten Gardinenpredigt an. Die zeigt Wirkung. Wotan ringt nach Worten, aber Fricka setzt noch einen drauf. Nun ist guter Rat teuer. Wotan bekennt gegenüber Brünnhilde, dass ihm die Hände gebunden sind. Und nun passiert etwas ganz Spannendes. Wotan, der Regisseur, überlässt Brünnhilde den Regiestuhl. Die „Walküre“ muss nun Sieglindes und Siegmunds Not erleben. Brünnhilde zeigt Mitleid. Was jetzt abläuft, steht so nicht im Manuskript. Sie reißt die Seiten heraus, verfasst bestimmte Stellen neu und wird auf diese Weise selbst zur Protagonistin. Wann hat man die Todesverkündigung schon einmal in dieser bezwingenden Dichte erlebt?! Minutiös hält der Kameramann (Kruno Vrbat) jede Gefühlsregung im Bild fest. Konsequenter und überzeugender lassen sich Richard Wagners Regieanweisungen kaum umsetzen. Das Abschalten der laufenden Kamera genügt, um Hunding ins Jenseits zu befördern. Im 3. Bild dominiert der Kubus. Der in sich bewegende Würfel wird wie von unsichtbarer Hand geführt. Es geht glamourös zu. Die Walküren entpuppen sich als Partygirls und lassen es gehörig krachen. Wiederum ist es der Rundhorizont, der visualisiert, was passiert. Wotan verfolgt Brünnhilde. Aber ihre Rösser haben weitaus mehr Pferdestärken. Auf einem Highway liefert man sich eine verbissene Verfolgungsjagd, um schließlich abgekämpft auf der Bühne zu stehen. Was dann folgt, ist bekannt. Aber auch in den letzten Szenen gibt es keinen Spannungsabfall. Wotans Gebaren macht deutlich, wie sehr er Brünnhildes Tat erwünschte.

Während André Bückers Lesart bei Teilen des Publikums auf lautstarke Ablehnung stößt, findet die szenische Realisierung ungeteilten frenetischen Jubel. Die meisten Partien werden mit Solisten aus dem eigenen Ensemble besetzt. Iordanka Derilova ist als Brünnhilde eine Augen- und Ohrenweide. Ihren ersten Auftritt stattet sie mit übermütigem und hochdramatischem Aplomb aus. Aber das, was sie von Wotan hört, stimmt sie nachdenklich. Ruhig, aber dennoch emotional aufgewühlt, verkündet sie Siegmund, dem todgeweihten Helden, das nahe Ende. Der Sängerin, die über eine fulminante und glutvolle Stimme verfügt, ist eitle Selbstdarstellung fremd. Sie agiert im Dienst der Rolle. Leidenschaftlich bittet sie schließlich Wotan darum, sie nicht dem erstbesten Manne auszuliefern. Die Sopranistin passt sich hervorragend sowohl gesanglich als auch darstellerisch der jeweiligen Situation an. Das trifft auch auf Ulf Paulsen als Wotan zu. Man sagt, dass er nicht nur seine eigene Partie gründlich studiere, sondern auch die seiner Partner. Nur so kann er Beziehungen aufbauen. Seine breit und lang angelegte Erzählung im 2. Akt hört sich wie ein spannender Krimi an. Die Textverständlichkeit des Sängers ist mehr als beeindruckend. Mit seiner präsenten Stimme weiß er auch in den Klanggewalten zu Beginn des 3. Aktes zu bestehen. Er forciert nicht, singt kontrolliert und hat auch noch genügend Reserven, um alle Gemütswallungen des Feuerzaubers ausdrucksstark zu Gehör zu bringen. Rita Kapfhammer stellt eine resolute Fricka auf die Bühne. Obwohl sie aufgebracht ist, gibt sie mit fester und satter Stimme ihr Statement ab. Das klingt nach!

Das Zwillingspaar ist mit Angelina Ruzzafante und Robert Künzli besetzt. Frau Ruzzafante gefällt mit wunderbar aufblühenden Tönen, die das zurückgewonnene Selbstwertgefühl Sieglindes untermauern. Wenn sie bekennt, dass sie Siegmunds Schwester sei, nimmt sie endlich die Haube, unter der ihrer Locken Pracht zum Vorschein kommt, vom Kopf. Sie ist wieder Frau! Emotional aufrüttelnd sind die Momente, in denen sie wünscht, gemeinsam mit Siegmund zu sterben. Hier klingt ihre Stimme bewusst matt und fahl. Und dann der jähe Wechsel! „Rette mich, Kühne! Rette mein Kind!“ Von jetzt auf gleich gewinnt die Stimme noch einmal an unglaublicher Leuchtkraft. Souverän gestaltet Robert Künzli die Partie des Siegmund. Die Wälse-Rufe singt er ohne Kraftmeierei. Und sein „So blühe denn Wälsungen-Blut!“ lässt erahnen, dass da tatsächlich ein Held ohne Fehl und Tadel gezeugt wird. Absolut stimmig sein Agieren in der Todesverkündigung. Er kauert auf einer Art Rampe neben Sieglinde, derweil ihm Brünnhildes Gesicht auf dem Rundhorizont projiziert wird. Er kommuniziert mit ihr und hat das Publikum im Rücken. Und dennoch kommt alles über die Rampe, was wichtig ist. Phänomenal! Mit kernigem Bass und unmissverständlicher Körpersprache umreißt Stephan Klemm die Figur des Hunding. Als Walküren erlebte das Publikum Einat Ziv, Gerit Ada Hammer, Cornelia Marschall, Anne Weinkauf, Kristina Baran, Jagna Rotkiewicz, Gwendolyn Reid Kuhlmann und Constanze Wilhelm. In ihrem auffälligen Outfit (Kostüme: Suse Tobisch) ähnelten sie eher durchgeknallten Partygirls als Heldenmädchen. Sie taugen nicht dafür, tote Helden nach Walhall zu beordern. Ihnen sind lebendige Boys im Matrosenanzug lieber. Wie auch immer – die Szene erheiterte, zumal die Solistinnen durch ihren Gesang und ihr Spiel das Publikum für sich gewinnen konnten. Bereits vor Beginn eines jeden neuen Aktes brach das Publikum in Jubel aus, als der Dirigent Antony Hermes ans Pult trat und die Musiker bat, sich zu erheben. Ihr engagiertes Musizieren vermochte durchweg die Gefühlsintensität der Szene in entsprechende Töne zu fassen. Hermes leitete sein Orchester souverän, er war den Sängern ein höchst verlässlicher Partner und kostete die Partitur mit all ihren Facetten intensiv aus. Das überschäumende Temperament des Walkürenrittes, die leuchtende Pracht des Feuerzaubers, aber auch die Momente der beseelten Innigkeit und des schicksalhaften Sinnierens kamen dabei eindrucksvoll zum Tragen.

Man darf auf „Das Rheingold“, das im Januar 2015 Premiere hat, gespannt sein. Schon jetzt ist sicher, dass dieser „Ring“ Dessauer Operngeschichte schreiben wird!

operapoint.com, 07.10.2014

von Oliver Hohlbach

Kurzinhalt Der verfolgte Wälsung Siegmund findet bei der verlorengeglaubten Zwillingsschwester Sieglinde Zuflucht und zeugt Siegfried. Fricka verlangt Sühne für Ehebruch und Blutschande. Durch die eigenen Gesetze gebunden, muß Wotan Siegmund opfern. Todgeweiht will Siegmund die Schwester lieber töten, als ungeschützt zurückzulassen. Da beschließt Brünnhilde, entgegen Wotans Befehl, die Wälsungen zu retten, doch Wotan bewirkt Siegmunds Tod. Brünnhilde flieht zunächst mit Sieglinde vor Wotan, aber Wotan bestraft Brünnhilde und bettet sie in einen Feuerring, aus dem nur ein Held sie erretten kann.

Aufführung Die opulenten Bühnenbilder von Jan Steigert übernehmen die Formensprache der bisherigen Ringteile. So finden sich zwei halbkreisförmige Projektionswände, die sich rings um die Bühnenmitte herum anordnen lassen. Auf diese Flächen lassen sich Personen, Vorgänge oder Landschaften wie die Köpfe am Mount Rushmore abbilden. Hundings Hütte ist ein Balkenturm in dem ein überdimensionales in allen Regenbogenfarben leuchtendes Glasfaserkabel hängt – aus dem Siegmund das Schwert zieht. Walhall befindet sich hoch über dem Lichtermeer von Los Angeles. Der Walkürenfelsen ist wie im Siegfried ein riesiger Rubik-Würfel (Zauberwürfel) der sich in allen horizontalen Ebenen auffächern läßt. Der Walkürenritt ist eine Cocktailparty für verzogene Töchter der höheren Gesellschaft.

Sänger und Orchester Die Besetzung in Dessau (ein Haus mit 150 Jahren Wagner-Tradition) ist festspielwürdig: Ulf Paulsen kann mit seiner hellen baritonal gefärbten Stimme als Wotan viele stimmliche Gestaltungsmöglichkeiten erkennen lassen – und verfügt über genügend Reserven, um besonders in den tiefen Lagen vollmundig zu klingen. Da wird endlich einmal deutlich, welche inneren Regungen Wotan plagen: Fast bekommt man Mitleid. Im großen Finale Wotans Abschied trifft er auf Iordanka Derilova als Brünnhilde. Ihr schwerer dramatischer Sopran gibt der Rolle Gewicht, hohe Töne trifft sie auch im Forte, selbst wenn dies nicht frei von Schärfen gerät. Im Finale klingt sie mild und weise, sie kann mit Stimm-Nuancen der Rolle Charakter verleihen. Angelina Ruzzafante hat als schwerer Koloratursopran keine Probleme mit der Gestaltung der Rolle der Sieglinde: Im ersten Akt singt sie mit Verve und Energie die resolute Frau, im zweiten Akt kann sie mit Zurückhaltung nervöse Verzweiflung glaubhaft machen. Da muß sich Robert Künzli anstrengen, um vor allem im ersten Akt als Siegmund mithalten zu können. Er hält sich merklich zurück, kann aber in den zentralen Momenten als lyrischer Tenor voll aussingen, Durchschlagskraft entwickelt er nur in wenigen Momenten, wie ein Schwert verhieß mir der Vater. Die Winterstürme gestaltet er mit warmen harmonischen, eher leiseren Tönen. Stephan Klemm trägt als bitterböser, mit sehr dunkler Tiefe ausgestatteter Hunding zu einem stimmlich hervorragend besetzten ersten Akt bei. Rita Kapfhammer verfügt über ein schier unerschöpfliches Stimmvolumen und Ton-Umfang und verleiht der durchsetzungsstarken Fricka Format. Sie wirkt wie ein Heimchen am Herd, klingt aber niemals keifig, sondern singt mit voller Durchschlagskraft aus. Eine Rollengestaltung von wahrlich göttlicher Macht, die man gerne öfters hören würde. Antony Hermus führt die Anhaltische Philharmonie ohne Probleme durch die Untiefen des Rings. Die Orchesterstücke wie der Walkürenritt haben zwar monumentale Breite, jedoch niemals hohles Pathos. Vielmehr gelingt es die Wagnerschen Klangbögen zu einem großen Ganzen zu verschweißen und die Motive auf dem Silbertablett zu servieren.

Fazit Zugegeben ein bißchen gewöhnungsbedürftig ist es schon, daß die einzelnen Ringteile in Dessau von der Götterdämmerung rückwärts (also gemäß ihrer dramaturgischen Entstehung) gezeigt werden. Dafür sind in dieser Walküre Antworten auf Fragen aus den Aufführungen Siegfried und Götterdämmerung möglich, z.B. zur Beziehung Brünnhilde-Siegfried. Das stellt Andre Bücker mit einer ausgefeilten, sehr ausdrucksstarken Personenregie dar, was von den Sängerdarstellern (selten gehört heutzutage!) auch stimmlich einfühlsam betont umgesetzt wird. Das modernistische Bühnenbild, die Überblendungen und Regieeinfälle sind Wegweiser zu weiterführenden Gedanken, denen der Zuschauer folgen kann, aber nicht muß. Wenn der Zuschauer diese ignoriert, ist es die konservativste, durchdachteste Ring-Inszenierung unserer Tage. Schade, daß überzogene Sparmaßnahmen dazu führen, daß der Ring nur zweimal als Zyklus gezeigt werden kann. Ab der kommenden Spielzeit sind nur noch kleinere Produktionen möglich. Die einhellige Begeisterung des Publikums für die herausragenden Sänger-Darsteller, Dirigent, Orchester und Regie spricht Bände.

www.nacht-gedanken.de, 29.09.2014

Eineinhalb Jahre nach der Premiere von Siegfried bringt Intendant André Bücker nun die Walküre auf die Bühne, bekanntermaßen inszeniert er den Ring ja rückwärts. Und es gelingt ihm und dem ganzen Anhaltischen Theater damit wieder ein großer Wurf. War mir bei Siegfried das vorhergehende Stück noch sehr präsent im Gedächtnis, so haperte es diesmal leider mit dem erkennen der Entwicklung etwas. Natürlich war da wieder der kubische Brünnhildenfelsen und Siegmund und Sieglindes Kostüme (Suse Tobisch) sind Vorläufer von Siegfrieds in Farbgebung und Schnitt ebenso wie bei Brünnhilde zum Beispiel. trotzdem fehlte mir ein bisschen der Zusammenhang zu den vorhergehenden Teilen, das mag aber ausschließlich an der Zeit, die dazwischen lag, gelegen haben.

Für sich genommen ist auch dieser in der Dessauer Fassung dritte Teil des Rings großartig. Regisseur Bücker inszeniert nicht nur die Ring-Teile rückwärts, sondern dreht auch die Uhr zurück. Nach dem Elektronikzeitalter von Siegfried findet man sich hier in der Hochzeit des Films wieder, als Hollywoodbosse die Welt beherrschten. Der erste Aufzug scheint auf den ersten Blick nicht viel mit dem Grundthema zu tun zu haben bis auf den Kabelstrang, aus dem Siegmund Notung zieht. Sieglinde serviert Coladosen und Fertigfraß im adretten Stewardessenkostüm auch an vermummte Hundingkämpfer (bei deren Anblick mein älterer Sitznachbar sehr scharf den Atem einsog), betäubt den Gatten und gibt sich dem Bruder in ewiger Liebe hin. Das Ganze war ein wenig nichtssagend, wurde aber durch die fabelhaften Angelina Ruzzafante und Robert Künzli als inzestuöses Geschwisterpaar ausgeglichen.

Im zweiten Aufzug geht dann die Post ab: Filmproduzent Wotan sitzt in seinem Büro mit fabelhaftem Ausblick auf eine nächtliche Großstadt und wird von seiner Frau Fricka für seine Unterstützung des ehebrecherischen Siegmund in dessen Zweikampf mit dem gehörnten Hunding zur Sau gemacht. Fabelhaft, wie Rita Kapfhammer ihren Göttergatten Ulf Paulsen einfach niedersingt, obwohl der eigentlich unglaublich stimmgewaltig ist und an diesem Abend eine seiner besten Leistungen zeigt. Er gibt Drehbuchanweisungen an Brünnhilde, Siegmund über die Klinge springen zu lassen, aber die reißt die Regie an sich und erst sein persönliches Eingreifen entscheidet den Zweikampf zugunsten Hundings. Sehr genial hier die direkte Projektion der durch einen Kameramann (Kruno Vrbat) aufgenommenen Bühne an die schon bekannten halbrunden Prospekte in wechselnde Szenen, so finden sich Siegmund und Sieglinde zum Beispiel am Mount Rushmore wieder.

Im dritten Aufzug begegnet dem Zuseher dann zum ersten Mal der kubische Brünnhildenfelsen, momentan allerdings Partylocation der aufgedonnerten Walküren und ein bisschen leckerem Personal. Brünnhilde bringt Sieglinde und das im Zweikampf zerschlagene Schwert Notung in Sicherheit, damit sie den Helden Siegfried auf die Welt bringen kann. Sonst gäbs ja keinen dritten und vierten Teil des Rings. Das war spannend und kurzweilig. Wotan ist durch Brünnhildes eigenmächtiges Handeln so erzürnt, dass er sie zur Strafe in den Felsen verbannt und sie erst wieder rauslassen will, wenn sie ein Heimchen am Herd wird. Immerhin gesteht er ihr zu, zwar keine Dornenhecke wie bei Dornröschen, aber immerhin einen Ring aus Feuer um den Felsen zu legen, damit sie nicht gleich mit dem erstbesten Schwachkopf mitgehen muss. Brünnhilde, gar nicht dumm, denkt dabei natürlich an den noch nicht mal geborenen Siegfried. Mit Altersunterschieden hatten die Nibelungen anscheinend kein Problem. Kammersängerin Iordanka Derilova zeichnete ein stimmstarkes und gleichzeitig berührendes Porträt der Brünnhilde.

Intendant und Regisseur André Bücker erzählte übrigens später, der Felsen wäre mitnichten elektronisch gesteuert, sondern darin säßen zwei Techniker, die den Kubus live drehen. Hut ab, kann man da nur sagen. Überhaupt stellt die ganze Bühne (Jan Steigert) hohe technische Anforderungen, die fantastisch gemeistert werden. Natürlich gibt es auch wieder jede Menge Projektionen (Frank Vetter, Michael Ott), die wieder sehr anstrengend fürs Auge sind. Für den Zyklus werde ich mir wohl Tropfen besorgen.

Die Anhaltische Philharmonie Dessau unter GMD Antony Hermus begeisterte das Publikum mal wieder mit einem Spitzen-Wagner. Am Ende Standing Ovations für alle Beteiligten.

zu „The Beggar´s Opera / Polly“

Peter Laudenbach, Theater heute, April 2014

Hier dirigiert der Minister

Das Anhaltische Theater Dessau widmet sich mit einer Bettleroper liebevoll einer roten Null Es kommt eher selten vor, dass Ministerialdirigenten ihre Auftritte im Theater haben. Das ist nicht nur aus ästhetischen Gründen auch besser so. In diesem Fall handelt es sich um einen Herrn im grauen Anzug, der in einer laufenden Vorstellung vom Rang aus sein Missfallen kundtut, um alsbald zügig ins Bühnenge¬schehen einzugreifen: «Ich lasse mir von Ihren politischen Sticheleien doch nicht den schönen Abend verderben.» Natürlich dient der «schöne Abend» im Anhaltischen Theater Dessau, eine Bearbeitung von John Gays «Beggar’s Opera» im Stil einer angriffslustigen Grips-Theaterrevue, nur als Startrampe für den Auftritt des grauen Herren (Sebastian Müller-Stahl), der gerne mal selbst das Orchester dirigiert («Ich bin Ihr Ministerialdirigent!»). Im machtbewussten Phrasenvokabular der Exekutive entdeckt er jede Menge Einsparpotentiale im Ensemble: «Synergie schadet nie.»

Das wäre nichts als eine platte Politikerkarikatur, wenn die Politikerkarikatur nur eine Erfindung des Regisseurs und Intendanten André Bücker wäre und Stephan Dorgerloh, dem Kultusminister des kleinen Sachsen-Anhalt, nicht so frappierend ähnlich sehen würde. Viele der besonders peinlichen Zitate musste sich Bücker nicht ausdenken. Er konnte sie einfach aus öffentlichen Äußerungen des politischen Personals der Landsregierung übernehmen. Auch der kolportierte Spitzname des SPD-Ministers Dorgerloh («Die rote Null») ist keine Erfindung des Regieteams, versichern Beteiligte. Bei der Repertoirevorstellung an einem Sonntagnachmittag sorgen die Frontalangriffe im gut gefüllten Parkett des 1.000-Plätze-Hauses zuverlässig für höhnischen Applaus. Falls das alles nicht deutlich genug sein sollte, schmückt eine Collage, auf der Dorgerloh mit Kulturdenkmälern Bowling spielt, das Programmheft.

Einfach abwickeln

Dass Bücker, seit 2009 Intendant des Vier-Sparten-Theaters, sich gar nicht erst die Mühe macht, die Form zu wahren, hat Gründe. Zum Beispiel den, dass die große Koalition, die Sachsen-Anhalt regiert, im Dezember 2013 Kürzungen der Landeszuschüsse für sein Theater um 2,8 Millionen Euro durchgewunken hat – ab dem Haushaltsjahr 2014. Planungssicherheit sieht anders aus. Weil ein Haustarifvertrag (der bedeutet, dass die Mitarbeiter 10,5 Prozent unter Tarif verdienen und so den Etat des Hauses um 1,8 Millionen Euro im Jahr entlasten) betriebsbedingte Kündigungen frühestens im Sommer 2015 wirksam werden lässt, ist ein Defizit vorprogrammiert. Den kostensparenden Haustarifvertrag würde die Landesregierung übrigens lieber nicht fortführen – auch wenn er das Theater seit Jahren arbeitsfähig hält.

Etwa 90 der 340 Stellen müssten gestrichen werden, um das vom Land gewollte Einsparvolumen umzusetzen. Allein für die Abfindungen rechnet Bücker mit Kosten von etwa 11 Millionen Euro. Der originelle Vorschlag der Landesregierung: Dessau solle einfach bis auf die Oper alle Sparten – Schauspiel, Ballett, Puppentheater – abwickeln. «Mit dem Geld, das dann noch zur Verfügung steht, 15 Millionen Euro, können wir kein Musiktheater in einem Haus unserer Größe auf dem jetzigen Niveau machen. Ein Gutachten, das eine Unternehmensberatung im Auftrag der Stadt angefertigt hat, weist nach, dass dafür der Etat nicht reicht. Wir können hier nicht fünf Mal die Woche Oper spielen. Auslastung und Eigeneinnahmen würden schrumpfen. Operette und Musical ohne Ballett – wie soll das gehen?», fragt Bücker. Und dann zählt er ein paar Erfolgszahlen auf, von einer Auslastung um die 90 Prozent bis zu 180.000 Besuchern im Jahr in einer Stadt mit 85.000 Einwohnern.

Einige Argumente der Landesregierung sind nachvollziehbar. In Dessau wie in ganz Sachsen-Anhalt schrumpft die Bevölkerung. Das Land muss sich auf die Schuldenbremse und das Auslaufen des Solidarpakts Ost vorbereiten. Aber wenn das Land sein Kulturangebot an veränderte finanzielle Rahmenbedingungen anpassen will, macht es mit den abrupten Etateingriffen und der Hektik, die alle langfristigen, vorsichtigen Transformationsprozesse blockiert und unnötig Kosten produziert, im Augenblick so ziemlich alles falsch. Dorgerloh, der im Theater vor allem Einsparpotentiale sieht und neben Dessau auch den Bühnen in Halle und Eisleben die Landeszuschüsse massiv gekürzt hat, ist übrigens stolz darauf, dass die Kulturausgaben des Landes 2014 leicht erhöht wurden – von 85,3 Millionen Euro in 2013 auf 88,9 Millionen Euro. An seinen Theatern spart Sachsen-Anhalt dagegen 7 Millionen Euro. Weil 2017 Luther-Jahr ist, gibt Dorgerloh, ein evangelischer Theologe, der vor seinem Ministerjob als Beauftragter des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands für die «Lutherdekade» zuständig war, 2014 schon mal «zum Reformations¬jubiläum» aus Steuermitteln 16 Millionen Euro aus. Auch eine Möglichkeit, Kulturpolitik misszuverstehen: Jubiläumsspektakel und Denkmalpflege statt lebendiger Kunst.

Mathias Schulze, FRIZZ Stadtmagazin, April 2014

Wenn das Theater in prekären Zeiten genau diese inszeniert: Am Anhaltischen Theater in Dessau wird derzeit in „The Beggar's Opera/ Polly“ gegeben

Die Antwort

Am Anhaltischen Theater in Dessau wird derzeit "The Beggar's Opera/Pclly" gegeben. Das hat Presseberichte aus allen Winkeln der Republik zur Folge. Warum? Hier erlebe man die Inszenierte Antwort auf die Sparpolitik im Lande. Eindrücke aus Dessau.

Eigentlich fing es an wie immer. An der Abendkasse wird die Karte abgeholt, am Stand gegenüber nimmt man die Flyer in Empfang. Und dann ab in den Saal. Hinsetzen, Publikum einschätzen - etwa ein Viertel der Plätze bleiben an diesem Abend leer - Programmheft aufschlagen. Dort wird, umrandet von einer nackten Frau, die selbstbehauptend die Hände in die Hüfte stemmt, ein historischer Vergleich angestrebt. Aus der Resolution der Künstler des Staatsschauspiels Dresden vom 6. Oktober 1989 findet man Zitate: "Wir treten aus unseren Rollen heraus. Die Situation in unserem Land zwingt uns dazu. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden."

Im Saal herrscht eine besondere Atmosphäre. Schon der Applaus am Anfang präsentiert sich als Solidaritätsbekundungen. Der Austritt aus der Rolle wird nun auf der Bühne stattfinden, der Rezensent Matthias Schmidt schreibt bei ,,nachtkritik.de": "Der Grund aber, warum hier nicht einfach eine normale Kritik zur Bettleroper steht, ist ein anderer. Es ist derselbe, aus dem die Dessauer, statt die Bettleroper zu spielen, sich selbst spielen. Sie treten aus ihren Rollen und aus dem Stück heraus, weil sie keine andere Wahl mehr haben.“

Die Ansprachen auf der Bühne werden persönlicher, die Konzentration auf ästhetische Vorgänge klappt einfach nicht, zu viel unmittelbarer Gegenwartsbezug. Eine Person spricht über sich: „Ich spiele hier Peachum. Wir sind freie Schauspieler mit Diplom.“ Früher hätte er das Theater als moralische Anstalt verstanden, heute sei es der letzte Zufluchtsort vor der Wirklichkeit.

Ein Herr im Publikum, Sebastian Müller-Stahl, wird gleich als Mr. Hopeman am Bühnengeschehen teilnehmen, ruft dazwischen: "Ich lasse mir von diesen politischen Sticheleien nicht den Abend versauen." Eine Dame sitzt zwei Plätze entfernt. Sie reagiert auf die Gags. Bei jeder Spitze in Richtung Landesregierung lacht sie auf, applaudiert zynisch. Ohne sie zu kennen, ist es zu spüren, was ihr das Haus bedeutet. Beklemmend, schon in der Ferne körperlich zu merken, dass in ihr etwas zerbricht.

Mr. Hopeman kommt auf die Bühne. Da steht er vor den zerfallenden Neubauten, vor der knallbunten Fassade. Spielautomaten, Sonnenschirme, Partylichter. Hopeman steigt über den Sterni-Bierkasten und erzählt von Strukturanpassungen, die alternativlos seien, davon, dass alle sparen müssten. Er wünsche sich etwas mehr Kreativität und Effizienz. Die anderen Personen reagieren: „Solange der hier da ist, können wir nicht spielen.“ So schnappt sich der Souffleur seinen Rucksack und schlürft über die Bühne. Hinweg, hinfort. Das Ballett latscht auch einmal quer. Der Bahnhof ist ja nicht weit vom Theater entfernt.

Vor dem Haus kann man Sätze aufschnappen. Jemand zieht an seiner Zigarette und raunt: "In Dessau ist es gerade schwierig, kritisiert man die Aufführung, dann wird man leicht als Freund der Landesregierung bezeichnet." Zwischendurch solle es kurz plumpes Kabarett gewesen sein. Manche fanden den ersten, manche den zweiten Teil besser.

Drinnen drückt die Wirtin Karin Klose mal wieder ein Auge zu. Die Soljanka kann nicht bezahlt werden, in Richtung Hopeman interveniert sie: .Wenn'se meine Schauspieler nicht in Ruhe lassen, dann komm'se mal hinter, zum Kartoffel schälen." Für den Rest gibt es eine Runde Schnaps. Kriminalität, so ist man sich plötzlich einig, ist der letzte Ausweg.

Hopeman empfiehlt ein Kulturwerkmodell: Früh Theaterpädagogik, dann eine Bauhausführung. Schon geht das gegenseitige Schlachten los. Warum kriegt die das? Und ich nicht? Die Antwort folgt sofort: "Wer schweigt, der bleibt."

Die Personen auf der Bühne erklären: "Das sollte der Vater von Polly sein, dann sollte seine Frau von links kommen. Während hinten das alte Bühnenbild steht." Oben kann man mitlesen: "Die Handlung und die handelnden Personen dieses Stückes sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit ist nicht beabsichtigt."

Im Foyer das Gästebuch. Dort stapeln sich die Eintragungen: "Wir sind mittendrin in der Tragödie. Es fehlen immer die Worte und das Herz hört nicht auf zu schlagen. Für das Theater, für Euch."

Im Programmheft steht ein Zitat von André Schröder, geäußert auf der Landtags-Pressekonferenz am 11. Dezember 2013. Man wolle nicht länger in ein krankes System investieren. Plötzlich kommt ein Chor. Er nennt sich "Wenige von Vielen". Alle gemeinsam setzen sie an, das Orchester ist in Hochform, die Armut sei ein hoher Preis für Anmut: "Wir stehen hier als wenige von vielen / Und strecken uns're leeren Hände aus. / Wir wollen gar nicht betteln, sondern spielen / Doch braucht der Mensch auch Brot, nicht nur Applaus."

Im Zug, der am späten Abend aus Dessau hinausführt, sitzt eine junge Frau und weint einsam still in die Nacht hinein. Sie hat an diesem großartigen Abend nicht teilgenommen. Der Wunsch, keine angemessene Theaterkritik zu schreiben, modelliert sich zum freien Vorsatz. "Wir stehen hier als wenige von Vielen."

Jürgen Gahre, DAS OPERNGLAS, April 2014

In Dessau weiß man sich zu wehren. Nicht nur die Musik der 1728 uraufgeführten »Beggar's Opera« von John Gay und Johann Christoph Pepusch wurde nun in einer musikalischen Neufassung von Christoph Reuter und Cristin Claas bearbeitet, sondern auch der Text, und zwar von Andreas Hillger und André Bücker. Ganz im Sinne von Gay/Pepusch und Brecht/Weill ist im Anhaltischen Theater eine bissig-satirische Fassung zur Aufführung gekommen, die mit heftiger Kritik an den sogenannten "Strukturanpassungen", die Sachsen-Anhalts Kultusminister als "Sparkeule" für das traditionsreiche Theater vorgesehen hat, wahrlich nicht spart. Wenn zu Beginn der Aufführung ein Schauspieler die prekäre Situation des Theaters beklagt, interveniert lautstark ein gewisser Mr. Hopeman (Sebastian Müller-Stahl), ein im Publikum sitzender Vertreter der Magdeburger Regierung. Er tut das mit Zitaten von Politikeräußerungen wie: "Wir wollen nicht länger in ein krankes System investieren." Diesen Mr. Hopeman lässt man schließlich im Stück mitspielen, da Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff auf die Frage, ob er denn eventuell einmal in einem Film mitwirken wolle, gesagt hatte: "Es muss aber eine angemessene Rolle sein - keine zur Selbstdarstellung. Und es muss eine positive Botschaft für unser Land darin stecken." Sogleich wird Hopeman, kaum dass er auf der Bühne ist, von Frauen verprügelt, und das von Gay/Pepusch vorgesehene Happy End wird kurzerhand umgeschrieben. Es endet bitterböse für den Ärmsten.

Dass die »Beggar's Opera« eine Fortsetzung hat, in der Polly auf der Suche nach ihrem Ehemann Macheath in der Neuen Welt ist, das ist so gut wie unbekannt. Der britische Premierminister Robert Walpole hatte die Balladenoper »Polly« seinerzeit verboten, da sie ihm, der in den Börsenkrach von 1720 verwickelt gewesen war, in ihrer Kritik an der "South Sea Bubble" zu weit ging. Mit einiger Mühe aber hatte man sich Partitur und Text zu dieser kuriosen Fortsetzung beschaffen und mit allerlei exotischem Flair präsentieren können.

André Bückers einfallsreiche Inszenierung beider Opern ist farbenfroh und detailgenau und manchmal auch recht drastisch, dem Huren- und Zuhältermilieu also durchaus angemessen. Auf einer großen Stellage spielt sich das bunte Treiben ab – da können dann auch mancherlei pikante Nebenhandlungen gezeigt werden (Bühnenbild: Jan Steigert). Die fantasiereichen Kostüme (Suse Tobisch) sind teils modern, teils aber auch der Gay/Pepusch-Zeit verpflichtet. Die Umbauten auf der Bühne nutzt Bücker für einen Blick in die Künstlerkantine. Was dort gegessen, getrunken und gesprochen wird, ist im Close-up zu sehen (Live-Kamera: David Ortmann), und da Mr. Hopeman weiterhin unverschämte Bemerkungen macht (wie etwa "Können die Schauspieler nichts Vernünftiges tun, während sie auf ihren Auftritt warten?"), kann sich das Publikum auch hier über die politischen Entscheidungsträger amüsieren. Für »Polly« haben sich Bücker/Steigert eine bizarre Wüstenlandschaft mit Bilderbuchindianern ausgedacht. Der häufige Einsatz der Drehbühne kann aber nicht wirklich darüber hinwegtäuschen, dass sich Längen einschleichen, was eben auch an der teilweise wenig ergiebigen Musik liegt.

Das Anhaltische Theater hat alle Kräfte mobilisiert, um zu zeigen, zu was es künstlerisch fähig ist: Schauspiel, Chor, Ballett und Orchester laufen zu Höchstform auf und faszinieren mit einem engagierten, überaus intelligenten Spiel. Man spielt schließlich um die eigene Existenz und schießt immer wieder und mit großer Treffsicherheit vergiftete Pfeile in Richtung Regierung. Dafür geben auch die zahlreichen Solisten ihr Bestes, allen voran die reizend freche und unwiderstehliche Polly der Jenny Langner. Ihre Handgreiflichkeiten mit ihrer Rivalin Lucy, die von Marie Ulbricht famos gesungen und gespielt wird, sind ein köstlicher Höhepunkt dieser Inszenierung. Der Streit spielt übrigens auf das berühmte Handgemenge an, das sich die Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni kurze Zeit vor der Uraufführung der »Beggar's Opera« in einer Händel-Oper geliefert hatten. Mario Klischies ist der wandlungsfähige Frauenheld Macheath (und Morano in »Polly«), Gerald Fiedler bleibt der schlitzäugigen Hintertriebenheit des Bettlerkönigs Peachum (später Ducat) nichts schuldig, und Natalie Hünig als seine Frau Mrs. Peachum (später Mrs. Ducat) ist derb und nie um ein rechtes Wort verlegen.

Daniel Carlberg dirigierte die Anhaltische Philharmonie und die Band "L`Arc Six" mit beeindruckendem Schwung und spürbarem Engagement und ließ immer wieder durchblicken, dass Kurt Weill bei dieser Neufassung Pate gestanden hat. "Wir wollen gar nicht betteln, sondern spielen. Doch braucht der Mensch auch Brot, nicht nur Applaus," heißt es im Text dieser Dessauer Version der »Beggar's Opera« von 2014. Zumindest der sehr herzliche und lange Applaus des Publikums im ausverkauften Großen Haus war an diesem Premierenabend allen Ausführenden sicher.

Ekkehard Pluta, Opernwelt, April 2014

Artists in resistance

Die Dessauer kämpfen beim Kurt Weill Fest für den Erhalt ihres Schauspiels

Über den kulturellen Kahlschlag, den die Landesregierung von Sachsen-Anhalt im vergangenen Juni beschlossen hat, ist in den letzten Monaten viel zu lesen gewesen. Dessau trifft es besonders hart: Hier sollen die Sparten Schauspiel und Ballett ganz eingespart werden.

Jetzt haben sich Intendant André Bücker und das Ensemble mit den Mitteln des Theaters gegen den Kahlschlag zur Wehr gesetzt. Das 22. Kurt Weill Fest bot dafür die ideale Plattform, auch wenn nicht die „Dreigroschenoper“ gegeben wurde, sondern die ihr zugrunde liegende „Beggar’s Opera“ von John Gay und Johann Christoph Pepusch aus dem Jahr 1728. In Abwandlung des Titels „Artists in residence“ bezeichnen sich Schauspieler und Musiker als „Artists in resistance“.

In der Dessauer Fassung ist die „Beggar’s Opera“ nur noch Aufhänger für eine kulturpolitische Demonstration. Der Dramaturg Andreas Hillger hat in die bekannte Handlung einen Ministerialdirigenten namens Hopeman eingeschleust, der die Schauspieler nachhaltig daran hindert, ihre Arbeit zu tun, mit unsachgemäßen Kommentaren, kuriosen Einsparungsvorschlägen und ungebetener Berufsberatung für die Zeit nach der Schließung: eine Collage von Originalzitaten der Politiker aus den aktuellen Debatten.

Pepuschs barocke Klänge werden konterkariert von neuzeitlichen Songs (Musik: Christoph Reuter und Cristin Claas). Mitglieder der Anhaltischen Philharmonie und die Band „L’Arc Six“ musizieren unter der animierenden Leitung von Daniel Carlberg mit- und gegeneinander. Zwischendrin gibt’s Filmaufnahmen aus der Kantine und der Herrentoilette. Macheath gibt seine Rolle an den so kunstsinnigen Hopeman ab, der dann an seiner Statt auch – symbolisch – gehängt wird. Ungewollte Ironie: Ausgerechnet die Rolle des ministerialen Widerlings war dem handwerklich souveränsten Schauspieler im Ensemble, Sebastian Müller-Stahl, anvertraut: Er ließ kein Wort seines Textes verloren gehen, während es bei den übrigen diesbezüglich Defizite gab. Doch wurden solche Schwächen kompensiert durch die Spiellaune, ja Spielwut des gesamten Ensembles, das hier buchstäblich um sein Leben zu spielen schien.

Sozusagen als „Bonus“ wird nach der Pause das Sequel „Polly“ gegeben, mit dem Gay und Pepusch an den Erfolg der „Beggar’s Opera“ anknüpfen wollten. Das Stück wurde jedoch vor der geplanten Uraufführung (1729) verboten und kam erst ein halbes Jahrhundert später auf die Bühne. Eine deutsche Bearbeitung von Peter Hacks (1965) verschwand bald in der Versenkung. Der Plot: Polly bricht in die Neue Welt auf, um ihren Ehemann Macheath zu suchen. In der Maske des Piraten Morano erkennt sie ihn nicht und verletzt ihn im Zweikampf tödlich. Die Handlung kulminiert in der Schlacht in der Schlacht im Blauwassertal zwischen Indianern, weißen Siedlern und Piraten. Das Stück enthält viel Action, manchen Leerlauf und hat letztlich wenig Erkenntniswert. Regisseur Bücker versucht die Handlung am Laufen zu halten, lässt die Drehbühne unaufhörlich rotieren, serviert aparte Choreografien und komische Kampfszenen. Es wird gesungen, was das Zeug hält. Auch hier stammt die Musik großteils von den nimmermüden Bearbeitern, deren Mittel sich aber mit der Zeit erschöpfen. Das gilt in ähnlicher Weise auch für Hillgers Texte.

Nach stattlichen vier Spielstunden gab es lang anhaltende Ovationen, die nicht nur ein Akt der Solidarität waren, denn schon die Reaktionen während der Vorstellung hatten deutlich gemacht, dass sich die Dessauer „wie Bolle“ amüsierten. Besser hätte das Schauspielensemble des Anhaltischen Theaters seine Existenzberechtigung nicht unter Beweis stellen können.

Horst Dichanz, opernnetz.de, 26.02.2014

Macheath und die Gefahr der Strukturanpassung

Auch wenn die Anhalter inzwischen mehr als sauer sind, ins Boxhorn jagen lassen sie sich nicht, und den Kopf in den Sand zu stecken oder ihn einzuziehen ist nicht ihre Sache. Und die des André Bücker, dem Intendanten des gebeulten Theaters am Friedensplatz, erst recht nicht. Mit selten erlebter Kreativität, Frechheit und Unerschrockenheit haben er, sein Theater und die Dessauer seit Bekanntwerden des Strukturplanes für die Restrukturierung der Theaterlandschaft in Sachsen Anhalt für ihr Theater gekämpft, haben mutig, öffentlich und phantasievoll ihr Theater fest gebunden, den Bürgermeister die Streitaxt schwingen lassen, Koalitionen mit anderen Häusern gesucht – und setzen jetzt noch eins drauf.

Wer sich unter den Besuchern des Kurt-Weill-Fests auf eine spannende Gegenüberstellung der Beggar´s Opera von John Gay und Johann C. Pepusch von 1728 mit der von Kurt Weill und Bertolt Brecht 1928 in Berlin uraufgeführten Fassung der Dreigroschenoper gefreut hat, wird sehr überrascht, vielleicht auch enttäuscht sein. Christoph Reuter und Cristin Claas haben die Vorlage musikalisch gründlich bearbeitet, und André Bücker hat dem Stück eine Inszenierung verpasst, die so aktuell und so schmerzend ist, dass einem häufig das Lachen im Halse stecken bleibt. Dieses Soho liegt in Sachsen-Anhalt, und diese beggars, so vermuten viele, wird man bald in Dessau und Umgebung treffen – eine fatale Parallelität.

Unter Leitung von Daniel Carlberg beginnt das kleine Orchester eine wunderschöne Ouvertüre leichter barocker Tanzmusik. Der Zuhörer macht es sich in seinem Sessel bequem und freut sich auf einen entspannten Abend. Doch die Handlung der Balladenoper kommt nicht so recht in Gang, weil sich – vor geschlossenem Vorhang – eine scharf-laute Stimme aus dem Publikum meldet und ungefragt ihre Kommentare zur Notwendigkeit, zur Nützlichkeit und vor allem zur Kosteneffizienz dieser Einrichtung Theater abgibt. Es dürfte reiner Zufall sein, dass diese Figur große Ähnlichkeit mit dem gestern anwesenden Herrn aus Magdeburg hat, dessen Name eine Protestkampagne inzwischen mit „HaselOFF“ buchstabiert.

Reuter und Claas mischen altenglische Originaltexte mit neuen Passagen, in denen sie wortwitzig und scharf die Kultursituation in Sachsen-Anhalt und besonders die des Theaters Dessau skizzieren und karikieren. Sie setzen neue Songs neben barocke Klänge, wenn sie in dem neuen Protestsong Wenige von vielen drohen „Noch lacht Ihr. Doch der Bettler lacht zuletzt.“ Der Bezug zum Original darf dabei durchaus in den Hintergrund treten. Zwar bleiben die Originalfiguren erhalten, aber eigentlich mischt sich immer wieder der aalglatte und zynische Mr Hopeman, der mit dem H vorne, in das Geschehen ein, so dass eine fortlaufende Handlung nicht zustande kommen kann. Der Spielbetrieb ist eben gestört. Auch die Beiträge von Mr und Ms Peachum, Polly und Macheath tragen kaum zur Entwicklung der Handlung bei. Immer wieder treten sie aus ihren Rollen und Gesangspartien heraus und fügen Songs im Weill-Stil ein, sie skizzieren unmissverständlich, scharf und mit viel Ironie die Kulturpolitik in Sachsen-Anhalt. Sie meistern die barock verzierten Lieder ebenso wie die flotten, eher harten Songs aus der Bettlerwelt. Gerald Fiedlers Mr Peachum führt baritonal klar durch die springende Handlung. Natalie Hünings Mrs Peachum merkt man die Bühnenerfahrung an. Mario Klischies, Bariton, als Macheath gibt seiner Figur das nötige aggressive Gewicht. Jenny Langner, Mezzosopran, präsentiert eine oft überdreht komische Polly mit gelegentlich quietschiger Tönung. Mr Hopeman, der Mann mit dem H, wird von Sebastian Müller-Stahl gespielt, als hätte er sein Rollenstudium in Magdeburg geprobt. Das eingeweihte Publikum klatscht und johlt, wenn eine bitterböse Pointe die nächste jagt. Hier nimmt sich das Theater alle Freiheit, die es beanspruchen muss, hier tobt der Narr durch die Kulissen. Dass dabei mancher auswärtiger Besucher etwas ratlos auf die Bühne schaut, ist unvermeidlich.

Jan Steigert hat eine Bühne gebaut, auf der mit wenigen Möbelstücken das Freudenhaus, die weite Prärie der Indianer, das Deck des Piratenschiffes oder eine Häuserfront der alten Plattenbauten angedeutet sind, Suse Tobisch stattet vorrangig die Darstellerinnen mit bunten Barockkostümen aus und macht aus dem Herrn mit dem H einen steifen Aktentaschen-Bürokraten, den wenigstens sein Anzug aufrecht hält. Die Ballettgruppe, vor allem für die vielen Damenrollen zuständig, wird, der Wirklichkeit knapp vorgreifend, von der Bühne in den Zuschauerraum und aus dem Theater komplimentiert, nicht ohne dass ihr ein zynisches „Good bye“ hinterher geworfen wird. Daniel Carlberg gefällt sich in roter Glitzerrobe als barocker Hofmusiker oder Barkeeper, der mit der Anhaltischen Philharmonie leichte, harmonische Barockklänge erklingen lässt und mit der Band L‘Arc Six Erinnerungen an die Dreigroschenoper-Songs wachruft. So tobt diese Beggar‘s Opera zwischen dem alten Soho und neuen Spielorten vor allem in Sachsen-Anhalt hin und her und zeigt die oft überraschenden Ähnlichkeiten, spießt Formen und Floskeln der angeblich Mächtigen auf und karikiert die Beteiligten, bis hin zum Herrn mit dem H.

Der größte Teil des Publikums ist köstlich amüsiert und applaudiert heftig für diese unerwartete, frech-bösartige und mutige Inszenierung, die völlig respektlos den „Mächtigen“ die Leviten liest. Gleichwohl muss erwähnt werden, dass einige Besucher durchaus enttäuscht sind von dieser Umdrehung der Vorlage zu aktuellen Zwecken, sie hatten sich darauf gefreut, die Gay/Pepusch-Vorlage der Dreigroschenoper kennen zu lernen. Einige ausländische Besucher sind, bei den englischen Passagen noch durch Übertitel unterstützt, bei vielen Textpassagen sprachlich und mit den internen Details schlicht überfordert, ihnen fehlt der Zugang komplett.

Die Dessauer nutzen ihre Bühne, wozu sie da ist: Gesellschaftliche Fragen und Phänomene aufzugreifen, sie kreativ und bildreich auf die Bühne zu bringen und trotzdem die Zuschauer zu unterhalten. „Wir wollen gar nicht betteln, sondern spielen“. Man braucht sie nur zu lassen und die Ampel auf Grün zu schalten.

Juliane Wünsche, livekritik.de, 25.02.2014

Wir haben gespielt, wir sind frei

Der Prolog zu „The Beggar`s opera“ hat gerade begonnen, und schon ist man drin im Stück. Das heißt, nicht im eigentlichen Stück von John Gay aus dem Jahre 1728, sondern in der Realität des Anhaltischen Theaters Dessau. Kaum spricht Bettlerkönig Peachum die ersten Sätze, unterbricht ihn Doc Hopeman mit der Mitteilung, dass das Theater in diesem Jahr 3 Millionen Euro einsparen muss. Angesichts dieser Nachricht ist an eine normale Aufführung nicht mehr zu denken, zumal Doc Hopeman als Vertreter der Landesregierung permanent nach Einsparungsmöglichkeiten sucht.

Dabei fliegen einem immer wieder Zitate um die Ohren, die man in der Debatte über die Einsparungen am Anhaltischen Theater tatsächlich von Politikern der Landesregierung hören musste. Darunter Zumutungen wie: „Es gibt Menschen, die können Krise und es gibt Menschen, die in solchen Momenten schlicht und einfach überfordert sind“, oder „Wir wollen nicht länger in ein krankes System investieren“ als Begründung für die im Dezember letzten Jahres endgültig beschlossenen Einsparungen. Die bedeuten für das Theater übrigens den Wegfall zweier kompletter Sparten, Ballett und Schauspiel. Nur Kindervorstellungen, Opern, Operetten und Konzerte soll es in Dessau zukünftig noch als Eigenproduktionen geben.

Mit Galgenhumor, Selbstironie und einer guten Portion Kampfeslust halten die Schauspieler dagegen und suchen Lösungen für das offenbar unlösbare Problem. Doch trotz des hochbrisanten Themas und der klaren politischen Ausrichtung des Stücks fühlt man sich als Zuschauer sowohl bestens unterhalten, als auch in die Diskussion auf der Bühne einbezogen. So kommentieren die Premierenzuschauer beinahe jedes Zitat und jede Erwiderung durch Klatschen oder Zwischenrufe.

Und dann gibt es Szenen, da bleibt einem das Lachen im Hals stecken, zum Beispiel wenn die von der Kürzung betroffenen Mitglieder des Balletts die Bühne betreten und daraufhin gleich wieder verabschiedet - also entlassen werden. Nicht nur Schauspieler, Musiker und Tänzern dürften sich darin wiederfinden, wenn Doc Hopeman Polly anbietet, ihr Gehalt „vormittags mit Raumpflege, nachmittags mit einer netten Führung durchs Bauhaus“ aufzubessern.

„Wir wollen gar nicht betteln, sondern spielen“ – so endet die Beggar´s Opera. Genau das zeigen die Schaupieler dann im zweiten Teil, „Polly“. Die Schauspieler verlassen ihr Theater, um ihr Glück in einem anderen Land, in Amerika, zu finden. Die Aufführung wird rasanter, bunter und wesentlich turbulenter, ohne den politischen Faden aus dem Auge zu verlieren. Selbst der Dirigent wird ins Stück einbezogen, indem er statt desTaktstocks eine Windmühle aus Flugzeugen schwenkt, ein Piratentuch trägt oder bei der großen Kampfszene zum Schluss von einem Indianerpfeil getroffen wird. Auch die Bühnentechnik, ursprünglich gebaut um Wagner-Stücke aufzuführen, wird samt Dreh- und Hebebühne komplett eingesetzt. Regisseur und Ensemble zeigen so eindrücklich was man leisten kann, wenn einem wie in Dessau alle Ressourcen zur Verfügung stehen. Noch.

„Wir haben gespielt, wir sind frei!“ lauten die letzten Worte auf der Bühne. Das kann bedeuten, wir haben gekämpft und alles getan, um die Kürzungen abzuwenden. Oder eben auch, für uns ist es hier zu Ende. Die 1.100 Zuschauer im Saal sind jedenfalls begeistert. Ganze elf Minuten lang gibt es stehende Ovationen.

Besucherfazit Tasgesaktuelles politisches Theater mit hohem Unterhaltungswert!

Martin Hatzius, neues deutschland, 25.02.2014

Rote Null am Marterpfahl »The Beggar’s Opera/Polly« in Dessau

Das Licht im Saal erlischt, der Vorhang aber bleibt geschlossen. So, wie dieser Abend in Dessau beginnt, könnte es am Anhaltischen Theater bald enden. Das Schauspiel und das Ballett des traditionsreichen Vier-Sparten-Hauses, das derzeit unter dem Motto »Was wir lieben« seine 219. Spielzeit absolviert, sollen abgeschafft werden. Das sieht der von der schwarz-roten Landesregierung abgesegnete Haushaltsplan vor. Das nennt sich in Sachsen-Anhalt »alternativlose Strukturanpassung«.

Aber hinterm Vorhang tut sich noch was. Ein Scheinwerferspot verfolgt die wandelnde Delle im Stoff, die einen Ausweg sucht. Schließlich kommt ein kräftiger Herr mit Zylinder und einem Jackett zum Vorschein, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Das muss der Bettlerkönig Peachum sein, den man aus Brecht/Weills nach einer 1728 uraufgeführten Londoner Vorlage entstandenen »Dreigroschenoper« kennt. Denn in barocken Sprachschleifen angekündigt ist hier ja »Die Auffindung und Aufführung von ›Des Bettlers Oper‹ nebst ihrer lang verschollenen Fortsetzung ›Polly‹ durch die ehrbare Schauspieltruppe des Anhaltischen Theaters zu Dessau unter reger Anteilnahme von illustren Gästen aus der Gegenwart, kurz ›The Beggar’s Opera/Polly‹ - Balladenoper von John Gay und Johann Christoph Pepusch, neu gefasst und musikalisch angereichert von Christoph Reuter und Cristin Claas, mit Texten von Andreas Hillger unter Mitarbeit von André Bücker«.

Aber nein, nicht Peachum könne er heute sein, sagt der Herr vor dem Vorhang und tritt sogleich aus seiner Rolle. Gestatten, Gerald Fiedler sein Name, Schauspieler, der diesen Beruf einst erlernt und ergriffen habe, weil er an das Theater als moralische Anstalt glaubte. Nun sei es die letzte Zuflucht der Wirklichkeit. Man könne heute nicht spielen, weil … Nein, das sage er jetzt nicht, das mache er nicht, das sei unter seiner Würde.

Und da ertönt von oben eine Stimme, erhöhnt eher, als dass sie ertönte. Sie gehört Sebastian Müller-Stahl, jenem Schauspieler, der an diesem Abend als einziger ausschließlich die Rolle spielt, die ihm die Theaterleute zugewiesen haben, einen geschniegelten Politiker mit Anzug, Brille und Bürokratenmäppchen, den »Mann vom Land«, die zur Stückvorlage hinzuerfundene Figur Mr. Hopeman: »Mein Name ist Programm; die Hoffnung stirb zuletzt - also ich.« Ob er das Geld dabei habe, will Peachum/Fiedler wissen. Nein, aber er komme direkt vom Ministerpräsidenten - Fiedler: ohhh, ein Himmelsbote - und was er dabei habe, sei der Kabinettsbeschluss über die kurzfristige Reduzierung der langfristigen Überweisung.

In diesem Mr. Hopeman haben der Dramaturg Andreas Hillger und der regieführende Generalintendant André Bücker alles gebündelt, was ihnen seit Jahren von der sogenannten Kulturpolitik um die Ohren gehauen wird, und es in einem Akt der revolutionären Verzweiflung in eine Karikatur gekippt, die sich sehen lassen kann, obgleich sie hier alles andere als gern gesehen ist. Dass sich die Wut der Truppe vor allem gegen den Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (»Reiner Wahnsinn!«) und Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) richtet, wird gar nicht erst verhohlen: »Rote Null« sei Hopemans Spitzname in Kabinettskreisen, ein Indianer aus dem Stamm der »Bullerhasen«, dessen letztes Fünkchen Leben schon in der »Schlacht von Nebra« erloschen sei.

Um Kunst machen zu können, sagt Dramaturg Hillger vor der Premiere, müssen wir diesen »Störenfried« erst mal von der Bühne bekommen. Von selber aber geht er nicht, behindert stattdessen jeden Versuch des Ensembles, seiner Arbeit nachzugehen. Hopeman spielt Schauspielerinnen gegeneinander aus, wittert allerorten Verschwendung, Müßiggang, nimmt dem Dirigenten (Daniel Carlberg) den Taktstock weg, um - Ermittlung von Einsparpotenzialen! - die Musiker im Orchestergraben zu zählen, die, derart fehlgeleitet, sofort in ohrenbetäubendes Katzengejammer verfallen.

Was sie denn überhaupt noch spielen sollten, wenn es ihnen derart an den Kragen ginge, will Fiedler wissen. Skat, schlägt Hopeman vor, dazu braucht man bloß drei Mann.

Gespielt, zum Glück, wird doch noch: »Bettlers Oper soll beginnen, wenn wir sind zu arm zum Sparen«. Weil, so heißt es, das Geld für den Bühnenumbau fehlte, gehen Peachum und Lockit, Polly und Lucy, Huren und Vagabunden ihren Geschäften in einer Plattenbau-Kulisse nach, die von der letzten Stadtrevue übrig geblieben sei, einschließlich Billig-Bierkästen, Spielautomat und Hinterhofgrill, an dem sich ein Typ im obligatorischen Trainingsanzug zu schaffen macht. Nicht zu vergessen: das einzige Spielplatzutensil in dieser »Schrumpfmetropole«: eine Reifenschaukel. An der wird Hopeman am Schluss des ersten Teils enden wie an einem Galgen. Erst zwängt das Volk ihn in die Lederklamotten des Oberganoven Macheath - der im Originalstück nur deshalb nicht gehängt wird, weil ein reitender Bote das in letzter Sekunde verhindert - aus Rücksicht vor dem Publikum. Als solch ein Bote hätte Hopeman ja in Dessau in Erscheinung treten können. Da er das nicht tut, wird der rettende Reiter gestrichen - und die Kulturpolitik ans Schafott ausgeliefert.

Einen Moment lang denkt man wirklich, sie würden ihn hängen. Aber dann knebeln sie ihn »nur«, fesseln ihn mit dicht an den Körper gepresster Frischhaltefolie an die Schaukel, verurteilen ihn so dazu, stummer (!) Zeuge von Teil zwei zu werden.

Und in diesem Teil nun, der Inszenierung von Gay/Pepuschs seinerzeit sofort zensierter Nachfolge-Oper »Polly«, zeigt das Ensemble endlich, was es drauf hat, wenn man es lässt. Gefeiert wird ein farbenfrohes, bis zum Überborden spielfreudiges Fest der Gaukler in einer fantasiestrotzenden Neue-Welt-Kulisse aus Wild-West-Bordell, Prärie und hoher See mit Heerscharen von Huren, Piraten, Indianern und Siedlern. Das Theater fährt alles auf, was es hat; das größte Spektakel seit drei Jahrzehnten. Tolle Schauspieler, deren jeder einzelne Name hier die Nennung verdient hätte, was nur aus Platzgründen und unter Verweis auf die komplette Personalliste des Theaters unterbleibt; das in Teil eins bereits in Zivil und unter Flüchen aus dem Saal gejagte Ballett in wahnwitzig weltentrückten Kostümen; ja selbst der Souffleur und die urwüchsige Kantinenfrau. Ein spielwütiger Ausweis dessen, was Theater sein kann, ist das. Ein sprachwitzgespicktes, potpourrimusikalisches, tragikomisches, hochprofessionelles Sprengwerk. Ein existenzieller Klamauk! Mit einem Schlusschor, der inbrünstig singt: »Es ist genug für alle da, ihr müsst es euch nur packen!« Mit einem Abspann auf dem Übertitelmonitor, der jeden nennt, der zu diesem Gelingen beigetragen hat - unter der Überschrift »Artists in Resistance« - Künstler im Widerstand. Standing Ovations. Minutenlang.

Und Hopeman? Muss dieser Leistungsschau eines selbstverwalteten (allerdings nicht selbst zu finanzierenden) Kulturbetriebs tatenlos zusehen. Woher soll er das Geld denn nehmen, wenn nicht stehlen? Oh, da weiß die Truppe Rat: der Ausbau der A 14, eine U-Bahn für Magdeburg, steigende Bezüge für eine Verwaltung, die nichts mehr zu verwalten hat - gäbe es da nicht »Einsparpotenziale«? Kultur in einer Region am Leben zu halten, aus der es viele wegzieht und in der nur noch bleibt, »wer nicht mehr gehen kann« - das ist eine Aufgabe, die man nicht abwehren darf, der man sich hingeben muss mit Geist und Geld. Dass es sich lohnen würde, beweist dieser Abend! Und andernfalls? Das Theater ist nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt. Eine der wenigen »Sehenswürdigkeiten« zwischen da nach dort ist ein Schild, das den Weg zum »Historischen Arbeitsamt« weist.

Weitere Vorstellungen (hoffentlich): 2. und 15.3., 11.4., 3. und 18.5., 6.6.

Helmut Rohm, Volksstimme, 24.02.2014

Gefeierte Premiere zum Kurt-Weill-Fest für “The Beggar´s Opera/Polly” am Anhaltischen Theater

Satirisches Spiel um den Frust am Theater

Mit Ovationen gefeiert wurde am Sonnabendabend die ausverkaufte Premiere von “The Beggar`s Opera/Polly” am Anhaltischen Theater Dessau. Wie schon in den Originalen praktiziert, greift Regisseur André Bücker in seiner Fassung Aktuelles kritisch auf.

“Wir wollten gar nicht betteln, sondern spielen. Doch braucht der Mensch auch Brot, nicht nur Applaus… Mit uns ist Kunst zu machen, mit Euch kein Staat”, heißt es in dem während der Protestaktionen der vergangenen Monate zur Hymne gewordenen Lied “Wenige von vielen” gegen die kulturellen Kürzungspläne der Landesregierung.

Betroffen ist davon das Anhaltische Theater Dessau. Hier bekommt die Inszenierung der 1728 uraufgeführten “The Beggar`s Opera” von John Gay und Christoph Pepusch zusammen mit der damals zunächst verbotenen Fortsetzung “Polly” als Beitrag zum Kurt-Weill-Fest eine besondere Brisanz.

Regisseur André Bücker erzählt die Originale, aus denen auch das Lied stammt, jedoch in einer ganz speziellen Dessauer Fassung. Ungemein zeitkritisch und höchst aktuell, dabei aber auch persiflierend, satirisch und parodistisch - ebenso wie damals gesellschaftliche Zustände entlarvend und schonungslos anklagend.

Das Dessauer Schauspielensemble möchte “The Beggar`s Opera” aufführen, die die Story vom Bettlerkönig Peachum und dessen Tochter Polly erzählt. Sie hat den Wegelagerer Macheath aus dem Gefängnis befreit und gar, gegen den Willen der Eltern, heimlich geheiratet. Spannende Geschehnisse mit Liebe und Eifersucht, Verrat und Verbrechen, Verwicklungen und Überraschungen sind zu erwarten.

Viele Passagen basieren auf Originalaussagen Sie kommen auch - doch irgendwie anders, als vom Stück her vermutet. Der Zuschauer gewöhnt sich schnell an das vom Inszenierungsteam um Regisseur André Bücker praktizierte Darstellungsprinzip: Wechsel zwischen Dessauer Theater- und Stadt-Realität sowie Theaterspiel auf der Bühne und auch deren Verschmelzung. Alles spielt sich vor einer Plattenbau-Fassade ab.

Es wird sowohl mit Klarnamen der Schauspieler als auch alternierend mit denen der Rollenfiguren agiert. Klare Ansagen auch bei der Benennung der angstmachenden Zustände. Für den Theater-Gegenpart haben die Dessauer die Figur Mr. Hopeman “erfunden”. In ihm spiegeln sich konkrete Personen, deren Ansichten und “Argumente”. Es ist beklemmend, wenn Hopeman, der “Mann vom Lande” für “das Grobe”, seine von Zynismus geprägten Vorschläge ausposaunt, wie “tagsüber betteln gehen und abends ein bisschen Theater spielen”, oder hochnäsig “mehr Effizienz und Kreativität” einfordert. Viele Passagen basieren auf Originalaussagen Verantwortlicher bei Land und Kommune.

In “Polly” nach der Pause bieten die Dessauer Theatermacher dem Publikum einen farbenfrohen Kostümrausch, “schiffbrüchige Mädchen”, Piraten und Indianer und personenreiche Aktionen…

Der vierstündige Theaterabend lebt vom Zusammenwirken vieler derzeitiger Dessauer Theaterbereiche. Da ist es schon sehr bedrückend, wenn das bis dahin toll mitwirkende Ballett durch den Seitengang “entsorgt” wird.

Mit bewundernswertem Einsatz präsentiert das ebenfalls zur Abwicklung vorgesehene Schauspielensemble seine künstlerische Qualität in bester Verschmelzung von prallem Spiel und gekonntem Gesang. In “Polly” wandern die Schauspieler in eine neue Welt aus…

Im stimmigen Outfit dirigiert Daniel Carlberg ein Barockorchester der Anhaltischen Philharmonie und die Band “l´arc six”. Christoph Reuter und Cristin Claas komponierten moderne Musik im reizvollen Kontrast zu Pepusch.

Joachim Lange, Mitteldeutsche Zeitung, 24.02.2014

Kurt Weill Fest - Rebellion auf der Bühne: die Inszenierung der “Beggar`s Opera” ist ein bunt-schriller Kommentar zur Sparpolitik in der Kultur Sachsen-Anhalts

Die Wut der Verzweiflung

“The Beggar’s Opera” von John Gay und Johann Christoph Pepusch aus dem Jahre 1728 passt allein schon deshalb ins Programm des Kurt-Weill-Festes, weil sie genau 200 Jahre später für Kurt Weill und Bertolt Brecht die Vorlage für ihre “Dreigroschenoper” lieferte. Womit die beiden einen noch größeren Erfolg hatten als ihre Vorgänger. Eine Bettler-Oper passt in diesen Tage viel besser nach Dessau, als man sich das je hätte träumen lassen. Heutzutage müssen sich Schauspieler nicht nur die beliebte (aber nicht ganz ernst gemeinte) Frage gefallen lassen, was sie eigentlich am Vormittag machen, sondern auch die todernst Gemeinte, wozu sie überhaupt nötig sind. Wie man aus der zweihundert Jahre alten Vorlage über den Bettlerkönig Peachum und sein Gewerbe, die Tochter Polly (Jenny Langner) und ihren Macheath (Mario Klischies), dessen Auslieferung an die Justiz zwecks Gelderwerb und seine Errettung durch den reitenden Boten des Königs einen Welterfolg mit moralischen Erkenntnisnährwert machen kann, das haben Brecht und Weill vorgeführt.

Wie man daraus ein höchst aktuelles “heute-show”-Theater machen kann, das ist jetzt in Dessau zu erleben. Irgendwo zwischen barockem Ausgrabungscharme und Musical-und-Song-Schmiss (mit passgenauen musikalischen “Anreicherungen” von Christoph Reuter und Cristin Claas), aktueller Überlebenskampf-Satire und überdrehtem Bühnenblödsinn gibt’s also die aufgemöbelte Balladenoper “durch die ehrbare Schauspieltruppe des Anhaltischen Theaters zu Dessau”. Und nach der Pause die ausgebuddelte (seinerzeit durch Verbot geadelte) Fortsetzung “Polly” als Ausflug des Stück-Personals in die Neue Welt.

André Bücker, der ebenso furchtlose wie fantasiereiche Intendant eines Hauses am Abgrund, zeigt sich als Regisseur beflügelt und zieht seine Schauspielertruppe fantastisch mit. Komödiantisches Tempo kommt zum virtuosen Wechsel zwischen adaptierten barocken Musiknummern, ausgestelltem Volks- und Moritatentheater und dem Aus-der-Rolle-ins-Leben-fallen. Wobei niemand die Wut der Verzweiflung, wie sie eben herrscht, wenn die Magdeburger Turmuhr zwölfe schlägt, unterdrückt. Das wirkt alles ziemlich authentisch. Auch der Wechsel zwischen der runtergekommenen Plattenkulisse und dem Wildwestcharme, den Jan Siegert als Bühne beisteuert und die den Fundus ausschöpfenden Kostüme von Suse Tobisch ihren Teil beitragen.

Wenn die Balletttruppe von Tomasz Kajdanski dann mit zynischer Freundlichkeit von der Bühne und aus dem Theater komplementiert und jeder aus der internationalen Truppe ein “Good bye” in seiner Muttersprache hinterhergeschickt bekommt, dann bleibt den Zuschauern das Lachen im Halse stecken. Alles fängt links und rechts neben dem Laufsteg über dem Orchestergraben - wo sich unter Leitung eines Daniel Carlberg im roten Glitzer-Jackett Mitglieder der Anhaltischen Philharmonie und der Band “L”Arc Six” versammelt haben - ziemlich nobel barock klingend an. Dann tritt Gerald Fiedler als Peachum vor den Vorhang - und fällt aus der Rolle des Bettlerkönigs in die des Schauspielers, der es satt hat, zu betteln.

Als er die verbale Kavallerie Richtung Magdeburg losschickt, dauert es nicht lange, bis einer dazwischen geht: Mr. Hopeman. Mit jener ökonomisch getarnten Obrigkeitsattitüde, die der herrschende kulturpolitische Kammerton im Lande ist. Mr. Hopeman heißt Sebastian Müller-Stahl im Stück übers Stück. Der Name - wohl in Anspielung auf den Magdeburger Kulturstaatssekretär Jan Hofmann - ist ein Euphemismus: Hoffnungsmann. Seine Texte kennt man aus Ministermündern: “Mit so etwas werden unsere sauer verdienten Steuern verschleudert”, sagt Hopeman zur Arbeit der Künstler. Die wiederum nennen ihn die “rote Null” vom “Stamm der Bullerhasen” - eine Verballhornung des Namens von Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD).

Es geht schon sehr deutlich zu, wenn Peachum, Polly, Macheath und alle anderen gegen den Quark des Mr. Hopeman, respektive die Dessauer Schauspieler gegen das Magdeburger Kulturinfarkt-Kauderwelsch vom Leder ziehen. Aber wann und wo, wenn nicht jetzt und hier in Dessau sollten sie das tun? Verboten wird ja gottlob nix. Nur halt nicht mehr mitfinanziert. Der Beifall des Publikums hat in Dessau seit einiger Zeit immer etwas von einer Solidaritätsbekundung.

Dimo Rieß, Leipziger Volkszeitung, 24. Februar 2014

Kunst als Notwehr

Das Anhaltische Theater Dessau stülpt “The Beggar`s Opera” über die Magdeburger Kulturpolitik

Im Rahmen des Kurt-Weill-Fests zeigte das Anhaltische Theater Dessau am Samstagabend seine Version von John Gays „The Beggar’s Opera“. Der 286 Jahre alte Stoff verwandelte sich auf der Bühne in einen unverhohlenen Protest gegen die Beschlüsse Sachsen-Anhalts, den Theatern des Landes die Zuschüsse deutlich zu kürzen.

Zwischen Kabarett und komischem Kostüm-Singspiel variiert die Dessauer Premiere der „Beggar’s Opera” und deren Nachfolger „Polly”. Schon im Original als satirische Werke angelegt, weshalb die damalige Obrigkeit in London „Polly“ noch vor der Uraufführung verbot. Zensur nun musste das Anhaltische Theater nicht befürchten. Die Landesregierung geht gründlicher vor, jüngste Beschlüsse sehen gleich die komplette Streichung von Schauspiel und Ballett des Vierspartenhauses vor. Und die bislang im Theater ausgestellte Chronologie des kreativen Protests verschwand im Sinne eines ungestörten Kurt-Weill-Fests, bei dessen Eröffnung sich am Freitag die Minister sonnten. Den Protest gegen das Kulturverständnis der Landesregierung, eine der größten Inszenierungen des Schauspiels mit über 60 Mitwirkenden und tragenden Musiken von Christoph Reuter und Cristin Claas, reicht dann die Premiere am Samstag nach. Kunst als Notwehr. Und dennoch überraschend leichtfüßig.

Vor seine „Beggar’s Opera“, aus der sich Bertolt Brecht und Kurt Weill zwei Jahrhunderte später für ihre „Dreigroschenoper” bedienten, stellte John Gay einst einen Quasi-Prolog. Die Dessauer Version unter der Regie des Intendanten André Bücker schickt ihrerseits einen Schauspieler (Gerald Fiedler) vorab auf die Bühne, um sich einen beherzten Schlagabtausch mit einem Herrn im grauen Anzug aus dem Publikum zu liefern, die einzige dazuerfundene Hauptfigur. Hopeman ist unschwer als Vertreter der Magdeburger Landesregierung erkennbar, der die „kurzfristige Reduzierung der langfristigen Überweisungen” verkündet. Was man nach allen Einsparungen mit dem Restpersonal überhaupt noch spielen könne, fragt Fiedler. „Vielleicht Skat”, sagt Hopeman (Sebastian Müller-Stahl als stocksteifer Bürokrat), „da braucht man nur drei”. Wer geglaubt hat, die Politikerschelte erschöpfe sich im Prolog, liegt falsch. Der Vorhang hebt sich und das Theater verwandelt sich in musikalisches Kabarett in eigener Sache. Kunst gegen Politik, Schauspieler gegen die Landesregierung. Das Feindbild ist klar. Die Worte sind es auch. „Haseloff und Bullerjahn, kleiner Geist im Größenwahn“, singt Gerald Fiedler in der Rolle des Peachum, einer der herausragenden Akteure im insgesamt überzeugenden Ensemble.

Wobei Rollen, auf diesem Kunstgriff baut die erste Hälfte des rund dreieinhalbstündigen Abends auf, nur dazu da sind, abgestreift zu werden, um die aktuelle Situation zu diskutieren. Hopeman nämlich schlendert über die Bühne, mischt sich ein, torpediert das Spiel. Die Rahmenhandlung um den Verbrecher Macheath (Mario Klischies), der am Galgen baumeln soll und von seiner Frau Polly (Jenny Langner) und seiner Geliebten Lucy (Marie Ulbricht) gewarnt wird, erstarrt. Das Team um Bücker lässt das Publikum zusehen, wie Politik Theater verhindert.

Das verströmt in seiner Eindeutigkeit phasenweise den Geist einer Abiturientenaufführung, die mit den Lehrern abrechnet. Ist das Feindbild Konsens, fallen Pointen leicht. Und ja, mit den Mitteln des Theaters ließe sich subtiler arbeiten. Doch nach monatelangem kreativen Protest und tauben Ohren in Magdeburg, ist die künstlerische Reaktion nachvollziehbar. Und das Konzept in seiner Konsequenz durchaus schlüssig. Manchmal bietet die Wirklichkeit eben die beste Satire, verlangt nicht viel künstlerische Justierung. Wenn Hopeman Dirigent Daniel Carlberg verdrängt und die Musiker der Anhaltischen Philharmonie und der Band L`Arc Six im Orchestergraben in die Disharmonie treibt, stellt sich heraus: Er hat nur die Musiker gezählt, um Einsparpotenziale auszuloten. Wenn das Spiel eckig und ungelenk wird. versteckt sich dahinter die Anspielung auf die Sparte Puppenspiel - die immerhin soll im Haus erhalten bleiben. Entlassungen werden über Casting-Shows getroffen. Live-Video folgt Hopeman und Macheath ans Urinal: Hier wird anspielungsreich verhandelt, geschachert. Und was in den Texten von Dramaturg Andreas Hilger bisweilen plattitüdenhaft erscheint, stellt sich manchmal als Originalzitat der Landespolitiker heraus. Das alles findet statt vor einer Plattenbau-Kulisse (Bühne: Jan Steigert), die mehr ist, als nur das passende Ambiente für eine Oper der Bettler: Denn was bleibt, wenn das Theater geht, sind Satellitenschüsseln am Beton. Im obersten Stock, hinter halb zugezogener Gardine, strahlt ein Fernseher ins Nichts.

Die zweite Hälfte zeigt, was sein kann, wenn man Schauspieler spielen lässt: Die einst verbotene, dann verschollene Fortsetzung „Polly” geht als federleichte, spielfreudige komische Oper über die Bühne. Indianer treffen auf Piraten und weiße Siedler. List auf Ehrenwort und Polly mit der Klinge auf ihren Mann, der sich in Morano verwandelt hat. In der Wüste knallt ein (Pleite-)Geier gegen die Kulisse. Und Hopeman sitzt geknebelt daneben. Morano will am Ende anders als von der Originalhandlung vorgesehen doch nicht sterben - würde schließlich nur den Zielen der Politik in die Hände spielen. Und den Schlussrefrain („Alles nur Theater, Vorhang zu und alle Fragen offen”) darf sogar Hopeman mitsingen. Ein großer Spaß. Rund zehn Minuten stehender Applaus. Aber wenig Hoffnung. Auch wenn in roter Schrift über der Bühne die Parole zu lesen ist; „Artists in Resistance” - Künstler im Widerstand.

Carla Hanus, Mitteldeutsche Zeitung, 24.02.2014

Politisches statt Politiktheater

Die Zuschauer im ausverkauften Theater haben sich von ihren Plätzen erhoben. Ihr Beifall hält an, zehn Minuten, zwölf, noch immer ertönen Bravo-Rufe, nur wenige Besucher haben den Rang da schon verlassen. Viele andere applaudieren weiter. 14 Minuten. Erst jetzt leeren sich die Reihen. - Das Publikum, es hat gezeigt, dass es dieses Schauspiel und dieses Ballett, dass es das Anhaltische Theater in seiner bisherigen Struktur auch weiterhin will. - Wie es das schon bei anderen Premieren und Vorstellungen in den vergangenen Wochen und Monaten auch getan hat. Ja, aber diesmal hat es diesen Wunsch besonders bekräftigt. In seiner Inszenierung “The Beggar’s Opera/Polly” hat Generalintendant André Bücker die aktuelle Situation des Viersparten-Ensembles aufgegriffen, die durch die Mittelkürzungen des Landes entsteht und die die Zukunft von Schauspiel und Ballett in diesem Haus in Frage stellt. Da geht es um den fehlenden Theatervertrag ebenso wie um die Konzeptionslosigkeit der Landesregierung im Kulturbereich insgesamt, da wird gezeigt, welche Folgen die Kürzung der Landesförderung um drei Millionen Euro für die Darsteller hat, da werden Zitate vom Ministerpräsidenten und dem Kultusminister ebenso in den Text eingebaut wie von Landtagsabgeordneten, die so zynisch klingen, dass es der gallebittere Humor ist, der das Publikum trotzdem lachen lässt. Und immer wieder gibt es Zwischenapplaus, so für “Haseloff und Bullerjahn, kleiner Geist im Größenwahn”. “Politisches Kabarett”, sagt Grünen-Landtagsabgeordnete Conny Lüddemann in der Pause. Und Wulf Gallert, Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Landtag von Sachsen-Anhalt, äußert sich später: “Es gibt es noch, das politische Theater.” Was er wie die Grünen-Bundestagsabgeordnete Steffi Lemke mit dem fast viertelstündigen Beifall am Premierenabend honorierte. Was aber nicht auf ungeteilte Zustimmung im Publikum stößt. Schon in der Pause wird heftig diskutiert, geht es um Fragen wie Darf “The beggar’s opera” so aktualisiert werden? Sollte ein Stück so zur Selbstdarstellung des Theaters werden? Und ist das passend zum Auftakt des Kurt-Weill-Festes? Ja, das ist die einzige Möglichkeit, die noch bleibt, geben die einen Bücker und seinen Mitstreitern recht. Denn in einer solchen Breite mit dem Schauspielensemble ein Publikum zu erreichen, diese Chance bietet sich nun einmal mit einer Premiere während des Weill-Festes. Zumal, wenn der Termin ins Auftaktwochenende eingebettet ist. So gehört auch Eduard Prinz von Anhalt zu den Gästen, die stehend applaudieren. Und außerdem sei das Stück ja auch in seiner Entstehungszeit hochpolitisch gewesen. Die Aktualisierung sei zu spezifisch, entgegnen andere. Vor allem Gäste von außerhalb, die schon zum traditionellen Weill-Fest-Publikum gehören, hören die Anspielungen zwar, wissen diese aber nicht zu- beziehungsweise einzuordnen. Ihre Erwartungen waren andere. Nun sind sie enttäuscht. Die Grundidee kommt nicht an, das Spiel ebenfalls nicht. Tatsächlich bleiben nicht alle Besucher bis zum Ende der Vorstellung. Eine kleine Ahnung vermittelt allerdings schon das Festspiel-Magazin zum Weill-Festival. Unter anderem ist da zu lesen: “Und weil die Beggar’s Opera schon in ihrer Urfassung auch als Satire auf das Theater und seine Situation gemeint war, wird es natürlich auch um die aktuelle Lage unseres Landes und unserer Stadt gehen.” Wobei die fast tagesaktuellen Bezüge in den Texten der Schauspieler den Schluss zulassen, dass beim Druck dieser Broschüre an den Sätzen der Dessauer Bühnenfassung (Andreas Hillger) noch gefeilt wurde. Auch in der Weill-Gesellschaft, Intendant und Präsident besuchten an dem Abend andere Veranstaltungen, selbst gehen die Meinungen auseinander. Von “das verschreckt das Publikum” bis “genau das ist Weill” reicht das Spektrum. Der Dessauer Künstler Olaf Rammelt geht davon aus, dass “Beggar’s Opera” ein “überregional wahrzunehmender Erfolg” wird. Er befürchtet jedoch, dass es schon zu spät sein könnte.

Petra Buch/dpa - www.ruhrnachrichten.de, 23.02.2014

«The Beggar’s Opera»: Kritik an Theater-Sparpolitik

Rebellion auf der Bühne: Das Anhaltische Theater Dessau hat mit dem Stück «The Beggar’s Opera (Des Bettlers Oper)/Polly» die Rotstiftpolitik in der Kultur angeprangert.

Das Haus mit rund 1000 Plätzen war am Samstag zur Premiere ausverkauft. «Reiner Wahnsinn» heißt es in der Inszenierung von Generalintendant André Bücker - zur Lage von Bühnen und Orchestern und wohl auch in Anspielung auf den Namen von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Das Stück wurde im Rahmen des 22. Kurt-Weill-Festes (bis 9. März) erstmals gezeigt.

In Sachsen-Anhalt gibt es seit Monaten Proteste von Theaterschaffenden gegen den Sparkurs des Landes. 2013 hatte das Land die Bühnen mit 36 Millionen Euro unterstützt, künftig sollen es rund 30 Millionen Euro im Jahr sein. Das Dessauer Theater gehört nach eigenen Angaben zu den ältesten in Deutschland, bundesweit bekannt ist es etwa wegen seiner Wagner-Tradition.

Anfangs zeichnet Bücker im Stück ein düsteres Bild von Sachsen-Anhalt, wo «Leute wegrennen» - oder im tristen Plattenbau im Jogginganzug leben. «Wir alle müssen sparen, da fangen wir bei ihnen gleich an. Die drei Millionen Euro weniger, das wird sie schon nicht umbringen», sagt Mr. Hopeman (Sebastian Müller-Stahl), als er auf die Bühne tritt. Der Mann im grauen Anzug wird von einer aufgebrachten Menge an Schauspielern und Tänzern um den Bettler (Gerald Fiedler) auch die «rote Null» - «vom Stamm der Bullerhasen» genannt. In Sachsen-Anhalt ist Jens Bullerjahn (SPD) Finanzminister.

Mr. Hopeman zeigt sich gnadenlos: «Mit so etwas werden unsere «sauer verdienten Steuern» verschleudert», sagt er zur Arbeit von Künstlern, oder: «Da könnt ihr demonstrieren wie ihr wollt, die Mauern des Landtages reißt ihr nicht ein».

Die 1728 in London uraufgeführte Balladenoper «Des Bettlers Oper» - von John Gay und Johann Christoph Pepusch - kritisierte die damaligen Verhältnisse und sorgte für Aufsehen. Das Nachfolgestück «Polly» wurde sogar verboten. «Als wir die «Beggar’s Opera» auf den Spielplan setzten, konnten wir noch nicht ahnen, wie aktuell dieses Stück durch die Sparpläne des Landes bei den Theatern und Orchestern werden würde», sagte Bücker.

In der Inszenierung lässt «Ministerialdirigent» Mr. Hopeman Künstler via Casting-Show um einen Job zittern. «Schauspieler, Tänzer und Musiker zeigen, wie sie sich angesichts der verheerenden Kulturpolitik des Landes fühlen», sagte Bücker. Dramaturg Andreas Hillger sagte: «Uns war es wichtig, dass mit dem Stück alle zu Gehör kommen, denn es betrifft alle.» So spielen auch eine Kantinenfrau, ein Techniker und ein Souffleur mit.

Dem Publikum gefiel die dreistündige Inszenierung. Es gab aber auch kritische Stimmen in den Reihen des Theaters wie «zu viel Agitation und Propaganda» oder «alles etwas arg übertrieben».

Das 17-tägige Kurt-Weill-Fest mit 50 Veranstaltungen zu Ehren des in Dessau geborenen deutsch-amerikanischen Komponisten (Musik für Bertolt Brechts «Die Dreigroschenoper») war am Freitag eröffnet worden. Schirmherr ist Ministerpräsident Haseloff. 2013 besuchten das Festival in Dessau-Roßlau und Umgebung laut Veranstalter rund 16 000 Menschen.

Martin Hatzius, neues deutschland, 24.02.2014

Bettler auf der Bühne

Eklat in Dessau

Das Grußwort des Ministerpräsidenten zum am Freitag eröffneten Dessauer Weill-Fest strotzt vor Plattitüden: »Liebe Musikfreunde! Seit vielen Jahren steht das Kurt-Weill-Fest für musikalische Vielfalt und künstlerische Qualität. Seine internationale Ausstrahlung ist bemerkenswert.« Im Programmheft des Anhaltischen Theaters, das am Sonnabend mit seiner Bettleropern-Premiere für einen handfesten kulturpolitischen Eklat sorgte, sind ganz andere Zitate von Reiner Haseloff (CDU) zu finden: »Nochmal: Der Sparkurs ist kein Selbstzweck. Nach den Veränderungsnotwendigkeiten werden wir in allen Bereichen eine stabile Struktur bekommen, auf die sich die Leute freuen können.«

Die Leute freuen sich aber nicht. Denn der von der Landes-GroKo gebilligte Haushaltsentwurf für 2014 beinhaltet drastische Kürzungen an den Theatern in Dessau, Eisleben und Halle. Nach den Plänen des sachsen-anhaltischen Kultusministers Stephan Dogerloh (SPD) soll das Vier-Sparten-Haus in Dessau binnen zwei Jahren sein Schauspiel und sein Ballett einbüßen.

Was nun in der Regie von Generalintendant André Bücker unter dem Titel »The Beggar’s Opera/Polly« über die Bühne ging, war ein Affront. Seinen Kampfgeist hat das Ensemble nicht nur mit dem Vagabundenvolk aus der barocken Vorlage von John Gay und Christoph Pepusch gemein. Ausdrücklich nimmt diese Inszenierung, in der die Schauspieler immer wieder aus ihren Rollen treten, auch Bezug auf den Herbst 1989. Das Programmheft zitiert die damalige Resolution der Künstler des Staatsschauspiels Dresden: »Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.«

Die hohe Herzfrequenz des Abends steigert sich in Infarktnähe, als das wegzusparende Ballettensemble mit wütenden Gesten den Saal verlässt. Und noch einmal, als die Truppe ihr Statement »Wenige von Vielen« schmettert: »Noch singen wir die alten, frommen Lieder./ Noch halten wir uns an Gesetz und Recht./ Noch sind die Bettler Bürger, brav und bieder./ Doch bluten sie, wenn Ihr sie weiter stecht./ Wer hat Euch denn, Ihr Mächtigen da oben,/ Auf Euer stolzes, hohes Ross gesetzt?/ Es kommt der Tag, wo wir den Aufstand proben./ Noch lacht Ihr. Doch der Bettler lacht zuletzt.«

Eine hinzuerfundene Figur ist der geschniegelte Mr. Hopeman. In ihr werden Politiker wie Haseloff und Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) nicht nur aufs Korn genommen, sondern mit Wortmistgabeln aufgespießt: »Haseloff und Bullerjahn - kleiner Geist im Größenwahn.« Das Landeswappen, dessen Verwendung mit dem Slogan »Wir sparen uns früher dumm« Bücker kürzlich die Androhung einer Geldstrafe einbrachte, ist auch wieder mit von der Partie, diesmal flankiert vom Spruch »Wir fallen früher um.«

Das Fest steht unter dem Motto »Weill und die Medien«. Im ausverkauften Theater sah das so aus, dass zwei Logen für Twitterer reserviert waren, die ihre aufgewühlten Kommentare live hinaus in die Welt posaunten. Ist da jemand, der den Hilferuf erhört? Stehende Ovationen, jedenfalls, gab es im Saal.

Matthias Schmidt, nachtkritik.de, 23.02.2014

The Beggar’s Opera / Polly – in der Regie des Intendanten André Bücker probt das Theater in Dessau den Aufstand

Artists in Resistance

Dessau, 22. Februar 2014. Irgendwann ist das Maß einfach voll, dann reicht’s, dann platzt jemandem der Kragen. In Dessau ist es Kantinenwirtin Karin. Als ein Vertreter der Landesregierung aus Magdeburg durch Karins Beritt schreitet, nach Sparpotential suchend und unermüdlich von einem kranken System faselnd, in das er nicht mehr investieren wolle, weshalb er leider in Dessau Ballett und Schauspiel schließen müsse, bellt sie ihn an: “Hier habe ich das Sagen, und wenn Sie nicht sofort meine Schauspieler in Ruhe lassen, dann hole ich Sie hier in die Küche, da können Sie mal Kartoffeln schälen!”

Der vorgeführte Politiker ist ein Mr. Hopeman, eine der “Bettleroper” hinzugefügte Kunstfigur, die gleichzeitig eine echte ist. Nicht nur gleicht er einem Magdeburger Kulturpolitiker wie ein Ei dem anderen, auch viele seiner Statements sind echte Politikerzitate.

Warum dies keine normale Kritik ist

Die Inszenierung, zu der Karins Wutausbruch gehört, ist eine wahrlich ungewöhnliche. Das Anhaltische Theater gibt John Gays “Bettleroper” und macht von der ersten Szene an deutlich, dass es hier um alles geht. Dessau soll Schauspiel und Ballett verlieren, um jährlich 3 Millionen Euro einzusparen. Ein Konzept hinter dem Beschluss sucht man vergeblich. Das ist noch nicht fertig. Mit großem Stolz kündigt der Kultusminister für nächste Woche erste Ideen für ein Landeskulturkonzept 2025 an. Eine Absurdität angesichts der Tatsache, dass jetzt vollendete Tatsachen geschaffen werden. Sachsen-Anhalts Theaterlandschaft steht vor den schwersten Eingriffen seit der Wiedervereinigung.

Der Grund aber, warum hier nicht einfach eine normale Kritik zur “Bettleroper” steht, ist ein anderer. Es ist derselbe, aus dem die Dessauer, statt die “Bettleroper” zu spielen, sich selbst spielen. Sie treten aus ihren Rollen und aus dem Stück heraus, weil sie keine andere Wahl mehr haben und vielleicht auch nichts mehr zu verlieren.

Ungestörte Reden

Am Vortag der Premiere, der Festakt zur Eröffnung des Kurt-Weill-Festes stand bevor, entfernte das Dessauer Ordnungsamt in der Stadt hängende Protestplakate gegen die Spartenschließungen, und im Theater tauchten zwei Boten auf, die dasselbe mit Nachdruck für das Theater verlangten. Am Abend hielten Ministerpräsident Haseloff und sein Kultusminister Dorgerloh also ungestört von den Folgen ihrer Politik ihre Reden. Was die Herren nicht erwähnten, waren die Schließungen, die sie für Dessau – gegen den Willen der anderen Gesellschafter des Theaters – anzuordnen versuchen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Magdeburger Machthaber mit langem Arm eingegriffen haben. Als vor einiger Zeit Aufkleber mit der Landesflagge und dem abgewandelten Landesslogan “Wir sparen uns früher dumm” kursierten, ließen sie rechtliche Konsequenzen androhen, wegen unerlaubter Verwendung hoheitlicher Symbole.

Alles nur Theater?

Sie verstehen keinen Spaß. Und keine Satire. Sie bewegen sich beängstigend selbstherrlich auf vordemokratisches Verhalten zu. Es gibt nicht wenige im Lande, die das – sagen wir – sehr befremdlich finden, und der Autor dieses Textes zählt sich zu ihnen.

Es ist kein Wunder, dass die Theatermacher die Bühne als den letzten Raum empfinden, in dem sie frei sind. “Artists in Resistance” steht am Ende des Abends auf der Laufschrifttafel für die Übertitel. Und genau deshalb steht hier nicht mehr darüber, ob beispielsweise Polly besser als Lucy gesungen hat und Peachum besser als Macheath. Oder dass mit der Inszenierung klarer geworden ist, warum “Polly”, die Fortsetzung von John Gays “Bettleroper”, eben nicht genau so berühmt wurde wie die “Dreigroschenoper”-Vorlage. Man kann nur sagen, dass die ersten Zuschauerreaktionen darauf, dass sich aus ihrer Mitte einer erhob, der wie ein Politiker aussah und darauf, dass er die sehr persönliche Ansprache des Schauspielers Gerald Fiedler (Peachum) unterbrach, dergestalt waren, dass ein echter Staatssekretär es besser nicht getan hätte. Alles nur Theater? – In Dessau ist momentan nichts “nur Theater”.

Großartig und hilflos

Der Versuch von Regisseur André Bücker und Dramaturg Andreas Hillger, die “Bettleroper” mit Gegenwart aufzuladen, mit ihr selbst Kulturpolitik zu werden, er mündet in eine Form politischen Theaters, die zugleich großartig, unheimlich und etwas hilflos wirkt. Man hört Zeilen wie “Haseloff, Bullerjahn, kleiner Geist im Größenwahn” mit derselben Wirkung wie vor 30 Jahren Witze über die DDR-Führung. Das Lachen befreit, ändert nichts, ist dafür aber auf fatale Weise an den heute an sich albernen Gedanken gekoppelt, wie mutig das sei.

Niemand wird ihnen vorwerfen können, sie hätten nichts gesagt und getan. Der Beifall war frenetisch.

“Ungeheures Glück”, Mitteldeutsche Zeitung, 13.02.2014 (Vorbericht)

BETTLERS OPER

von Johannes Killyen

Der Komponist Christoph Reuter ergänzt die originale Barockmusik. Andreas Hillger liefert zum Libretto von John Gay eine neue Rahmenhandlung.

Wenn die Dreigroschenoper die Mutter aller Weillschen Bühnenwerke ist (das sei an dieser Stelle einfach behauptet), dann darf man dieses Stück als ihren Ahnherr bezeichnen: John Gays und Johann Christoph Pepuschs “Beggar’s Opera”, die nicht nur Georg Friedrich Händels Opernakademie im barocken London den endgültigen Todesstoß versetzte, sondern Kurt Weill und Bertolt Brecht auch das Handlungsgerüst für ihre berühmteste Kooperation lieferte. Erstaunlich, dass “Des Bettlers Oper” im Programm des Dessauer Weill-Festes bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Zur diesjährigen Auflage steht sie nun ganz im Mittelpunkt und hat als zentrales musikdramatisches Werk des Festivals am 22. Februar im Anhaltischen Theater Premiere. “Großer Unterhaltungswert”

Es wäre freilich eine verschenkte Chance, die zeitkritische Oper aus dem Jahr 1728 einfach zu rekonstruieren. Deshalb wird die originale Barockmusik, die ohnehin vor allem aus Gassenhauern mit neuem Text besteht, durch neu komponierte Stücke von Cristin Claas und Christoph Reuter ergänzt. Und deshalb hat Textautor Andreas Hillger zum Libretto von John Gay eine neue (und sehr kulturpolitische!) Rahmenhandlung geschrieben, die - so viel kann man vorweg nehmen - für Gesprächsstoff sorgen wird. “Die Beggar’s Opera ist für uns ein Stück, das die Zustände ihrer Zeit kritisch und satirisch spiegelt”, sagt Generalintendant André Bücker, der verantwortlich für die Regie zeichnet. Zugleich verspricht er “ein Bühnenspektakel von großem Unterhaltungswert”, mit aufwändigen Kulissen und nicht unerheblichem Humor.

Erzählt wird dabei zuerst die Geschichte des Ganoven Mackeath, der - ganz wie in der Dreigroschenoper - die Töchter der Wohlstandsbürger verführt, dann verhaftet wird und auf wundersame Weise wieder frei kommt. Im zweiten Teil des Abends greift Librettist Hillger auf die wenig bekannte Fortsetzung der “Beggar’s Opera”, die schlicht “Polly” heißt, zurück und verortet die weitere Handlung in der Karibik, in der Wüste - und durchaus auch in den Bordellen dieser Welt. Ganz im Sinne des epischen Theaters dürfen die Schauspieler des Anhaltischen Theaters dabei auch ihre eigene Rolle und die ihres Hauses reflektieren. Pikant übrigens, dass die historische “Polly” von der Zensur beschränkt und erst viel später uraufgeführt werden konnte.

Zu all dem eine Musik zu schreiben, die mit der barocken Tradition spielt und zugleich im Hier und Jetzt zu Hause ist, war für den Komponisten Christoph Reuter “eine große Herausforderung und Freude zugleich”. Reuter, der in Dessau aufgewachsen und durch das Kindermusical “Oskar und die Groschenbande”, das Jugendtheaterstück “Siegfriedlied” sowie die Mitwirkung in der Band “L’ Arc Six” in der Region bestens bekannt ist, genießt in vollen Zügen die Freiheit, “stilistisch nicht gebunden zu sein”. Er hat die barocke Musik Johann Christoph Pepuschs bearbeitet und gemeinsam mit der Sängerin Cristin Claas Stücke in großer Vielfalt Teile davon neu komponiert: Jazz-, Pop-, Rock-, Tango-Nummern werden von einer Band und einem barocken Instrumental-Ensemble unter der Leitung von Kapellmeister Daniel Carlberg gespielt.

Jazzpianist Reuter, der regelmäßig mit Eckart von Hirschhausen auftritt und gerne einen ganzen Abend lang am Klavier improvisiert, empfindet es als “ungeheures Glück, einfach so komponieren zu dürfen, wie ich das möchte”. Und er trifft in Dessau auf ein Regie-Ensemble, das namentlich in Person von Generalintendant André Bücker “begeistert ist von seiner Fähigkeit, dramatische Zusammenhänge zu erspüren und immer geistig präsent, immer flexibel zu sein”. Unter diesen Umständen kann Reuter “mit Spannung, aber ohne Angst” abwarten, welches dramatische Geschehen zu seiner Musik in Szene gesetzt wird. Spiel mit den Medien Nimmt das Spiel mit Traditionen und Vorlagen, Original und Bearbeitung ohnehin schon das Festivalthema “Medien” auf, so wird die Beggar’s Opera zur Premiere vollends zum multimedialen Ereignis: Zwei Logen sind für moderne Mitbürger reserviert, die live ihre Eindrücke ins World Wide Web hinaustwittern werden.

TWITTER-LOGE Anmeldungen via Internet möglich

Anlässlich des Kurt-Weill-Festes, das 2014 unter dem Motto “Aufbruch: Weill und die Medien” steht, lädt das Anhaltische Theater bei seiner Premiere der “Beggar’s Opera” zu einem Experiment ein: Aus der Premiere am 22. Februar soll live getwittert werden, dafür stellt das Haus zwei Logen zur Verfügung, aus denen theaterbegeisterte und -kritische Twitter-Nutzer in 140-Zeichen-Meldungen live aus der Vorstellung berichten können. Es sei der Versuch, die Bühnenkunst mit der neuen Medienrealität zu verbinden. Auf der Internetseite des Theaters können Interessierte sich anmelden. Alle Infos zum Twitter-Projekt: www.anhaltisches-theater.de

Kommentar:Steffen Brachert ist gespannt, wie das Experiment einer Twitter-Loge im Theater funktioniert, Mitteldeutsche Zeitung, 18.12.2013

KOMMENTAR STEFFEN BRACHERT ist gespannt, wie das Experiment einer Twitter-Loge im Theater funktioniert.

Theater 1.0 gegen Web 2.0 Im Kino und Theater gehören die Ansagen zum festen Programm: “Bitte, die Handys ausmachen.” Viele machen das gern: Kino und Theater gehören zu den immer rarer werdenden Rückzugsgebieten, wo alle Aufmerksamkeit dem gehört, was auf Leinwand und Bühne passiert. Zu recht.

Das Anhaltische Theater geht nun einen anderen Weg. “Kurt Weill und die Medien” ist das 2014er Kurt-Weill-Fest überschrieben. Längst gehören Facebook, Twitter, Instagram und Tumblr dazu. Sie verstehen gerade Bahnhof? Nicht schlimm. Interessant sind diese neuen, schier unerschöpflichen Informationswege aber schon.

Ist es deshalb konsequent oder nur daneben, wenn das Theater nun eine Twitter-Loge öffnet? Zur Beruhigung: Der normale Besucher wird nicht viel mitbekommen. Statt: “Bitte, die Handys ausschalten!” wird es vielleicht heißen “Bitte, die Handys auf lautlos stellen!”. Und wenn am Ende die Twitterer kaum twittern, muss das kein schlechtes Zeichen sein. Dann sind sie vielleicht so fasziniert, dass sie das Tippen auf dem Handy vergessen. Dann hat das Theater 1.0 das Web 2.0 besiegt. Es wäre ein schöner Sieg.

zu „Rum und Wodka“

Schauspieler Müller-Stahl überzeugt das Publikum, Mitteldeutsche Zeitung, 4.11.2019

VON THOMAS ALTMANN
Sebastian Müller-Stahl glänzte am Sonnabend mit dem Monolog „Rum und Wodka“ von Conor McPherson im Dessauer Kiez-Café. Es handelte sich bereits um die zweite Folge der „Selbstgespräche“, die vor wenigen Wochen mit „Oskar und die Dame in Rosa“ begannen.

Eigentlich willst du nur einen Schluck trinken, gehst in die Kneipe. In der Ecke sitzt ein Typ, säuft, raucht, siedet. Er rammt sich den hämmernden Rhythmus der drögen Musik durch die besoffenen Schenkel, wankt auf dich zu, schlaucht eine Kippe und erzählt dir sein Leben. Der Abend ist gelaufen, so defekt, wie dieses sinnlos vorverdaute Dasein.
Literarische Schleifspuren
„Rum und Wodka“ und reichlich Bier und Whisky: Conor McPhersons Monolog einer verpassten, versoffenen Adoleszenz war am Sonnabend im rappelvollen Dessauer Kiez-Café nicht zu überhören. Als Chefsache in Szene gesetzt von André Bücker soff Sebastian Müller-Stahl in Folge Zwei der „Selbstgespräche“, die vor wenigen Wochen mit „Oskar und die Dame in Rosa“ begannen. Dieses intensive, konzentrierte und endlich auch im Spielplan des Anhaltischen Theaters platzierte Genre begann mit zwei (des ersten wegen in Anführungszeichen) „Monologen“, die in ihren Texten lediglich literarische Schleifspuren führen. Und dennoch: Gut gelaufen, weil Christel Ortmann überzeugend mit der Sentimentalität wirtschaftete, weil Sebastian Müller-Stahl nun einen wahren Scheißkerl in die Kneipe setzt, und, weil sich in der gekräuselten Feuchte des Erbrochenen doch die Gesellschaft spiegelt.
Es spielt, wo die große Literatur wohnte, in Dublin. Der namenlose, das müsste man anders sagen, Held ist 24 Jahre alt. Vor vier Jahren traf er ein Mädchen, auf einer Party. Sie kümmerte sich um ihn, „während ich in ihren Schuh kotzte“. Sie wird schwanger. Heirat, ein biederer Bürojob, ein zweites Kind, eine Hypothek, ein Reihenhäuschen. Er arbeitet, säuft, schläft, auch mit seiner Frau, nennt es nur anders, und manchmal, diesmal ist es das richtige Wort, spielt er mit den Kindern, spielt Vater.
Als er eines Tages betrunken aus der Mittagspause kommend zur Rede gestellt wird, passiert es. Er wirft seinen Computer aus dem Fenster. Nun säuft er ein Wochenende durch, trifft eine Frau aus besseren Kreisen, schlägt sich und sitzt wieder vor dem Bett der Kinder. „Wenn du in der Scheiße steckst, empfindest du all die selbstgerechte Empörung des unschuldigen Opfers.“ Solche Gedankenschläge bleiben selten. Das Wochenende läuft als Tatsachenbericht eines versoffenen, kotzenden Egomanen. „Ok. Ich bin nun mal ein verblödeter Arsch.“
Kein Ästhet des Alkohols
McPherson stilisiert seinen Helden keineswegs zum Ästheten des Alkohols. Was bleibt? Nur ein endloses Erbrechen auf der literarischen Ebene eines Kneipenpissoires? Ja, und dennoch spiegelt sich die Gesellschaft im Abort, eine Gesellschaft, die sich so gibt, als seien große Ziele permanent verfügbar, eine Gesellschaft, die, indem sie Freiheit und Glück sagt, Abhängigkeit und Sucht erzeugt.
Klar hat der Säufer zu früh die Hypotheken des Erwachsenwerdens aufgenommen. „Das war’s“, sagt dieser Kerl im Angesicht dreier Menschen, als spielten sie keine Rolle. Fragte man ihn, was er mehr wolle, schlüge einem der abgestandene Atem einer leeren Flasche entgegen. Komasaufen als Gesellschaftsspiel! Geschlechtsverkehr, Marke setzen, Beinchen heben! Mehr! Weiter! Die Übertragung marktwirtschaftlicher Prinzipien auf das Leben fordert Tribut. Aufhören, aufmerken, sich zufrieden geben? Dann würde der Markt kollabieren. So kollabiert das Leben.
Schauspiel in der Stadt
Für diese kleinen Inszenierungen jenseits der Gala, am Fuße der Leuchttürme in verkarsteter Landschaft brauchen wir das Schauspiel. Bravo für diese unaufgeregt erschlagende Inszenierung einer hohlen Hyperventilation. Bravo dafür, dass das Schauspiel mit diesem Stück einmal mehr in die Stadt geht. Und Bravo für Sebastian Müller-Stahl. Wie er diesen Scheißkerl sehnig serviert, wie er ihn selbsttrunken durch alle Bierlachen zieht, wie er sich an der verschanzten Leere verletzt, wie er beißt und zielsicher ins Nichts tritt! Schade: Der Monolog ist gelaufen. Zweimal und vorbei. Vielleicht, weil wirklich Wodka, Whisky, Rum im Glas waren. C’est la vie. Prost!
Postskriptum: Eigentlich ist Schluss. Müller-Stahl setzt sich zu einem älteren Paar auf die Lehne eines Sofas, fragt in versoffener Vertrautheit: „Hab ich ihnen schon erzählt, was ich in den letzten drei…“ Sie schweigen. Hau ab!

zu „Nora oder Ein Puppenheim“

Helmut Rohm, Volksstimme, 24.10.2013

Wahrheiten einer vermeintlich heilen Welt

Viel Beifall für Ibens "Nora" in Dessau / Nächste Vorstellung am Sonnabend.

"Wir sind jetzt acht Jahre verheiratet. Fällt es dir nicht auf, dass wir .. du und ich, Mann und Frau .. heute zum ersten Male ein ernstes Gespräch miteinander führen?", geht Nora Helmer in die Offensive. Torvald Helmer versteht die Welt nicht mehr - seine Welt.

Henrik Ibsens Schauspiel „Nora oder Ein Puppenheim“, uraufgeführt 1879 in Kopenhagen, hatte am Freitag im Anhaltischen Theater Dessau eine gut besuchte und mit viel Beifall bedachte Premiere. Generalintendant André Bücker, der auch die bereits vor 14 Tagen ebenfalls begeistert aufgenommene Bellini-Oper „Norma“ inszenierte, stellt beide Werke der Weltliteratur im Kontext tragischer Frauenfiguren dar, die zeitlich mehrere Jahrhunderte auseinander lebten.
Der „Nora“-Zuschauer wird von André Bücker von Ende des 19. zum Anfang des 21. Jahrhunderts (Kostüme Suse Tobisch) geführt und erfährt von reizvollen Beziehungskonflikten, die ungemein aktuell und zeitlos sind.
Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. In einer vermeintlich glücklichen Familie und deren Umfeld kommt einiges in bedrohliches Wanken. Nora hat vor Jahren eine Unterschrift gefälscht, um ihrem Mann eine lebensrettende Langzeitkur zu ermöglichen. Nur Nils Krogstad (Dirk S. Greis) weiß davon. Er erpresst Nora, damit sie ihren Mann beeinflusst, der Krogstad wegen eben einer Urkundenfälschung entlassen will. Torvald Helmer lässt sich darauf nicht ein. Krogstad droht, diese Lebenslüge platzen zu lassen. Die frühere Freundin Christine Linde (Antje Weber) kommt zu Besuch. Auch sie hat schicksalhafte Lebenserfahrungen gemacht, die, wie es der Zufall will, mit Krogstad in Verbindung stehen.
Die Kinder sind da, doch meist abgeschoben und in der Obhut des Kindermädchen Ada (Jenny Langner), das ihr eigenes Kind weggab und leicht poppig überzeichnet daherkommt. In dieser Weihnachtszeit kumulieren die Verwerfungen, deren Ursachen oft weit zurückliegen. Die Inszenierung lebt von Dramatik, ist von sich aufbauenden Spannungen geprägt.
Mit viel Einfühlungsvermögen und nervig-hektisch gespieltem Bewegungsdrang bringt Natalie Hünig eine Nora auf die Bühne, die mehr und mehr erkennt, dass sie stets ein Spielobjekt war: für den Vater eine Kind-Puppe und später für Helmer eine Frau Puppe. Nie ernstgenommen, nie selbstbestimmt. Doch die naive Kindfrau wird zur sich emanzipierenden Person: „Ich muss dahinter kommen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich“. Sie geht - lässt Ehemann und Kinder zurück.
Gerald Fiedler gibt einen auf bürgerliche Moral und Gesetz orientierten Torvald Helmer, der vor allem aber auf seine eigene Etikette ausgerichtet ist. Koseworte kommen geläufig daher, er rastet aus, beschimpft und demütigt Nora. Einziger ehrlicher Gesprächspartner für sie ist Dr. Rank (Karl Thiele), ein Freund der Familie.
Bernd Schneider richtet auf dem großen Bühnenraum ein weitläufiges Wohnzimmer ein. Der Kindertisch weitab vom familiären Geschehen, der Weihnachtsbaum ein blatt- und nadelloses Kunstobjekt mit LED- Lampen. Ein wenig „richtige“ Weihnachtsstimmung bringt Livemusik von Karl Thiele (Klavier) und Gerald Fiedler (Saxophon). Und über allem scheint der große Mond - so wie bei Norma.

zu „Norma“

Mit Kultur gegen Kulturabbau, operalounge.de, 26.02.2014

von Reinhard Eschenbach

Bellinis "Norma" in Dessau

Mit einer werkgerechten Inszenierung von Bellinis Norma wehrt sich das Anhaltische Theater gegen die radikale Kürzung der Zuschüsse aus dem Kulturetat der Landesregierung. Das ist umso bemerkenswerter, als die Ausstattung spartanisch ist, den Glanz allein die Musik bewirkt. Welches Opernhaus kann schon die zu den schwierigsten des Belcanto-Repertoires zählenden Hauptpartien mal eben mit Hauskräften besetzen, die dann auch noch in diesen Partien hervortreten und magische Momente erzeugen und für die Besucher diese Aufführung unvergesslich machen!

André Bücker siedelt das Werk in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts an, belässt es dabei glücklicherweise nur bei Andeutungen – die Besatzer in den üblichen langen Ledermänteln erinnern entfernt an deutsch-italienische Faschisten, die Gallier an französische Resistance. Die damit verbundenen leichten Unstimmigkeiten stehen so aber dem Ablauf der Handlung nicht weiter im Weg. Die schlichte Bühne von Bernd Schneider zeigt eine Waldlichtung als Kultstätte mit zahlreich herumliegenden Baumstämmen (leider auch Stolperfallen für die Protagonisten) und einen altargleichen Baumstumpf im Zentrum. Ein schwarzer Vorhang aus vertikalen Streifen bildet den Hintergrund. Das sieht nicht aufregend aus, hat aber den Vorteil, dass die Bühne binnen Sekunden be- und entvölkert werden kann. Die Kostüme von Suse Tobisch nehmen den etwas langweiligen 40er-Jahre-Look auf, einzig Norma erscheint farbig weitgewandet, einer Verdi-Ulrica nicht unähnlich. Die etwas triste Optik wird im Verlauf durch das Herabsenken eines riesigen Mondes aufgelöst, der je nach Dramatik der Handlung von fahl bis glutrot leuchtet und später, wenn die Priesterin ihr Volk zum Krieg aufruft, auch als Gong dient. Das Regieteam will auf das schwierige Schicksal von Besatzerkindern hinweisen, und so wieseln die Kleinen schon im Vorspiel und zwischen den Szenen durch den „Wald“ und werden zum dramatischen Finale mit ihren Rucksäcken harsch von der Bühne gewiesen – in eine ungewisse Zukunft. Ein kleines, aber durchaus intelligentes Detail.

André Bücker siedelt das Werk in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts an, belässt es dabei glücklicherweise nur bei Andeutungen – die Besatzer in den üblichen langen Ledermänteln erinnern entfernt an deutsch-italienische Faschisten, die Gallier an französische Resistance. Die damit verbundenen leichten Unstimmigkeiten stehen so aber dem Ablauf der Handlung nicht weiter im Weg. Die schlichte Bühne von Bernd Schneider zeigt eine Waldlichtung als Kultstätte mit zahlreich herumliegenden Baumstämmen (leider auch Stolperfallen für die Protagonisten) und einen altargleichen Baumstumpf im Zentrum. Ein schwarzer Vorhang aus vertikalen Streifen bildet den Hintergrund. Das sieht nicht aufregend aus, hat aber den Vorteil, dass die Bühne binnen Sekunden be- und entvölkert werden kann. Die Kostüme von Suse Tobisch nehmen den etwas langweiligen 40er-Jahre-Look auf, einzig Norma erscheint farbig weitgewandet, einer Verdi-Ulrica nicht unähnlich. Die etwas triste Optik wird im Verlauf durch das Herabsenken eines riesigen Mondes aufgelöst, der je nach Dramatik der Handlung von fahl bis glutrot leuchtet und später, wenn die Priesterin ihr Volk zum Krieg aufruft, auch als Gong dient. Das Regieteam will auf das schwierige Schicksal von Besatzerkindern hinweisen, und so wieseln die Kleinen schon im Vorspiel und zwischen den Szenen durch den „Wald“ und werden zum dramatischen Finale mit ihren Rucksäcken harsch von der Bühne gewiesen – in eine ungewisse Zukunft. Ein kleines, aber durchaus intelligentes Detail.

Soweit der bescheidene Rahmen. Doch schon mit dem warm und frei strömenden Bass von Christian Hübner als Oroveso (Aufführung vom 14.2.), öffnet der Zuhörer erfreut die Ohren – er gibt einen zittrigen Tattergreis, was nicht wirklich zu seiner voluminösen Stimme passt. Wenn dann in der Titelpartie Angelina Ruzzafante (Foto oben/©Claudia Heysel) in der wohl berühmtesten Belcanto-Arie ihre nicht unbeträchtlichen stimmlichen Möglichkeiten zeigt, sich trotz der uns allen im Ohr präsenten Tonbeispiele nicht nur durchsetzt, sondern begeistert, ahnt man, was da noch kommen mag! Sie erfreut mit einer individuell timbrierten Stimme mit guter Tiefe, die sich zum Ende des 1.Akts mühelos über Orchester und Ensemble erhebt, mit sicherem Legato und feinen Piano-Einsätzen. Die Sopranistin ist klug genug, weitgehend ihre lyrischen Stärken zu ins Feld zu führen. Sie hält die Verzierungen in den Koloraturen in Grenzen, sie sucht in den Ausbrüchen nicht den Furor einer Callas, ist aber glaubwürdig dramatisch und legt Sorgfalt auf die Gestaltung der Zerrissenheit, der Unsicherheit einer Frau, die liebt – und die dann mit großer Geste ruft: „Ich bin es!“ Stille, die Bühne erstarrt, atemlos das Publikum! Ganz großes Theater! Rita Kapfhammer als Adalgisa ist mit ihrem wunderbar dunkel fließenden Mezzo ein Erlebnis und absolut ebenbürtig, sie muss nur in der extremen Höhe forcieren. Den attraktiven Lover dieser beiden Frauen in Sung-Kyu Parks Pollione zu erkennen fällt optisch zunächst schwer, aber er überzeugt schnell mit seinem strahlkräftigen Tenor, der nie ermüdet, nur in der Höhe angestrengt wirkt. Stimmfarbe und Volumen harmonieren einzigartig mit den Frauen, die Duette und Terzette zum Finale des 1. Akts sind einfach sensationell und versetzen uns Zuhörer in einen Rausch. Wer Schöngesang von dieser Qualität live erleben will, sollte unbedingt schnell noch eine Fahrt nach Dessau zu den restlichen Aufführungen einplanen. Die weiteren Rollen sind ebenfalls auf gutem Niveau besetzt: Kristina Baran/Clotilde mit einem höhrenswerten dunklen Sopran und David Ameln/Flavio mit seinem angenehm-kräftigen Tenor.

Aus dem Orchestergraben klingt die Ouvertüre zunächst etwas verhalten, doch schnell finden Daniel Carlberg und seine Musiker zu einem temperament- und spannungsvollen Spiel. Bis auf kleine Abstimmungsungenauigkeiten mit der Bühne musiziert die Anhaltische Philharmonie präzise, engagiert und Ausdruckstark, sie trägt ihren Teil zu den vielen magischen Momenten dieses Abends bei. So auch der schönstimmige Chor (Helmut Sonne), der an der Gestaltung des Finales ganz wesentlichen Anteil hat. Im Zusammenspiel mit der aufregenden, hochdramatischen Musik hat das etwas Elektrisierendes, Spannendes. Der erst spät einsetzende Beifall ist dann umso stürmischer.

"DESSAU Norma", Das Opernglas, Dezember 2013

von U. Ehrensberger

„Was wir lieben“ hat das Anhaltische Theater Dessau den Spielplan der Saison 2013/14 übertitelt. Ein vieldeutiges Motto, das durchaus auch als Appell an die Landesregierung verstanden werden kann, die über die Grenzen von Dessau hinaus beliebte Vier-Sparten-Bühne nicht den geplanten Kürzungen des Kulturetats zu opfern. Inmitten der heftig ausgetragenen politischen Debatten um die Zukunft des Theaters, das vom deutschen Kulturrat bereits auf die Liste der bedrohten Kultureinrichtungen gesetzt wurde, lieferte diese respektabe1 gelungene Neuproduktion von Bellinis „Norma“ nun die besten Argumente für einen Fortbestand des Dessauer Musiktheaters.

Regisseur André Bücker und Bühnenbildner Bernd Schneider hatten sich von der tragischen Geschichte der während des zweiten Weltkriegs aus Beziehungen französischer Frauen mit deutschen Soldaten geborenen Kinder inspirieren lassen, die wie ihre Mütter nach Kriegsende die Ablehnung und Verachtung ihrer Umgebung zu spüren bekommen haben. Entsprechend verlegten sie die Handlung in die Vierzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, sodass Adalgisa und Clotilde in hübschen Baumwollsommerkleidern (Kostüme: Suse Tobisch) zu erleben waren, während sich die Choristen in einer Art bäuerlicher Partisanen-Gewandung sowie Pollione und Konsorten in Wehrmachtinspirierten Uniformen kaum vom Dunkel der Bühne abhoben, die aus einem von einer riesigen Mondkugel dominierten Einheitsraum mit einigen Baumgerippen im Hintergrund bestand. Die Handlung selbst ließ das Inszenierungsteam weitgehend unangetastet, richtete jedoch ein besonderes Augenmerk auf das Schicksal der beiden Kinder Normas und Polliones, die am Ende der Oper nur mit ihren Rucksäcken ausgerüstet in eine ungewisse Zukunft geschickt wurden. Dass Poillione nicht zusammen mit Norma verbrannt, sondern von einem der Partisanen erschossen, und Norma vor ihrem Feuertod noch mit abgeschnittenen Haaren als Hure bloßgestellt wurde gehört zu den wenigen Modifikationen, die sich der Regisseur gegenüber dem Original erlaubte. Das Rätsel, welche Stellung der "Priesterin" Norma im Frankreich des 20. Jahrhunderts zugedacht war und weshalb die französischen Partisanen bereit gewesen sein sollen, dieser im Stile einer Jahrmarktwahrsagerin gekleideten Frau auf Gedeih und Verderb zu folgen, blieb bis zuletzt ungelöst. Trotz des durchaus interessanten theoretischen Ansatzes handelte es sich letztlich mehr um eine Umkostümierung als um eine grundlegende Neuinterpretation der bekannten Handlung, zumal die Personenregie über das Arrangement von Auf- und Abtritten und Waffenschwingung nicht wirklich hinauskam. Im positiven Sinne betrachtet ließ die Inszenierung den Sängern jedoch großen Freiraum, den sie durchweg mit viel Persönlichkeit und darstellerischer Routine zu nutzen wussten.

Dass man sich in Dessau überhaupt an eines der anspruchsvollsten Werke aus dem Belcantorepertoire herangetraut hatte, war einzig auf den Umstand zurückzuführen, mit Angelina Ruzzfante eine Sängerin im Ensemble zu haben, die den enormen Schwierigkeiten der Partitur gewachsen war. Mit silberheller Sopranstimme, deren Stärken in der Koloraturfertigkeit und lyrischen Beseeltheit, weniger allerdings in der dramatischen Gestaltung liegen, gelang ihr ein durchaus eindrucksvolles Rollenporträt. Aufs Schönste harmonierte die holländisch-italienische Sopranistin mit der warm timbrierten, sauber geführten Mezzosopranstimme von Rita Kapfhammer, sodass die herrlichen Norma-Adalgisa-Duette zu vielbeklatschten Höhepunkten des Abends wurden. Vergleichsweise grob, angesichts des eindimensionalen Charakters einer der unsympathischsten Figuren der Opernliteratur aber durchaus vertretbar, ging Sung Kyu Park mit kräftig-stabiler Tenorstimme an die Partie des Pollione heran. Thomas Skambraks schließlich verströmte als in dieser Konzeption eher unerbittlicher denn altersmilder (Groß-)Vater Oroveso schönsten Basswohllaut.

Flott und temperamentvoll, spannungsgeladen und dabei bemerkenswert präzise ließ Daniel Carlberg Bellinis Musik aus dem Orchestergraben erklingen, wobei die Anhaltische Philharmonie Dessau nach einigen Anfangsungenauigkeiten zu bester Abendform fand. Besondere Erwähnung verdient der ausgesprochen schönstimmige Opernchor des Anhaltischen Theaters unter der Leitung von Helmut Sonne. Das Publikum der hier besuchten zweiten Aufführung der Premierenserie reagierte begeistert und bedachte vor allem Angelina Ruzzafante sowie Rita Kapfhammer mit ausdauerndem Beifall.

"Die Fackeln lodern schon", Opernwelt, Dezember 2013

von Udo Badelt

„Anhaltisches Theater Dessau bleibt“, steht auf einem großen Transparent am Portal des monumentalen Hauses, das der „Führer“ einst der Stadt geschenkt hat. Oje, denkt man, wenn Berliner Hausbesetzer die Parole ausgegeben, dass irgendetwas „bleibt“ - dann steht die Räumung meist unmittelbar vor der Tür. Zum Glück folgt auf dem Dessauer Transparent der Zusatz: „was wir lieben“. Aber wie lange die Dessauer ihr Theater noch lieben können, ist unsicher angesichts einer katastrophalen Kürzung der Förderung durch das sachsenanhaltische Kulturministerium von acht auf fünf Millionen Euro schon zum Januar 2014. Der beste Protest dagegen: Qualität zeigen. Zum Beispiel mit der neuen „Norma“-Inszenierung von Intendant André Bücker, der zeitgleich auch Ibsens „Nora“ auf die Bühne bringt: zwei Frauen fast gleichen Namens, die beide Normen und Erwartungen verletzen.

Norma tut dies bekanntlich, indem sie in Liebe zum Prokonsul Pollione entflammt - dem römischen Feind. Angelina Ruzzafante zeigt darstellerisch keine großen Gefühlsregungen. Aber das passt auch zu dieser Figur, die zwar zerrissen wird von Pflicht und Neigung, diese Konflikte aber bei aller Bitterkeit, aller Rachsucht nicht nach außen trägt und etwa - wie Medea - ihre Kinder tötet. Bei Ruzzafante sieht man, wie sehr Norma ihr blutendes Herz für sich behält. Die ganze Gestaltungskraft liegt in der Stimme. Und so exzessiv, wie die Rolle zwischen lyrischem, dramatischem und Koloratursopran schillert, so buntscheckig und vielfarbig Singt Ruzzafante auch: expressiv und silbern in „Casta Diva“, schrill in den Kriegsrufen, getragen und filigran in den Duetten. Klang-Valeurs, wie sie Rita Kapfhammer als Adalgisa ebenbürtig beherrscht. Sung Kyu Parks Pollione nimmt man zwar den Lover, um den sich die Frauen schlagen, nicht auf den ersten Blick ab - dazu hat er zu viele B's: Brille, Bart, Bauch -, aber er trumpft auf mit vollmundigem Tenor. Das Äußerste aus seiner kleinen Rolle holt Thomas Skambraks als Normas Vater Oroveso: ein tattriger, würgender Greis mit Rauschebart, offenbar stark infarktgefährdet, der zuschlagen will und es nicht kann. Am Pult der Anhaltischen Philharmonie präpariert Daniel Carlberg die Kontraste und schnellen Schnitte mit solchem Affekt, dass man meint, in diesem Bellini schon einen frühen Verdi herauszuhören.

André Bücker hat angekündigt, die Geschichte ernst nehmen zu wollen - und sie deshalb nicht in eine Asterix & Obelix-Ästhetik zu kleiden, mit wallenden Druidengewändern und baumelnden Haarzöpfen, sondern herauszuarbeiten, was daran zeitlos ist. Dieses Gallien ist offenbar von deutschen Faschisten besetzt, das legen die Uniformen nahe und die hochgeschlossenen Kleider im 40erJahre-Stil, in die die Frauen (auch Adalgisa) gesteckt sind. Auf dunkler Bühne spielen Normas Kinder im Gehölz, der große Mond, der sich zu „Casta Diva“ herabsenkt und zum späteren Kriegsgeschrei blutrot färbt, erzielt da natürlich einen besonderen Aha-Effekt. Trotzdem bleibt das Bühnenbild (Bernd Schneider) fast den ganzen Abend eher still. Das drastische Finale kommt umso überraschender. Norma wird, nachdem sie sich selbst des Verrats bezichtigt hat, eine der größten denkbaren Demütigungen angetan: Das Volk schert ihr das Haar. Und schichtet die Hölzer, in denen eben noch die Kinder gespielt haben, zum Scheiterhaufen, die Fackeln lodern schon. Von Loyalität zu der Frau, die eben noch geistige Führerin war, keine Spur. Ein tief pessimistischer Schluss. Und vielleicht ein Hinweis darauf, dass dieser Scheiterhaufen nicht das Einzige ist, was in Dessau (und Sachsen-Anhalt) brennt.

Bellini: Norma | Premiere am 4., besuchte Aufführung am 19. Oktober 2013

"Dessaus NORMA", Der Neue Merker, Nov.2013

von Christoph Suhre

Um es vorwegzunehmen: Von Druiden fehlt jede Spur. Bereits zu den Klängen der Ouvertüre öffnet sich der Vorhang und gewährt einen Blick auf die Szenerie, die mit geschlagenen, entlaubten Bäumen übersät ist. Eine Frau mit zwei Kindern betritt diesen Raum. Die Kinder spielen mit einem Ball, die Frau raucht eine Zigarette. Bereits an dieser Stelle könnte sich der eine oder andere Leser nervös die Haare raufen und sich fragen, was das alles mit Bellinis „Norma“ zu tun hat. Keine Angst! Ich verspreche, dass ein großer Opernabend folgen wird. Regisseur André Bücker nutzt die von Bernd Schneider entworfene Bühne als „archaischen“ Spielraum. Es ist eine offene Lichtung. Der Mond ist zum Greifen nahe. Die Menschen treffen sich hier, ein Wunder erhoffend. Die Kostüme (Suse Tobisch) lassen keinen Zweifel daran, dass die Menschen einer Besatzungsmacht ausgeliefert sind. Tatsächlich geht diese Lesart weitgehend auf. Normas Handlungen bekommen einen tieferen Sinn, ohne dass dabei Bellini vergewaltigt wird. Norma ist in Dessau eine moderne Frau, die sich zwischen Pflicht und Neigung sowie auch zwischen Rache und Vergebung zu entscheiden hat. Angelina Ruzzafante gestaltet als Vertreterin der Titelpartie diese innere Zerrissenheit überaus souverän. Am Ende opfert sie sich in vollem Bewusstsein. Dass die Norma gesangstechnisch zum Schwierigsten gehört, was die Opernbühne zu bieten hat, ist hinlänglich bekannt. Die niederländische Sopranistin, die seit 2009/10 Ensemblemitglied in Dessau ist, meistert ihren Part mit bewunderungswürdiger Sicherheit. Ihre Koloraturen bestechen durch Lockerheit, die lyrischen Momente durch Zartheit und Beseeltheit und die dramatischen Ausbrüche besitzen Kraft und Feuer. Beeindruckt ist man auch von ihrem Legate, das für die kräftezährende Partie so ungemein wichtig ist. Schwierigkeiten habe ich nur mit ihrer Kostümierung, Das geschmacklose farbige Gewand will mir nicht so recht zu dieser selbstbewussten Frau passen. Großartiges hörten wir auch von Rita Kapfhammer als Adalgisa. Die Sängerin verfügt über einen fulminanten Mezzosopran, der zu schönsten Phrasierungen fähig ist. Bei extremen Höhen muss die Sängerin zwar mitunter etwas drücken, aber gerade in den Duetten zwischen Adalgisa und Norma bewies sie sicheres stilistisches Gespür und war ihrer Partnerin absolut ebenbürtig. Den Koreaner Sung-Kyu Park konnte man bereits in der vergangenen Spielzeit mehrfach in Dessau erleben. Er verfügt über einen heldisch auftrumpfenden Tenor, mit dem er strahlende Spitzentöne produzieren kann. Zudem scheint seine Stimme keine Ermüdungserscheinungen zu kennen. Als Pollione konnte er ebenfalls überzeugen. Gut war freilich, dass es ihm im Laufe der Aufführung immer besser gelang, seine Stimme auch einmal zurückzunehmen und sich seinen Partnern anzupassen. Man fragt sich allerdings, warum sowohl Norma als auch Adalgisa auf diesen schwarz uniformierten Pistolenträger abfahren. Der sieht doch in seiner Aufmachung wirklich zum Fürchten aus. Aber dafür kann er nichts - mit seinem Gesang ließ er alles andere vergessen. Oroveso ist in der Dessauer Inszenierung von Anfang bis Ende ein Tattergreis. Klar, der ist vom Leben gezeichnet. Aber das ständige Zittern nervt. Kompliment an Thomas Skambraks, dass er diese Vorgabe konsequent durchsteht. Seine Stimme hat jedenfalls dabei nicht gelitten, denn er singt seine Partie mit würdevollem Bass. Kristina Baran überzeugte als Clotilde, David Ameln als Flavio. In der Einstudierung von Helmut Sonne sangen der Opernchor und der Extrachor des Anhaltischen Theaters ausdrucksstark und klangschön. Das hatte Stil. Die Damen und Herren waren in dieser Bellini-Produktion allerdings nicht nur zum Herumstehen verdammt. Am Ende errichten sie mit den geschlagenen Bäumen einen Holzstoß. Ob dieser nun in Flammen aufgeht, ist sekundär. Berührender ist das Schicksal der beiden Kinder, die Norma zurücklässt. Es sind Kinder der Schande. Kindern von Besatzern und Besetzten galten als gebrandmarkt. Mit Rucksäcken auf dem Rücken verlassen sie die Szene, unwissend, was sie in der Zukunft erwartet. Das geht echt unter die Haut und wird von der herrlichen Musik Bellinis emotional wirkungsvoll getragen. Daniel Carlberg war bei seinem Dirigat wie immer voll bei der Sache. Die Ouvertüre geriet aus meiner Sicht eine Spur zu zackig. Zudem gab es anfangs auch einige Abstimmungsprobleme zwischen Orchester und der Bühne. Aber das alles glättete sich sehr rasch. Man hatte das Gefühl, besten Bellini zu hören. Das Orchester setzte die wundervolle Partitur mit nicht nachlassendem Engagement klangintensiv und klangschön um. Dessau bescherte uns einmal mehr einen ganz großen Opernabend.

Nachtrag

Dass das Anhaltische Theater ein Leuchtturm in der Region und darüber hinaus ist, scheint die politisch Verantwortlichen nicht zu interessieren. Die so stark im Bestehen sich wähnen, versuchen mit einem unverantwortlichen Sparkurs das Theater in die Knie zu zwingen. Die eigentliche Aufgabe besteht doch vielmehr darin, das zu erhalten, was lebenswert ist. Den Theaterleuten in Dessau rufen wir solidarisch zu: „Macht weiter so, lasst euch nicht unterkriegen!“

"In einem tiefen dunklem Wald…", www.deropernfreund.de, 24.10.2013

NORMA am 19.10.2013 (Premiere 4.10.13)

von Alexander Hauer

Das Bühnenbild von Bernd Schneider steht auch symbolisch für die Situation der sächsisch-anhaltischen Theater unter „Kulturvernichtungsminister“ Dorgerloh. Ziel dieses evangelischen Theologen ist es, eine der blühendsten Kulturlandschaften, mit Schlösser, Museen, Universitäten und vor allem mit Theatern und Festivals von Weltruf, in eine öde Nicht-Kulturlandschaft zu verwandeln. Sein „ehrenwertes“ Ziel, das für alle Vergehen als Entschuldigung dient, ist die Entlastung des Staatshaushalts. Nun ist es eine Binsenweisheit, das es unsinnig ist, am geringsten Posten, eben der Kultur, zu sparen. Von den Folgen, die Steigung der Un-Attraktivität des Landes, die Nicht-Ansiedelung von Wirtschaftsbetrieben, die Schließung von Krankenhäusern, Universitäten, Theatern, etc wir dabei billigend in Kauf genommen. Ganz encore mit seinem Parteigenossen Bullerjahn (Finanzen, ehemaliger Elektromonteur und Volksarmist), werden dabei gerne Tausende von Arbeitslosen in Kauf genommen.

Aber wenden wir uns lieber angenehmeren Dingen zu, solange es sie noch gibt. In den tiefen dunklen Wald ist eine Bombe eingeschlagen. Verwüstete, herausgerissene Baumleichen liegen verstreut, dominiert von einem Stumpf der einst heiligen Eiche. In diesem Szenario lässt André Bücker sein Drama um das Besatzungsliebchen Norma und deren multiamourösen Pollione spielen. Die Kostüme von Suse Tobisch, Norma ähnelt einer Sally Bowles aD, die Besatzer lassen sich durchaus als SS-Männer erkennen, und die unterdrückten Franzosen, sind eine eher unterbewaffnete Partisanentruppe in dem mittlerweile üblichen Einheitsgrau, wenn kein Geld für die Ausstattung zur Verfügung steht. Trotzdem, in diese Falle gelang es aus Sch…ße Butter zu machen. Die Situation ist klar und eindeutig, für jeden nachvollziehbar und stimmig. Auch 1831 dachten Bellini und sein Librettist Romani sicherlich nicht an eine Asterixfolkloreshow, sondern an die damals aktuelle politische Situation in Italien.

André Bücker inszeniert diese Norma eher unspektakulär, dafür aber sehr sängerfreundlich. Man könnte ihm vorwerfen, dass er das „Rumstehchen“ der Saison geschaffen hätte, man muss ihn aber loben, dass er den Sängern, der wohl drei schwierigsten Partien des Belcanto, genügend Stand gibt. Geschickt führt er den Chor durch die „Waldlandschaft“ mit all ihren Stolperfallen, klug gestaltet er die Duos und Trios, die Ensembles. Und wenn Angelina Ruzzafante die keusche Göttin unter einem bühnenfüllenden Vollmond besingt, dann ist die Opernwelt wieder in Ordnung. So wiegt er den Zuschauer in einer Woge des Wohlklangs in eine trügerischen Sicherheit, denn im Finale zeigt Bücker, was für ein gewiefter Opernregisseur er ist, und was er bis dato auch stets bewiesen hat. Ohne das Ende zu verraten, es ist spannender als alle Tatorts der letzten 20 Jahre zusammen, ergreifender als das Ende von Titanic. Belcantossississimo!

In der von mir besuchten berüchtigten zweiten Vorstellung hatten die Bläser während der Sinfonia ihren freundlichen Tag (…bitte nach Ihnen), übrigens der einzige Patzer an diesem Abend und eigentlich nicht der Rede wert, aber innerhalb kürzester Zeit hatte Daniel Carlberg seine Anhaltische Philharmonie wieder auf Kurs gebracht und verblüffte mit einem ungewohnt flottem Tempo. Mit Thomas Skambraks haben die Dessauer einen kraftvollen Orovese, der neben den stimmlichen Anforderungen, auch den darstellerischen Spagat zwischen liebenden, später verachtenden Vater und politischer Anführer der Partisanengruppe schafft. Ebenso versiert und kraftvoll sind Kristina Baran als Clotilde und Leszek Wypchlo als Flavio. Wie immer mehr als erwähnenswert der Chor unter Helmut Sonne, der in dem bereits erwähnten Finale auch besonders gefordert wurde.

Was bleibt sind die glorreichen Drei, mit Sung Kyu Park steht in Dessau ein Pollione auf der Bühne, der mit geschmeidigen, kraftvollen Tenor, den zwischen zwei Frauen hin und hergerissenen Latin Lover gibt. Ja und dann bleiben nur noch die beiden Damen. Beide sind Priesterinnen eines eher blutigen Mondkultes, der von ihnen Jungfräulichkeit verlangt, aber beide lieben den selben Kerl und die eine, Norma, hat sogar zwei Kinder von ihm, die sie sorgsam vor der Welt, und als „Besatzerbälger“ besonders vor ihrer Gemeinschaft verbirgt. Die aktuelle der beiden Ladies, Adalgisa, Rita Kapfhammer verströmt einen warmen, fast rauschhaften Mezzo, der sich wunderbar mit dem extrem sauber intonierten, höchst dramatisch angelegten Koloratursopran von Angelina Ruzzafante ergänzt. Es schien, als ob Vincenzo Bellini diesem Trio die Partitur in die Kehle geschrieben hätte.

Jetzt wäre ich fast versucht Ihnen, verehrter Leser, das Finale zu verraten – aber nein, ich tue es nicht. Fahren Sie nach Dessau, besuchen sie die Norma, genießen die Oper, die in solch einer brillanten Besetzung auch nicht in „größeren“ Opernhäusern zu finden ist, besuchen sie das Anhaltische Theater, beweisen sie, dass Politiker im Unrecht sind, wenn sie die deutsche Kulturlandschaft grundlos zerstören wollen.

Erklären Sie sich solidarisch, auch mit den bedrohten Theatern in ihrem Bundesland. Sachsen Anhalt ist auch in Rheinland Pfalz, in Baden Württemberg und in Nordrhein Westfalen. Die jetzt aktuellen Landesfürsten und Fürstchen sollten den alten Spontispruch noch kennen und fürchten: "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!"

“Der Mond ist aufgegangen”, Mitteldeutsche Zeitung, 07.10.2013

von Joachim Lange
Es war einmal in Gallien: André Bücker eröffnet die neue Spielzeit mit Vincenzo Bellinis tragischer Oper “Norma”.

Dass “Norma” nicht durch die Übermacht Verdis in der Versenkung verschwunden ist, liegt zu allererst an der verführerischen Musik Vincenzo Bellinis (1801-1835). Und an Maria Callas. Durch sie ist nicht nur “Casta Diva”, das Gebet der Priesterin Norma, zum Wunschkonzert-Hit geworden. Nach ihr haben sich alle großen Primadonnen daran versucht. Bis hin zu Edita Gruberova oder Cecilia Bartoli. Wer sich als Sängerin an Norma heranwagt, ist schon ziemlich mutig. Die Belcanto-Fans haben ihre Referenz CDs gut im Ohr.
Angelina Ruzzafante traut sich das in André Bückers Eröffnungs-Inszenierung der neuen Spielzeit in Dessau. Und sie ist klug genug, um auf ihre Stärken, wie ihre sichere und betörend klare Höhe zu setzen, und nicht in einen dramatischen Wettstreit zu treten, den sie nicht gewinnen kann. In der Geschichte rät die Priesterin den von den Römern unterdrückten Anhängern eines Mondkultes in Gallien vom Aufstand gegen die Besatzer ab. Dafür hat sie allerdings einen höchst persönlichen Grund - sie hat nämlich mit dem römischen Prokonsul Pollione nicht nur eine heimliche Beziehung, sondern sogar zwei Kinder (was irgendwie niemand mitgekriegt hat).
Heimliche Liebe
Die Sache fliegt auf, als sich der Tenor, dem Sung Kyu Park zwar wuchtige (schwarz uniformierte) Gestalt aber wunderbar geschmeidige Strahlkraft verleiht, von ihr ab- und dem Mezzo im Stück, der Nachwuchspriesterin Adalgisa, zuwendet. Rita Kapfhammer ist mit ihrer warmströmenden, wunderbar schmiegsamen Stimme allerdings auch die pure vokale Verführung und sorgt für das vokale Glanzlicht des Abends. Als die Novizin der Priesterin ihre heimliche Liebe anvertraut und den Namen ihres Liebsten nennt, will Norma erst (wie Medea) ihre Kinder umbringen, um sich an deren Vater zu rächen. Dann entfesselt sie aber doch lieber das große Gemetzel und steigt selbst (wie Brünnhilde oder Dido) auf den Scheiterhaufen. Das vorzügliche Trio wird durch Thomas Skambraks als sonorer Oberpriester Oroveso und Kristina Barans wache Norma-Vertraute Clotilde, vor allem aber durch den von Helmut Sonne bestens präparierten Chor ergänzt. Zugegeben, das ist kaum inszenierbar. Zumal sich der schöne Gesang (Belcanto ist eben Belcanto) mit Macht nach vorne drängelt. Und der gehört zusammen mit dem was Daniel Carlberg der Anhaltischen Philharmonie im Graben entlockt, zur Habenseite des Abends. Was bei dieser vor-verdischen Spielart der Oper tatsächlich auch das Wichtigste ist.
Um es freundlich zu sagen: Die Inszenierung kommt dem nicht in die Quere. Die Bühne von Bernd Schneider ist dunkel und leer. Nur das Holz, aus dem zum Finale der Scheiterhaufen geschichtet wird, liegt herum. Dass die Kinder hier nur unter Aufsicht mal im Dunkeln spielen dürfen, weil die eh immer am schlimmsten dran sind, ist das eine Statement. Ein optisches Zitat aus Lars von Triers Weltuntergangsopus “Melancholia” von 2011 ein anderes. In dem Filmopus rast ja zu einer Tristan-Tonspur vom Feinsten der Mond auf die Erde zu und vernichtet sie.
Mit Äxten und Knüppeln
Im Falle des Bellini-Klangrausches senkt sich der übermächtige Mond beim Gebet Normas herab, nimmt verschiedene Färbungen an, dient dann als heiliger Gong, verschwindet aber auch wieder. Den Untergang besorgen die Menschen selbst.
Ansonsten haben es die Protagonisten mit unterstützender Operngeste vor allem an der Rampe gut. Und das Volk, das Suse Tobisch etwas tümelnd auf Mitte voriges Jahrhundert gekleidet und mit Äxten, Knüppeln, Dreschflegeln und allem, was sich noch zum Dreinschlagen eignet, ausgestattet hat, rückt immer mal an, wartet aber vor allem auf seine Aufstandsstunde. Und stürzt sich zu (un-)guter Letzt mit blanker Mordlust auf Norma. Vielleicht gewinnt die Szenerie ja Prägnanz, im bewusst gesuchten Kontext zur Schauspieleröffnung mit Ibsens Nora. Die Plakate deuten das an. Für sich genommen ist diese “Norma” szenisch eher schmale Kost. Zum Glück geht’s beim Belcanto, mehr als sonst, vor allem um den schönen Gesang.

“Begeisternd, dramatisch, Belcanto”, Volksstimme, 07.10.2013

von Helmut Rohm

Nach 160 Jahren kehrt die Bellini-Oper “Norma” auf die Dessauer Bühne zurück

Sorgsam behütet von einer Vertrauten spielen zwei kleine Kinder. Nachts, in einem Wald, an einer heiligen Stätte. Die beiden sind das streng gehütete Geheimnis der Oberpriesterin Norma. Vincenzo Bellinis Oper “Norma” erlebte am Freitag am Anhaltischen Theater Dessau ihre Premiere.

Bei aller Vorsicht vor zu überschäumender Euphorie und im Bemühen zur Objektivität - diese Premiere wurde zu einer künstlerischen Sternstunde für Angelina Ruzzafante. Sie brillierte in der Titelrolle der Norma mit herausragender dramatisch glaubhafter Präsenz und hinreißendem Belcanto-Gesang, mit in allen Höhen und Tempi in müheloser Perfektion präsentierten Koloraturen.

Regisseur André Bücker hatte darüber hinaus mit Sung Kyu Park (Pollione) und Rita Kapfhammer (Adalgisa) in den beiden anderen Hauptpartien Künstler in Augenhöhe mit Angelina Ruzzafante besetzt.

Thomas Skambraks (Oroveso), Kristina Baran (Clotilde) und Leszek Wypchlo (Flavio) vervollständigen ein Sänger-Darsteller-Ensemble, das den Figuren mit bestem Gesang und mindestens gleichgewichtigem ausdruckstarkem Spiel auf der räumlich großen Bühne Charakter gibt. Es war faszinierend, wie durchgängig spannungsvoll der oft “nur” von Arien, Duetten oder Terzetten getragene Handlungsfortgang gestaltet wurde. Der Chor (Leitung Helmut Sonne) gefiel in seiner wirkungsvollen Einheit von Gesang und Spiel.

Die Anhaltische Philharmonie agierte differenziert und ausgewogen, ließ die Musik klangfarbenreich erklingen. Dirigent Daniel Carlberg gelang es bestens, das Orchester intensiv auf die stimmige Sänger- und Chorbegleitung auszurichten.

Bernd Schneiders Bühnenbild aus einem abgestorbenen Waldstück mit einen einzelnen hervorragenden Baumstumpf (mit Altarbedeutung) hat Symbolcharakter, lässt Zeitlosigkeit der Handlung zu. Kostüme und Ausstattung (Suse Tobisch) könnten vielleicht an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern.

Eindeutig dagegen sind die Hauptkonflikte dieser zuletzt im Jahr 1846 in Dessau aufgeführten Oper: Die Gallier wollen sich von der langanhaltenden römischen Besatzung befreien. Die auserwählte Führerin, die Oberpriesterin Norma, ist zögerlich und gebietet Abwarten. Die Priesterin ist zerrissen zwischen Liebe und dem Vaterland

In ihrem Seelen-Inneren wird sie allerdings förmlich zerrissen zwischen der heimlichen Liebe zum römischen Prokonsul Pollione, dem Vater ihrer beiden Kinder, sowie ihrer vaterländischen Pflicht. Eine ungemein dramatische Zuspitzung des scheinbar unlösbaren Konflikts ergibt sich aus der Liebe Polliones zur jungen Priesterin Adalgisa. Sie erzählt Norma von ihrer Liebe zu einem jungen Römer. Norma erlebt dabei ihre eigene Geschichte gedanklich noch einmal. Nur der Zuschauer weiß bis dahin, dass es sich um Pollione handelt.

Die Spannung steigert sich wie vor einem Vulkanausbruch. Als der Name fällt, kommt es gewissermaßen zur Gefühls-Explosion. Bei Norma wandelt sich die Liebe in Hass. Auch auf sich selbst, die ihr Priestergelübde einst gebrochen, sich mit dem Feind eingelassen hat.

Auf der Bühne erlebt der Zuschauer meist wenig äußere Aktion, die Zerrissenheit, die Stimmungsschwankungen vollziehen sich im Inneren, in den bedrückenden, schon körperlich schmerzhaften Gedankensprüngen. Sich selbst töten? Ihre Kinder töten? Wie wird sie sich entscheiden? Auch im Verhältnis zu Pollione, der sich trotz Bitten und Flehen nicht umstimmen lässt? Norma schlägt den göttlichen Gong, ruft zum Krieg. Schließlich gibt sie ihren Verrat preis, gibt ihre Kinder in des Vaters Obhut und - opfert sich selbst

“Das Anhaltische Theater Dessau überrascht immer wieder mit Inszenierungen, die man einfach gesehen haben muss.”, nacht-gedanken.de, 05.10.2013

von Corinna Klimek

Das Anhaltische Theater Dessau überrascht immer wieder mit Inszenierungen, die man einfach gesehen haben muss. Auch wenn diese Norma etwas spartanisch daher kommt, hat sie doch eine intensive Ausdruckskraft, die man leider selten auf der Bühne findet.

Norma ist Hohepriesterin eines gallischen Kultes und hat eigentlich Keuschheit geschworen. Dennoch ist sie dem Prokonsul Pollione verfallen, der die römische Vorherrschaft durchsetzt und ihr Volk unterdrückt, sie hat sogar zwei Kinder mit ihm. Als ihr Volk auf einen Krieg gegen die Besatzer drängt, mahnt sie zur Ruhe. Pollione hat sich derweil eine Jüngere gesucht, Adalgisa, ebenfalls Priesterin, die von der vorhergegangenen Beziehung zwischen Norma und Pollione nichts wusste. Als sie davon erfährt, wendet sie sich von Pollione ab. Norma ist fassungslos und rächt sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Sie droht, die eigenen Kinder umzubringen, dann stachelt sie ihr Volk zum Aufstand gegen die Römer an. Sie nutzt ihre herausgehobene Stellung aus, um ihre privaten Rachegelüste zu befriedigen. Als Pollione als Menschenopfer dargebracht werden soll, schafft sie es nicht, ihm den Todesstoß zu versetzen. Sie bricht zusammen und gesteht ihrem Volk den Bruch ihres Keuschheitsgelübdes und den Verrat durch die Liebesbeziehung zum Feind. Das Volk wendet sich von ihr ab, Pollione erkennt doch noch seine Liebe zu ihr und sie gehen gemeinsam auf den Scheiterhaufen.

Norma ist wohl die die beste Belcanto-Oper, wird aber selten gespielt, weil sie so schwierig zu besetzen ist. Im Anhaltischen Theater Dessau kam sie jetzt zur Eröffnung der 219. Spielzeit nach über 100 Jahren wieder auf die Bühne. Die Norma wird als klassizistisches Werk angesehen und die Edelheit und Schlichtheit sollen sich im Bühnenbild von Bernd Schneider widerspiegeln. Dieses besteht eigentlich nur aus drei Elementen: auf dem Boden herumliegende Stämme, die den Wald symbolisieren sollen. Ein ziemlich toter Wald, außerdem haben mich die Stämme im ersten Akt ziemlich genervt, weil die Akteure ständig drübersteigen mussten, das sah manchmal nicht sehr schön aus und hat auch eine große Unruhe hineingebracht. Allerdings ist ihre Verwandlung am Ende absolut fabelhaft und das hat mich wieder versöhnt. Dann der Mond, blutrot pulsierend hängt er über den Liebenden, die nicht sein dürfen, gelb-orange glühend feuert er die Kriegslust an. Die Bilder waren wirklich sehr schön, die der Mond gezaubert hat. Dann noch der Vorhang, mit vielen Durchgängen, mit dem konnte ich aber nicht wirklich was anfangen. Die Kostüme bilden wage den Ansatz ab, die Handlung in die Vierziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts zu verlegen und damit die deutsche Besetzung von Frankreich anzudeuten. Sie sind nicht immer wirklich gelungen, die Norma sieht im ersten Akt aus wie eine Jahrmarktshellseherin und agiert auch so, die Römer stecken in schwarzen Ledermänteln, bei denen man aber dankenswerterweise auf irgendwelche aussagekräftige Symbole verzichtet hat. Hätte man mich zur Pause gefragt, wie es mir gefallen hat, wäre mein Urteil anders ausgefallen als am Ende. Der zweite Akt und hier ganz besonders der Schluss, das den Regieansatz von André Bücker, der sich mit dem Status von Müttern, die sich mit den Besatzern eingelassen haben, beschäftigt, besonders deutlich macht, lässt kleine Unzulänglichkeiten im ersten Akt vergessen. Das Ende ist ein so starkes Bild, dass das Publikum, das zuvor noch – nicht immer passend – ausgiebig klatschte, kollektiv den Atem anhielt und vor dem großen Beifallssturm noch ein, zwei Sekunden in Stille nachwirken lies. Dem Anhaltischen Theater Dessau ist es gelungen, die sehr gute Sängerriege aus dem Ensemble heraus zu besetzen. Angelina Ruzzafante sang die schwere Partie der Norma fantastisch, ebenso wie Rita Kapfhammer, die die innere Zerrissenheit von Adalgisa auch noch hervorragend darstellte. Sung-Kyu Park erwies sich in der Partie des Pollione als echter Belcantotenor. Thomas Skambraks verlieh Orovese eine imposante Gestalt durch seine Stimme, mit der Darstellung der körperlichen Leiden von Normas Vater übertrieb er es am Schluss aber ein bisschen. Kristina Baran, Leszek Wypchlo, der von Helmut Sonne erneut hervorragend einstudierte Chor sowie die beiden kleinen Mädchen, die die Söhne Normas darstellten, ergänzten Hauptpartien sehr gut. Die Anhaltische Philharmonie unter Daniel Carlberg fand nach anfänglichen kleinen Schwierigkeiten zur gewohnten Höchstform und machte aus einem guten Abend einen besonderen Abend.

zu „Iphigenie auf Tauris“

Helmut Rohm, Volksstimme, 18.07.2013

André Bücker inszeniert Goethe-Stück als Sommertheater des Anhaltischen Theaters in Wörlitz
Iphigenies Rückkehr auf die Felseninsel
Hier ist ietzt unendlich schön...", schwärmt Goethe 1778 in einem Brief aus Wörlitz an Charlotte von Stein. Wie groß wäre seine Freude, hätte er die am Freitag begeistert aufgenommene Premiere seines Schauspiels "Iphigenie auf Tauris" auf der Wörlitzer Insel Stein miterleben können.
Sehr zufrieden wäre ebenfalls Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, dass dieses Stück über Humanität und Idealismus auf der von ihm ab 1788 in den Wörlitzer Anlagen angelegten Felseninsel aufgeführt wird. Er selbst hatte es auch 1794 zur Eröffnung des dortigen Amphitheaters ausgewählt.
André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, hat das reizvoll natürlich gegebene Ambiente dieser Anlage mit dem Inhalt des Stückes um Iphigenie zu einem Gesamterlebnis verwoben. Die Spielfläche wurde zum Hain vor dem Tempel der Göttin Diana auf der Insel Tauris. Im Zentrum ist ein Opferaltar platziert. Ein Dolch weist auf die dort vorgenommenen Rituale der Menschenopfer hin. Zwei Tempeldienerinnen entzünden Feuer- und Duftschalen.
Im hinteren Teil agiert Percussionist Alex Wäber. Der international erfolgreiche Musiker verleiht mit längeren Passagen und kurzen, einzelnen Szenen unterstützenden Sequenzen der Dramatik zusätzliche Spannung und emotionale Wirksamkeit. Einfallsreich gestaltete Kostüme im kontrastierenden Schwarz -Weiß verleihen der Handlung starke Symbolkraft.
Iphigenie schreitet von der Tempelanhöhe durch die Zuschauerreihen herab. In dem mit besten Textverständnis sowie sparsam und effektvoll eingesetzter Mimik und Gestik gestalteten Monolog erfahren von ihr die Zuschauer im vollbesetzten Theaterrund ihre Geschichte. Sie wurde von ihrem Vater Agamemnon geopfert, von der Göttin Diana gerettet und nach Tauris entführt. Hier dient sie unter dem Schutz des Königs Thoas als Tempelpriesterin. Dank ihres Wirkens wurde der Brauch des Menschenopfers abgeschafft. Doch zufrieden ist sie nicht. Groß ist ihre Sehnsucht nach ihrer griechischen Heimat. Der Gewissenskonflikt zwischen Pflichterfüllung und persönlichen Wünschen gewinnt plötzlich an Brisanz, als Iphigenie den Heiratsantrag des Königs ablehnt. Da hilft auch die Argumentation von des Königs Diener und Berater Arkas nicht viel.
Die Konsequenz der Ablehnung: Der frustrierte König will den alten Ritus wieder einführen.
Und just zur gleichen Zeit werden zwei griechische Eindringlinge aufgegriffen, die dieses Schicksal treffen soll. In den Gefangenen erkennt Iphigenie ihren Bruder Orest, der vom Fluch der Erinnyen besessen ist, und dessen Freund Pylades. Gemeinsam beschließen die drei zu fliehen.
In einer der wohl stärksten emotionalen Szenen lässt Katja Sieder den Zuschauer tief in die Seele der Iphigenie blicken. Ihre Zweifel, Ängste, Wünsche, Sehnsüchte, doch auch Toleranz und Fairness zu dem, der ihr Schutz bot, führen innere Kämpfe.
Wahrheit und Pflichterfüllung siegen. Sie offenbart sich dem König. Es droht der offene Kampf zwischen Orest und Thoas. Da ist es Iphigenie, die mit dem Appell an Humanität und Menschlichkeit das Unheil abwendet. Thoas lässt Iphigenie, Orest und die Gefährten ziehen. Humanität und Menschlichkeit siegen.
André Bücker hat dieses klassische Stück in klassischer Theatermanier auf die Bühne gebracht, bar jedweder Modernisierung. Doch wohl gerade deswegen hinterlässt diese Wörlitzer "Iphigenie" eine starke Wirkung, liegen doch die aktuellen Parallelen bezüglich Toleranz, Humanität, Identität, Gewaltverzicht auf der Hand.

Kai Agthe, Mitteldeutsche Zeitung, 16.07.2013

Anhalts Seelenlandschaft

WÖRLITZ Das Anhaltische Theater Dessau zeigt "Iphigenie auf Tauris" im Gartenreich. Vor gut 220 Jahren war Goethes Drama hier erstmals zu sehen.
Wäre dieser Abend zu malen, es bräuchte einen Landschaftsmaler vom Format eines Antoine Watteau oder Claude Lorrain, denn er müsste als arkadische Idylle in Szene gesetzt werden. Als am vergangenen Freitag das Sommerstück des Anhaltischen Theaters Dessau seine Premiere im Wörlitzer Gartenreich feierte, stimmte atmosphärisch einfach alles: Es war ein lauer Abend mit blauem Himmel, Schönwetterwolken und vielstimmigem Vogelgezwitscher. Kaiser- oder, wie in Wörlitz zu sagen wäre, Fürstenwetter herrschte zur ersten Aufführung von Goethes Schauspiel "Iphigenie auf Tauris" im Amphitheater unterhalb der Replik der Villa Hamilton und des künstlichen Vulkans auf der Insel Stein. Eine mediterran anmutende Kulisse, die man sofort als "Hain vor Dianens Tempel" (wie es in Goethes Regieanweisung heißt) akzeptiert - und die wir Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740-1807) verdanken. Der eröffnete sein antikisierendes Freilufttheater 1794 mit eben jenem Goethe-Drama.
"Iphigenie auf Tauris" fast genau 220 Jahre später wieder an diesem Ort aufzuführen, ist also nur folgerichtig. Auch inhaltlich. Sommertheater heißt ja vor allem, was legitim ist, dass die Bühnen landauf, landab eher leichte Unterhaltung anbieten. Im Refugium Wörlitz jedoch wird der Zuschauer am Beispiel von Iphigenies und ihres Bruders Orest Schicksal in reimlosen Versen mit existenziellen Fragen des Menschseins konfrontiert.
Goethes "Iphigenie" ist einerseits als schwer verständlicher Schülerschrecken verschrien, andererseits bis heute ein dankbarer Zitaten-Lieferant: "Das Land der Griechen mit der Seele suchend" etwa ist Iphigenies Auftrag, den sie im Eingangsmonolog an sich selbst richtet. Ein Ausspruch, der auch zum Leitthema der deutschen Klassik wurde.
Das Faszinierende an dieser Dichtung ist, dass es primär kein Lesedrama ist, sondern ein Stück, das aufgeführt werden will und muss, um als Sprachkunstwerk in den Bann zu ziehen. Der Rezipient müht sich mit dem Bühnenstück, wenn es als Text vor ihm liegt, aber es entfaltet große Suggestivkraft, sobald es gespielt wird - zumal so vorzüglich wie jetzt in Wörlitz.
Dort braucht man auch nicht viele Utensilien, weil das baum- und buschbestandene Amphitheater Kulisse genug ist. Das mag auch Suse Tobisch, die für die Ausstattung verantwortlich zeichnete, beim ersten Ortstermin gedacht haben. Ein Altar, zwei metallene Schalen, ein paar Opferfeuer und Weihrauchgefäße überall im Rund genügen, um eine stimmige Theateratmosphäre zu schaffen. Die Kostüme der Beteiligten sind schwarz oder weiß gehalten und zitieren in ihrem Zuschnitt verschiedene archaische Kulturen.
Das Personal ist überschaubar. Fünf Akteure tragen "Iphigenie". Allen voran die Titelfigur: Katja Sieder erfüllt die Erwartung, die man von dieser Figur hat, vollkommen und erinnert an Corona Schröter, die erste Darstellerin der Iphigenie in Weimar, wie sie Johann Daniel Falk beschrieb: "Majestät in Anstand, Wuchs und Gebärden, nebst vielen anderen seltenen Vorzügen der ernsteren Grazie." Diese Iphigenie mag eine fragile Person sein, doch sie ist, bei aller gebotenen Demut gegenüber Thoas, eine sehr selbstbewusste Frau, die Skrupel kennt, aber aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht - und den Taurierkönig auch daran erinnert, dass sie so frei geboren sei wie ein Mann. Eine edle Rebellin in "ernsten heilgen Sklavenbanden", ist die Tochter des Agamemnon hin- und hergerissen zwischen der Pflicht, das Priesteramt auf Tauris auszufüllen, und der Neigung, in ihre Heimat fliehen zu wollen. An ihrem eigenen Geschick entscheidet sich die Frage: "Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?" Das kommt nach Tauris in Gestalt von Orest. Dass es ihr Bruder ist, stellt sich erst im Lauf des Geschehens heraus.
König Thoas, der am Beginn des Stücks gerade von einem Kriegszug zurückgekehrt ist, mit dem er den Tod seines Sohnes blutig rächte, hält zwiefach und auf Knien um die Hand der Diana-Priesterin an, die aber das Ersuchen von sich weist. Nicht nur hier beweist Thoas Größe, da er sie leicht zwingen könnte, sondern auch am Ende: Denn mit einem schlichten "Lebt wohl!" entlässt er Iphigenie und Orest aus seiner Gefangenschaft in ihre griechische Heimat. Stephan Korves spielt Thoas als gebrochenen Mann, der Macht hat, aber diese nicht missbraucht, der, obwohl im Kampfe unbesiegt, lädiert ist an Herz und Seele.
Orest ist, ebenso wie Thoas, ein an Leib und Seele Versehrter. Sebastian Müller-Stahl spielt diesen entsprechend als erschöpften, ja lebensmüden Krieger. Während Thoas sein Leid nach innen kehrt, schreit Müller-Stahls Orest sein Unglück dem Himmel entgegen, auf das ihn die Götter hören und schaudern mögen. - "Iphigenie" ist auch ein Stück, das den beiden Nebenfiguren, Pylades und Arkas, Gelegenheit gibt zu glänzen. Pylades ist der lebenskluge Weggefährte des Orest und ein wahrer Freund, der seinem Herren nicht von der Seite weicht - nicht auf Tauris und auch nicht im Schlund der Hölle. Patrick Rupar ist als Pylades auch ein guter Kamerad, der Orest lautstark zu ermahnen weiß, wenn dieser wieder einmal verzagen will, ihn aber buchstäblich trägt, wenn er nicht mehr weiter kann. Arkas wiederum ist das Sprachrohr von König Thoas. Er erscheint stets in einer Art Stechschritt, den er von Monty Pythons "Ministerium für albernes Gehen" verordnet bekommen oder sich von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett - mit dem der Bauhaus-Meister Figur und Raum neu in Beziehung setzte - abgeschaut haben muss. Elemente, die in André Bückers Inszenierung auf jeden Fall für Heiterkeit sorgen. Jan Kersjes als Arkas spielt mit großer Inbrunst und solch stimmlichem Volumen, dass man ihn noch im Wörlitzer Schloss hätte vernehmen können.
Begleitet wird das Spiel von dem Percussionisten Alex Wäber, der seine zahllosen Trommeln und Becken dezent, aber wirkungsvoll an besonders dramatischen Punkten des Geschehens einsetzt. Eine sehr gelungene Inszenierung mit überzeugender Ensemble-Leistung. Der Beifall des rundum begeisterten Wörlitzer Premierenpublikums war entsprechend.

zu „Siegfried“

Andreas Hauff, www.nmz.de, 26.06.2013

Spieler beim Spielen: Halbzeit beim Dessauer „Ring“ – trotz Hochwasser und Gegenwind

Wagners „Ring“ gibt es in letzter Zeit an ungewöhnlich vielen Theatern zu erleben. Der Dessauer „Siegfried“ allerdings verdient besondere Beachtung – nicht nur, weil das Anhaltische Theater die Tetralogie von hinten begonnen hat und mit der letzten Aufführung der Saison nun in die Halbzeit gegangen ist, und nicht nur, weil das Theater am 28. Juni in einer symbolischen Aktion in der Stadt „verankert“ werden soll. „Der Held“, schreibt der Dessauer Autor Andreas Hillger im lesenswerten „Siegfried“-Programmheft, „muss eine als ‚Quest’ bezeichnete Hauptaufgabe lösen, deren Inhalt und Konsequenzen sich oft erst mit dem Fortschritt des Spieles erschließen. Unterwegs begegnen ihm dabei nicht nur diverse Gegner, deren Fähigkeiten parallel zu seinen eigenen Erfahrungswerten zunehmen und im Fall des Sieges auf ihn übergehen können. Durch Tausch, Kauf oder Kampf erwirbt er zudem immer wirkungsmächtigere Gegenstände, ohne deren Hilfe sich der Weg zum Ziel kaum bewältigen lässt.“ Hillger beschreibt die typische Struktur eines Computer-Rollenspiels, und siehe da: Wagners Siegfried-Figur passt genau hinein.

Und so finden wir denn, wenn der weiße Vorhang vor André Bückers Inszenierung sich gelichtet hat, auf der Bühne in einem ziemlich vollgemüllten Zimmer zwei Männer, die völlig fixiert auf ihren Laptop-Bildschirm sind und leidenschaftlich den Rhythmus des Schmiedethemas in die Tastatur hacken: Siegfried (Peter Svensson) und Mime (Albrecht Kludszuweit). Hinter ihnen erstreckt sich eine Art überdimensionaler Dreiflügelaltar: In der Mitte eine kitschige Waldszene, wie sie einer alten „Siegfried“-Inszenierung entstammen könnte, auf der linken Seite eine bewegte Computer-Animation, auf der rechten Seite die technischen Daten des Spiels, in die sogar die Übertitelung von Wagners Libretto integriert ist.

Es bleibt nicht bei diesem Bild. Nach einer Weile erleben wir eine 3D-Animation der Wohnung, zu der das Zimmer gehört, es flimmern Computerdaten über die Leinwand, es werden Spielstände und Ausrüstungen eingeblendet (Siegfried gegen Mime oder Mime gegen Wotan). Auf der realen Bühne erscheinen reale Kuben und Tetraeder, die einer 3D-Animation entnommen sein könnten. Bühnenrolle und Bildschirmrolle vermischen sich. Als Wanderer tritt Wotan (Ulf Paulsen) ganz real in Mimes Behausung: Angewidert stochert er mit seinem Speer im herumliegenden Geschirr und Essensresten. Als Siegfried ihm im 3. Akt den Speer zerschlägt, stürzt Wotans Programm ab; „Error“ vermeldet der Bildschirm, und dann gibt es nur noch Siegfried und Brünnhilde (Iordanka Derilova), die am Ende in die staksend-roboterhafte Bewegung verfallen, die die Ästhetik der letztjährigen „Götterdämmerung“ geprägt hat.

Dem geglückten, geschickten Ineinander von Regie, Bühne (Jan Steigert), Projektionen (Frank Vetter, Michael Ott) und Kostümen (Suse Tobisch) ist ein ebenso spannender wie unterhaltsamer Wagner-Abend zu danken. Nicht nur gibt es immer wieder etwas Neues zu sehen. Die Computerspiel-Ästhetik erlaubt der Regie auch, ungeniert das Spielerische im „Siegfried“ zuzulassen und die Geschichte naiv, bildhaft und spontan wie ein Märchen zu erzählen. Das Weihevolle, das Raunende, das Germanentümelnde ist ganz draußen aus dieser Inszenierung, aber auch die Verkrampfungen und das Gesuchte des Regietheaters. Stattdessen beobachtet das Publikum Spieler beim Spielen – und kommt dabei durchaus ins Nachdenken darüber, wer hier welches Spiel treibt und warum.

Es darf auch gelacht werden – etwa wenn das Waldvögelein (Angelina Ruzzafante) sich bei Siegfrieds kläglichen Versuchen auf der Flöre spontan die Ohren zuhält oder wenn Siegfried bei Brünhildes Anblick höchst erstaunt ausruft „Dies ist kein Mann!“ Die szenische Entkrampfung trägt hörbar dazu bei, das Miteinander von Szene und Musik zu steigern. Subtil bringt die Anhaltische Philharmonie Dessau unter GMD Antony Hermus die Nuancen der Partitur zur Geltung: Die Stimmen der Sänger tragen ausgezeichnet, beeindruckend ist die gute Textartikulation. (Stefan Adam als Alberich, Dirk Aleschus als Fafner und Rita Kapfhammer als Erda sollen hier nicht verschwiegen werden.) Am Ende ist sogar Siegfried und Brünnhildes langer, oft überlang wirkender Dialog ansprechend und spannend.

Neben dem theatralischen Gewinn und der beachtlichen künstlerischen Leistung ist auch der kulturelle Impuls nicht zu unterschätzen, den das Anhaltische Theater mit dieser Inszenierung setzt. Virtuelle Welt und Theater sind nämlich so weit nicht voneinander entfernt, wie die jeweiligen Macher glauben mögen. Ähnlich wie Richard Wagner bedienen sich auch die Entwickler von Computer-Spielen aus dem reichen Vorrat von Figuren und Symbolen von Menschheitsgeschichte und Mythologie und arbeiten mit an deren Fortschreibung. Selten gelingt es bislang dem Theater, an die Erfahrungen und Bedürfnisse der Spiele-Nutzer anzuknüpfen. Umgekehrt ist einige Ignoranz am Werk, wenn Autoren des jüngst abgeschlossenen Funkkollegs „Wirklichkeit 2.0 – Medienkultur im digitalen Zeitalter“ des Hessischen Rundfunks gegen das traditionelle Feuilleton polemisieren, ohne auch nur einen Gedanken an Berührungspunkte zu verwenden.

Dass die letzte „Siegfried“-Vorstellung der Saison überhaupt stattfinden konnte – wenn auch mit einer halben Stunde Verspätung –, war keine Selbstverständlichkeit. Inmitten der katastrophalen Hochwasserwelle an Elbe, Mulde und Saale kam die Stadt Dessau-Roßlau glimpflich davon. Aber die Umstände zeugten davon, dass bei aller Virtualität wir Menschen primär materielle Wesen in einer materiellen Welt sind. Gerade das Theater mit seinen real existierenden Akteuren ist geeignet, das zu zeigen. Durch Kino oder Computer lässt es sich nicht ersetzen. Für den 28. Juni hat das Anhaltische Theater Stadt und Region nun zu einer theatralischen Aktion aufgerufen: „Das anhaltische Theater Dessau ist eigentlich ein sehr stabiles Gebäude, das im Laufe seiner Existenz schon vielen Stürmen getrotzt hat. Nun aber droht ein rauer Wind, der aus Richtung Magdeburg weht, dieses Haus aus seine Fundamenten zu reißen und wegzutragen. Dagegen hilft nur eins: Wir müssen unser Theater sichern, indem wir es noch fester in Dessau-Roßlau verankern. Deshalb wollen wir am 28. Juni ab 11.55 Uhr (…) Pflöcke einschlagen. Daran werden wir Schnüre, Seile und Taue befestigen, die wir vom Dach und aus den Fenstern des Hauses herunterlassen. (…) Wir brauchen die Kraft aller Menschen, die dieses Haus und sein Ensemble in ihrer Stadt halten wollen.“

Man darf wohl fragen, welcher Furor die sachsen-anhaltinische Landesregierung in Magdeburg reitet, wenn sie für 2014 radikale Kürzungen im Kulturetat plant, die die Existenz der verbliebenen Theater und Orchester gefährden. Dies geschieht nur wenige Monate, nachdem der vom Landtag in Magdeburg eingesetzte Kulturkonvent das genaue Gegenteil, nämlich eine Erhöhung des Kultur-Etats, empfohlen hat. (Allein die Entmündigung des Landtags müsste jedem einzelnen Abgeordneten zu denken geben.) Der Bericht des Kulturkonvents dokumentiert, wie viele Theater und Orchester in den letzten 20 Jahren schon verschwunden sind, wie viel Arbeit die noch bestehenden Institutionen inzwischen in die Kinder- und Jugendarbeit investieren, und dass die Hochschulen im Bundesland „sich zu ausgesprochenen Magneten für den Zuzug junger Menschen entwickelt haben.“ Da scheint es also doch noch einen Gegentrend zu geben zu Bevölkerungsschwund und Abwanderung, Rückbau von Städten und Überalterung! Auf die stereotype und fantasielose Politiker-Frage „Können wir uns Kultur noch leisten?“ kann man also nur mit der Gegenfrage antworten: „Können wir uns leisten, keine Kultur zu haben?“

Sebastian Barnstorf, Das Opernglas, Mai 2013

DESSAU
Siegfried
30. März

Bereits bei der letztjährigen Premiere der „Götterdämmerung“ hatte sich angedeutet, zu welcher Leistung das Anhaltische Theater Dessau beim Vorhaben, den gesamten „Ring des Nibelungen“ in umgekehrter Reihenfolge auf die Bühne zu bringen, fähig ist. Nach der Premiere des „Siegfried“ zeigte sich nun, dass der sogenannte „Bauhaus-Ring“ stilbildend sein könnte: In inszenatorischer Hinsicht ist schon jetzt Grandioses gelungen! Der Regisseur und Intendant des Hauses André Bücker stellt seine mannigfaltigen Ideen und Einfälle ganz in den Dienst des Werkes. Sein großes Verdienst ist, dass er nie überintellektualisiert und verkopft daherkommt, sondern immer erklärend und aus dem Kontext heraus entwickelt. Hier wird die Modernität Wagners vermittelt, ja zelebriert und in Zusammenhang mit der Geschichte Dessaus als Ursprung des Bauhauses und der klassischen Moderne gesetzt. Allerdings gestaltete sich diese Umsetzung beim nun gezeigten „Siegfried“ ungleich schwerer als bei der „Götterdämmerung“ zuvor, ist doch der zweite Tag des „Ring“ eher ein Scherzo. Doch Bücker gelingt das Famose: Er setzt die Symbol- und Formensprache des Bauhaus-Stils in den Kontext von Digitalisierung, IT und vor allem von Computerspielen. „Tetris“, eines der ältesten und bekanntesten Computerspiele, wird im ersten Akt von Mime gespielt und erweist sich mit seinen herabfallenden Formen aus zusammengesetzten Quadraten als Fortsetzung der würfelartigen Symbol- und Formensprache des Bauhauses (Bühne Jan Steigert). „Siegfried“ ist ein großartiges 3D-Game, dass zwischen Mime und Siegfried als pubertierendem Rapper in klarer „Checkermanier“, die für ihn hier zunächst äquivalente Ausdrucksform im Sinnt der Meyerholdschen „Biomechanik“ ist, ausgetragen wird.

Auf den linken und rechten weißen Rand des wie in der „Götterdämmerung“ schon zentral für alle Akte als Reminiszenz an Kasimir Malewitsch fungierenden schwarzen Quadrats (in dem sich das Drama entfaltet) auf weißem Grund werden die jeweiligen Spielstände angezeigt. Auf der Habenseite verbucht Siegfried schnell das Schwert, das er nicht schmiedet, sondern in seinem Heim als junger, unbedarfter „Computer-Nerd“ inmitten von Junkfood, Konserven und Dosen durch Einloggen in die Datenstruktur mittels Headset und digitalem Handschuh virtuell „zusammenfrickelt“. Wenn er Fafner erschlägt, blinkt rot „Highscore“ auf. Zudem kann der Held noch Tarnkappe und Ring auf seinem Spielerprofil verbuchen, während Mime nur einen zweifelhaften Trank gewann, den er ebenso schnell verlor wie das gesamte (Computer-)Spiel. Zuvor hatte er schon bei der „Wissenswette“ des ersten Aktes gehörig an Lebenspunkten eingebüßt, die als „Wer-wird-Millionär“-Spiel zwischen dem Wanderer und Mime ausgetragen worden war.

Und doch kann das „Scherzo“ als Computerspiel nur über die ersten beiden Akte zum Tragen kommen. In dem Moment, als der Waldvogel Siegfried den Weg zu Brünnhilde weist, gerät dieser zum ersten Mal deutlich ins Stolpern und Stocken. In der „Götterdämmerung“ wird er dann nur noch roboterhaft im Stechschritt seinem Ende entgegen marschieren: Das Spiel ist aus. Peter Svensson gab die Titelpartie des Siegfried mit hoher Authentizität und großer Spielfreude. Obwohl sehr deutlich wurde, wie sehr diese schwere Partie den altgedienten Tenor - er war bereits von 1996 bis 1998 Ensemblemitglied in Dessau, reüssierte in der Folge als Siegfried, Tristan und Siegmund, und kehrte schließlich nach einer längeren Pause wieder auf die Bühne zurück - beanspruchte, vermochte er sich durch eine kluge Rolleneinteilung und kontrollierte Intonation insbesondere in den tieferen und lyrischen Lagen wohltuend gegenüber jenen Interpreten abzusetzen, die die Partie mit heldisch angestrengtem Überdruck bestehen. Svenssons Stimme zeichnet sich immer noch durch eine natürlich gewachsene, beseelte Grundanlage aus, die vor allem im Waldweben bestach. Für die strahlkräftigen Schmiedelieder oder die Duette mit der spät erwachenden Partnerin reichte dies aber leider nicht ganz.

lordanka Derilova gestaltete die Partie der Brünnhilde mit gewohnt klarem und dabei doch warmem Ton ihres ausdrucksstarken Soprans, der aber am Premierenabend bisweilen mit etwas überhasteter Phrasierung und starkem Tremolo daherkam. Im finalen Duett („leuchtende Liebe, lachender Tod“) wird übrigens auch Brünnhilde zum Roboter: Mit krampfenden Gliedern im Sinne des nun heraufdämmernden Automatismus des Scheiterns zuckt das Paar geradezu der kurzen, ekstatischen Nacht zwischen „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ entgegen.

Ulf Paulsen als Wanderer gab sich in der Rätsel-Szene des ersten Aktes noch konzentriert und ob seines eher höher gelagerten Baritons betont um die Schwere und Tiefe der Partie bemüht, während er im weiteren Verlauf immer befreiter akzentuierte. Albrecht Kludszuweit gestaltete den Mime mit klarer, differenzierter Intonation seines vielschichtigen Tenors, Stefan Adam sang den Alberich ausdrucksstark und mit agiler Stimmführung, Dirk Aleschus punktete als Fafner mit seinem ausdrucksstarken und sicher geführten Bass. Rita Kapfhammer war eine Erda mit sicher strömendem Mezzo, Angelina Ruzzafante als Waldvogel sorgte mit ihrem jugendlichen, wunderbar aufblühenden Sopran und immer verständlicher Intonation für einen gesanglichen Höhepunkt des Premierenabends.

GMD Antony Hermus führte die Anhaltische Philharmonie Dessau insbesondere im dritten Akt sicher durch die abgeklärten und flirrenden Passagen, während sich gerade im schwierigen ersten Akt und in den weiteren „Parlando-Szenen“ des zweiten Aktes zwischen Alberich und Mime zu viel Hast und schnelle Tempi verheerend auf die Möglichkeit der sängerischen Entfaltung auswirkten. Hier hätte deutlicher zu Gunsten der Sänger und einiger Instrumentengruppen das Tempo reduziert und insgesamt spannungsreicher musiziert werden müssen. Nichtsdestotrotz darf man uneingeschränkt gespannt sein auf die Fortsetzung des „Bauhaus-Rings“ im nächsten Jahr mit der dann anstehenden Neuproduktion von „Die Walküre“.

Helmut Rohm, Volksstimme, 03.04.2013

Stürmischer Beifall für zweiten Teil des Wagner-"Ring"-Projektes am Theater in Dessau
Ein "Siegfried" nah am Original

Nach "Götterdämmerung" 2012 hatte am Sonnabend mit "Siegfried" der zweite Teil von Richard Wagners Bühnenfestspiel "Der Ring des Nibelungen" am Anhaltischen Theater Dessau Premiere. Recht unterhaltsam, meist kurzweilig und spannend sowie durchaus originell. Die übergroße Mehrheit des Publikums befand die Aufführung nach gut viereinhalb Stunden, inklusive zweier Pausen, als sehr gelungen, gab stürmischen Beifall. Anders als üblich ist die dem Dessauer "Ring" zugrundeliegende Aufführungsabfolge. Regisseur André Bücker wählte die Reihung der vier Teile, so wie Wagner sie entstehen ließ - vom Endpunkt aus.
Das Originelle dieser Bücker-Inszenierung lässt sich schnell auf den Punkt bringen: Handlung und Musik sind Wagner pur, nichts weggelassen, nichts erfunden. Modern ist es, doch nicht modernistisch. Erzählt wird mit heutigen Mitteln. Und Bücker ist damit ganz auf Wagner-Trend. Der einmal gesagt haben soll: "Kinder schafft Neues!" Da stockt der Atem eines manchen Zuschauers zunächst schon, als er statt vielleicht erwarteter idyllisch-romantischer Waldhöhle Mimes mit einer von "Segnungen" heutigen Lebens vermüllten Wohnung konfrontiert wird. Mime selbst hämmert wie wild auf einer umgehängten Computertastatur herum. Der brünette Siegfried (Peter Svensson), weniger ein strahlender Held als total unbedarft, schafft sich mit einem Doppel-Joystick. Später wird er sogar mittels Computer-Simulation den berühmten Wagner-Bär "ins Spiel" bringen. Die Erzählerebene ist damit klar im Heute, "gewürzt" mit ferneren Visionen.
Überhaupt lebt diese Inszenierung von realen handlungsbegleitenden, auch irrealen Projektionen, die dem Zuschauer anfangs schon Mühe machten, sich zurechtzufinden. Deutungsvielfalt ließen jedenfalls die von illuminierten Kulissenschiebern bewegten Lattenkonstruktionen zu. Minimiertes Bauhaus-Design? Konzentrierte Handlungsräume? Keine Unklarheiten oder Deutungsvarianten dagegen gab es zum Handlungsverlauf. Trotz guten Textverständnisses gibt es zusätzlich die originalen Übertexte.
Mehr und mehr war es jedoch verblüffend und gut gefallend, wie das Science-Fiction-angehauchte Bühne-Kostüme-Projektionen-Konzept mit der Präsentation der Siegfried-Geschichte zu einer ganzheitlichen Aussage verschmolz - einschließlich Siegfrieds charakterlicher Entwicklung, den Auseinandersetzungen mit und zwischen Mime (durchtrieben Albrecht Kludszuweit), Wotan (souverän Ulf Paulsen), Alberich (agil Stefan Adam), Fafner (mystisch Dirk Aleschus), Erda (erhaben abgeklärt Rita Kapfhammer), Brünnhilde (entzückend KS Iordanka Derilova) und dem Waldvögelein (lyrisch Angelina Ruzzafante).
Und es gibt Szenen, die ungemein wirkungsvoll daherkommen. Etwa, wenn Siegfried sein neues Schwert Notung entstehen lässt. Oder Fafner als großflächiges, lebendes, Angst einflößendes Gesicht erscheint, ebenso wie später die langsam erwachende Brünnhilde - wahre Gefühlskulminationen. Ebenso faszinierend ist das im Hintergrund vorbeiziehende "Weltwissen" der Erda.
Ausnahmslos ist der Dessauer Inszenierung zu bescheinigen, dass die Figuren eindrucksvoll gespielt wurden, dass sie nicht nur prima Stimmen, sondern auch charakterliche Ausstrahlung lebten. Peter Svensson als Siegfried hat diese längste und handlungsintensivste Rolle variabel und meist spannend interpretiert. Wenn auch am Schluss zu spüren war, dass es ihn alle Mühe kostete, es gesanglich "zum guten Ende" zu bringen.
Die Anhaltische Philharmonie unter GMD Antony Hermus interpretierte die Wagnersche Musik mit viel Gespür für Größe und Weite, widmete sich gleichermaßen akribisch den feinen Details. Ganz am Schluss feiern Siegfried und Brünnhilde ihre Liebe. Auch wenn sie, die Götter und die Welt später untergehen werden, wie der Zuschauer ja schon aus "Götterdämmerung" weiß.

Friedeon Rosén, der-neue-merker.de, 03.04.2013

Der “Siegried” in diesem sog. Dessauer ‘Bauhaus-Ring’ ist im Gegensatz zum “Ersten Tag”, der Götterdämmerung (in Dessau wird im ‘Krebsgang’ gespielt), nicht so kubistisch durchstrukturiert, sondern vereint heterogene Momente von Science-fiction, virtueller Welt und Magie. Im ersten Akt sehen wir Mime (mit tollem durchschlagendem Tenor Albrecht Kludszuweit) und Siegfried in einer Wohngemeinschaft wie zwei Nerds, die nur mit Computerspielen beschäftigt sind und den Boden mit Fast-Konsum einmüllen. Siegfried “schmiedet” das Schwert dann virtuell mittels einer in Brusthöhe umgeschnallten Tastatur, deren Klopfen auch die Hammerschläge ersetzt, und auf Großbildleinwand werden die Ergebnisse der Schwerterzeugung übertragen. Wie einen “Ausdruck” erhält Siegfried dann ein wirkliches Schwert. Die gesungenen Dialoge mit Mime sind so rasant wie noch selten gesungen und gespielt, da wurde auch im Anhaltischen Orchester unter der Leitung Anthony Hermus große Wagner-Arbeit geleistet. Einen schön getragenen spannenden Ruhepunkt stellt die Wettszene mit dem Wanderer dar. Ulf Paulsen in einer meergrünen Science Fiction-Kutte mit vorderer Applikation und einem ‘Fernrohr’-Auge (Kostüme Suse Tobisch) singt diese Szene mit Applomb und höhensicherem Bariton-Strom. Rechts und links über den Proszeniumslogen werden wie in einem Computerspiel die Gewinnstände der Kontrahenten angezeigt. Der Drache im 2.Akt (mit fein deklamiertem durchschlagskräftigem Baß Dirk Aleschus) erscheint aus der Tiefenbühne mit großprojizierten Augen wie ein Stangenmensch, während der Waldvogel (der sich fast überschlagende süße Zwitschersopran von Angelina Ruzzafante) wie ein futuristisch blauer Vogel Greif choreographische Bahnen zieht. Ganz magisch und von Kleinstplaneten umwölkt fährt Erda (Rita Kapfhammer mit schönstimmig dramatischem Mezzo) in rotem Faltenrock, der unten zu einer Rotunde ausufert, herauf. Der Alberich ist ein Exote oder Indianer und wird von Stefan Adam mit warmem Baß ausgesungen, den er auch markant in dem fulminanten Schlagabtausch mit Bruder Mime einbringt. Vor dem letzten Akt zumindest hätte sich “Siegfried” Peter Svensson “ansagen” lassen sollen. Erst kurz zuvor von einer starken Erkältung genesen, machte er bis dato seine Sache gut, wobei auch sein gewitztes Spiel ganz prima herüber kam. Leider bricht er dann bei der Erweckung Brünnhildes stimmlich ein. Er ist aber sonst ein diskret charmanter Tenor mit weichem wohlklingendem Kern, mit dem er alle Rollen seines Faches bewältigen kann. Bei dieser Szene kommt wieder der große Ebenholzblock hereingekreist. Brünnhilde liegt drin mit weißem phantasievollen Dress. Iordanka Derilova singt sie wieder ohne stimmliche Probleme mit ihrem kräftig durchgestilten Sopran. Das Orchester spielt hier, abgesehen von wenigen Problemen bei den Blechbläsern, wunderschön aus.

Die Inzenierung André Bückers tut sich mit der Verklammerung der heterogenen Elemente etwas schwer, aber die Ideen sind wirklich nicht schlecht und man ist gespannt auf die Fortsetzung in ‘Walküre’.

Roberto Becker, neues deutschland, 03.04.2013

Im virtuellen Wald

Wagner hat in diesem Jahr Hochkonjunktur. Man könnte fast denken, dass die Macher den im vierteiligen »Ring des Nibelungen« beschworenen Untergang einer auf Machtgier und Jagd nach dem Geld beruhenden Welt als Menetekel für die Malaise der hierzulande meist (noch) gut bestückten Theaterlandschaft so ernst nehmen, dass sie es im Jubiläumsjahr noch mal wissen wollen. Womöglich hat Regisseur André Bücker seinen »Ring« auch deshalb von hinten, mit der »Götterdämmerung«, begonnen und jetzt den »Siegfried« folgen lassen. Da hat er schon mal die »größere« Hälfte (wie es bei der Klopperei der Riesen um das Nibelungengold so schön falsch heißt) im Kasten. Sollte es brenzlich werden mit dem realen Geld - eine »Walküre« und »Rheingold« kriegen sie in Dessau allemal noch gestemmt.

Bücker und sein Team (Jan Steigert: Bühne, Suse Tobisch: Kostüme sowie Frank Vetter und Michael Ott mit diesmal ohne optischen Overkill integrierten Projektionen) bleiben bei der geschlossenen, stilisierten Ästhetik mit dem geschichteten Walküren-Felsen-Würfel im Zentrum. Bei den Recherchen über die Jugend des mit der Rettung der Welt heillos überforderten Superhelden Siegfried müssen sie aber einen zwei Akte währenden Ausflug in den Wald unternehmen. Zumindest virtuell kommen sie da auch an.

Die beiden Comupterspiel- Freaks Mime und Siegfried haben in ihrer mit Fastfood-Resten vermüllten Höhle die Natur immerhin auf dem Schirm. Auch das Schwert wird computergestützt konstruiert und schafft es in die dreidimensionale Welt - wo der Rap liebende Knabe Siegfried Fafner und Mime zur Strecke bringt. Wenn er dann Wotans Speer zerhaut, flackert ein »Game Over« über die Portale, wo bis dahin computerspielgetreulich alles protokolliert wurde.

Warum Ulf Paulsen seinen Wanderer (Wotan) etwas läppisch vertänzeln muss, wird nicht ganz klar. Dass Siegfried und die Brünnhilde aus dem Würfel sich am Ende wie die Roboter bewegen, schon eher. Für sie geht es ja in ihre bauhausinspirierte, stilisierte Götterdämmerungswelt. Die zelebrierte Affinität zum Virtuellen produziert diesmal nicht nur sehr schöne Bilder, sondern hilft obendrein beim Verständnis.

Musiziert wird unter der Leitung von Antony Hermus mit dramatischer Verve und Sinn für verständlichen Gesang. Peter Svensson als Siegfried überzeugt dabei leider vokal nicht so, wie er es darstellerisch vermag. Iordanka Delirova hingegen ist eine vorzügliche Brünnhilde, Albrecht Kludszuweit ein exzellenter Mime, Stefan Adam ein fulminanter Alberich und Angelina Ruzzafante ein zartzwitschernder Waldvogel.

Jubel in Dessau.

Uwe Friedrich, Deutschlandradio/Fazit, 30.03.2013

Zu hören auf der Seite des Deutschlandradios

Uwe Friedrich, MDR Figaro/Frühkritik (audio), 02.04.2013

Zu hören auf der Seite des mdr

Joachim Lange, Mitteldeutsche Zeitung, 02.04.2013

In der Wotan-Show

ANHALTISCHES THEATER Die Welt als Spiel: In Dessau setzen André Bücker und Antony Hermus ihren "Ring des Nibelungen" mit "Siegfried" fort.

In Dessau gehen die Uhren in Sachen Nibelungen-Ring etwas anders. Hier wird nicht der Reihe nach erzählt, vom "Rheingold" zur "Walküre" über den "Siegfried" zur "Götterdämmerung", also vorwärts mit dem Gang der Dinge. Hier ist es eine Reise zu den Ursprüngen.
Wir wissen nämlich schon wohin der Hase läuft. Und zwar geradewegs in eine wie von den Bauhäuslern direkt inspirierte Götterdämmerung mit hermetisch geschlossener Ästhetik. Nicht mit einem Pappfelsen für Brünnhilde, sondern einem faszinierenden schwarzgeschichteten Walküren-Riesenwürfel als Zentrum einer Bühnenwelt aus Klangstürmen und Videogewittern. Mit Figuren, die sich wie ferngesteuert in einer Raum-Zeit Maschine auf das Ende zu bewegen.

Mit spielerischem Ton

Mit dem "Siegfried" nun erfahren wir etwas über die - wen wundert es - ziemlich verkorkste Kindheit des Superhelden. Der ist nämlich bei einem Ziehvater aufgewachsen, der den Knaben nur deshalb groß gezogen hat, weil er durch ihn an den allseits begehrten Ring kommt. Dass man einfach hinnehmen muss, dass sich das Macht verheißende Schmuckstück in den Klauen des zum Wurm mutierten Riesen Fafner befindet, gehört zu den Nachteilen des Dessauer Rückwärtserzählens. Aber sei's drum.

Siegfried und sein Ziehvater Mime jedenfalls haben offenbar nicht viel übrig für einen geordneten Haushalt. Es sieht ziemlich vermüllt und Fastfood-lastig aus bei den beiden. Immerhin verblöden sie nicht völlig beim Unterschichtenfernsehen, sondern sind kreativ. So kreativ jedenfalls wie man beim Computerspielen eben sein kann. Der Jüngere kreiert einen furchterregenden Bären, mit dem er den Älteren erschreckt. Und der versucht vor allem mit dem Knaben mitzuhalten. Wie im wirklichen Leben: mit wenig Erfolg. Denn nachdem Mime die Chance vertan hat, in der Rate-Show mit dem "Wanderer" (Wotan) nach der Wunderwaffe für Siegfried zu fragen, die er einfach nicht hinbekommt, ist es Siegfried, der in die Tasten haut und sich sein Superschwert virtuell zusammenfügt und hinter der Kulisse vermutlich mit dem 3D-Drucker ausdruckt.

Im ersten Akt trifft André Bücker einen spielerischen Ton, der Spaß macht, zumal Peter Svensson der Habitus eines rappenden Computer-Kids ziemlich überzeugend gelingt. Dass die beiden selbst nur Figuren in einem größeren Spiel sind, sieht man auf den Einblendungen links und rechts am Bühnenportal. Dort zeigen Piktogramme, was gerade läuft. Wenn Siegfried bei seiner einzigen Begegnung mit Wotan, sich nicht aufhalten lassen will und dessen Speer (sprich: spielbestimmende Macht) zerhaut, erlöschen diese Seiteneinblendungen. Es ist ein "Game over" für den Spielmacher Wotan. Fortan handelt der Knabe auf eigene Rechnung. In Dessau sieht man übrigens tatsächlich mal, dass sich Wotan darüber auch freut, denn genau das wollte er ja eigentlich.

Außer bei dem etwas albern wirkenden, allzu bemüht gegen den Klischeestrich des Wanderers gebürsteten Schlamperlook für Wotan, der ohnehin wie eine außerirdische Mischung aus Mensch und Maschine aussieht, sind die Kostüme von Suse Tobisch wieder eine Show für sich. So ist Fafner kein alberner Wurm. Für den stimmgewaltigen Dirk Aleschus reichen ein Paar Plateausohlen, um als mit Speeren gespickter Riese auf alle (außer Siegfried) furchterregend zu wirken. Von den beiden Computerfreaks aus der Höhle über den von zwei Leuchtreifen umgebenen Waldvogel, die wie aus einem Flacon erwachsende Erda oder die eher futuristisch stilisierte Brünnhilde verbinden sich die Kostüme mit den Projektionen von Frank Vetter und Michael Ott zu einem überzeugenden Ganzen.

Ein großer Wurf

Die changieren erst zwischen Spielshow und Naturbildern und weiten sich dann zu grafisch abstrakten, golden schimmernden und feuerrot lodernden Visionen. Dass Brünnhilde in dem Riesenwürfel schlummert und von Siegfried ausgepackt und erweckt wird, war klar. Dass beide dann mit abgebremst künstlichen Bewegungen das große Liebesfinale erleben weist, wie wir hier schon wissen, voraus auf die "Götterdämmerung". Von kleinen Patzern mal abgesehen, gelingt Antony Hermus mit der Anhaltischen Philharmonie ein großer Wurf. Mit seiner Energie hält er den großen Bogen, vermag aber auch den lyrischen Passagen Raum zugeben. Auch das Protagonisten Ensemble kann sich wirklich hören lassen. Allerdings sind beim darstellerisch sehr beweglichen Siegfried Peter Svensson weniger die zunehmenden Konditionsprobleme gegen Ende der Riesenpartie hin das Problem, sondern mehr eine von Beginn an kurzatmig wirkende Art zu singen. Was natürlich in der Schlussszene besonders auffällt, wenn eine so kraftvoll hochkarätige und obendrein ausgeruhte Brünnhilde wie Iordanka Derilova loslegt. Ulf Paulsen hatte zwar keine Konditionsprobleme und ist obendrein ein spielfreudiger Darsteller, doch der Wanderer ist für ihn eine Grenzpartie, bei der er hörbar alle Reserven aufbieten muss.

Rita Kapfhammer ist eine wunderbare Erda und Angelina Ruzzafante ein fein zirpender Waldvogel. An der Spitze des zu Recht bejubelten Ensembles können sich Albrecht Kludszuweit als Mime und Stefan Adam als Alberich der Extraklasse den Lorbeer teilen. Fazit: Auch Dessau "kann" den Ring! Nach diesem "Siegfried" darf man auf die "Walküre" und den Vorabend gespannt sein. Die musikalische Qualität und der szenische Kontrast zum Heyme - und Steffens-Ring machen Dessau übrigens auch für die Hallenser Wagnerfreunde zu einem Termin, den sie nicht versäumen sollten.

zu „Götterdämmerung“

S. Barnstorf, Das Opernglas, Heft 7/8 2012

Dessau, die Bauhaus-Stadt und das Bayreuth des Nordens. Einstmals Vorreiter in der klassischen Moderne und Avantgarde der Wagner-Rezeption. Auf diese fast verblichenen großen Zeiten folgten Wende, Strukturreformen und anhaltende Sparzwänge im Kulturbereich. Jetzt bringt das Anhaltische Theater in bewusster Rückbesinnung auf sein Erbe einen neuen „Ring des Nibelungen“ heraus, der nun mit der „Götterdämmerung“ begonnen hat. In souveräner Personalunion ist es André Bücker als Intendant gelungen, durch seine Funktion als Regisseur auch in künstlerischer Hinsicht Anerkennung einzubringen, weil schon nach dieser „Götterdämmerung“ festzuhalten bleibt: Es ist ein Bauhaus-“Ring“, der das doppelte Erbe Dessaus verbindet und dabei zusätzlich noch die Modernität Wagners grandios in Szene setzt!

Diese „Götterdämmerung“ ist locker und leicht mit ihrer luftigen Bilder-, Farb- und Formensprache in Anlehnung an Oskar Schlemmer, Kasimir Malewitsch und Wsewolod Meyerhold gestaltet. Bei Bücker ist der Walkürenfelsen die umgekehrte Bauhaustreppe Oskar Schlemmers. Brünnhilde erwacht auf einem schwarzen, sich drehenden Würfel, der aus seiner Bewegung heraus eine Treppe (Bühne Jan Steigert) entfaltet: Brünnhilde (Iordanka Derilova) ist hier die Figur im Raum, herabschreitend als sphinxhafte Cleopatra und auf wenige symbolische Mechanismen reduzierte Heroine. Das Debüt der gebürtigen Bulgarin geriet hierbei insgesamt zufriedenstellend. Mit glockenhellem Timbre und klarer Intonation musste sie sich merklich in die schwere, hochdramatische Partie erst einfinden, was ihr insbesondere im zweiten Akt gut gelang. Zum Nachteil geriet ihrer nuancierten Stimme dabei der für die Inszenierung hergerichtete weiße Rahmen, welcher zwar eindrucksvoll das schwarze Quadrat auf weißem Grunde von Kasimir Malewitsch rekonstruierte, dabei aber den Stimmen der Sänger viel akustische Entfaltungsmöglichkeit nahm. Bestechend wirkten Farb- und Lichtregie sowie die Projektionen (Frank Vetter, Michael Ott) von geometrischen Figuren, Formeln, Rechtecken sowie der vom Mond verdeckten Sonne.

Insbesondere aber drückt die Schauspielart der sogenannten Biomechanik des russischen Schauspielers und Regisseurs Meyerhold dieser Neuproduktion ihren Stempel auf. Nach Meyerhold sind alle Emotionen Ergebnisse physischer Abläufe, und durch bestimmte Körperpositionen entstehen bestimmte Gefühle. So marschiert Siegfried (Arnold Bezuyen) stets in forschem Schritt mechanisch seinem Ende zu. Er fällt nicht, sondern wird von Hagen ausgeschaltet. Frankenstein lässt grüßen - die Erinnerung an Brünnhilde war von Gutrune mit einer Handbewegung übers Gesicht schlicht weggewischt worden. Von diesem Moment an offenbart sich eine gravierende Fehlprogrammierung des Wotan-Enkels, sichtbar durch nervöse Zuckungen in Gesicht und Bewegungsablauf. Das Rollendebüt des bayreutherprobten Niederländers geriet noch etwas unentschlossen, mit einem leichten Hang zu melancholisch differenzierter Diktion, deren Einsatzmöglichkeiten in der langen Partie allerdings recht spärlich gesät sind. Auch vermochte Bezuyen wenig von Glanz und Strahlkraft aus seinen zu Recht gerühmten Loge-Interpretationen einzubringen.

Gunther zögert und zaudert. In caesarenhafter Stellung und napoleonischer Handhaltung sprechen seine Hände für sein Unverständnis und verdeutlichen so Unsicherheit und Wankelmütigkeit. Zu einer tragenden Säule geriet die Figur, weil sie von Ulf Paulsen als langjährigem Ensemblemitglied des Anhaltischen Theaters neben der schauspielerischen Höchstleistung mit einer stimmlichen Präsenz mit klarem, direkt ansprechendem Bariton interpretiert wurde. Eine Darbietung, die mit kraftvoller Intonation und klugen Schattierungen punkten konnte.
Hagen ist von allen Akteuren derjenige, der offenkundig gegen die Kausalitäten von Gestus und Emotion am meisten gefeit ist. Niemals gerät ihm eine Pose als deutliches Symbol- er ist verhangen in der großen traditionellen, romantischen Geste und damit Teil des überkommenen Historismus. In seiner musikalischen Darbietung überzeugte der dritte Rollendebütant (Stephan Klemm) an diesem Abend mit einem in allen Lagen sicher ansprechenden Bass.

Eine herausragende Leistung bot Rita Kapfhammer als Waltraute, erste Norn und Floßhilde: Besonders in der langen Waltrauten-Szene vermochte sie eine spannungsreiche Interpretation abzuliefern, die einen Glanzpunkt am Premierenabend setzte. Mit ihrem wohltönenden Mezzo empfahl sie sich durchaus für noch größere Partien. Die Gutrune von Angelina Ruzzafante überzeugte mit einer klaren Stimmführung, die Nornen harmonierten in trautem Zusammenspiel ebenso wie die Rheintöchter. Nico Wouterse rundete die mehr als zufriedenstellende Ensembleleistung mit einer klaren und deutlichen Charakterstudie des Alberich ab.

GMD Antony Hermus und die Anhaltische Philharmonie fügten sich wohltuend in die Gesamtkonzeption ein. Pathosfrei, luftig und leicht, großartig in den Zwischenspielen, dabei niemals dem bloßen Effekt geschuldet, sondern dezent zurückhaltend und erzählerisch-lyrisch den Situationen angepasst, präsentierten sie einen erzählerischen, lyrisch zelebrierten Orchesterklang. Aus welchem Grunde der dritte Tag der Tetralogie als Einstieg in diesen neuen „Ring“ gegeben werden musste, erschloss sich bei dieser Premiere (noch) nicht. Am Ende der „Götterdämmerung“ jedenfalls entsteigt ein rotschöpfiger Wälsungenspross einem von oben heruntergelassenen Käfig; mehr wird man erfahren, wenn der „Bauhaus-Ring" 2013 mit „Siegfried“ fortgesetzt wird.

Frederik Hanssen, Opernwelt, Juli 2012

Bauhaus-Ballett

Beim Namen Dessau denkt man heute vor allem an das legendäre Bauhaus. Sieben glorreiche Jahre lang war die Zukunft in der Stadt zu Hause. Schon 1931 aber siegten die Nazis bei den Gemeinderatswahlen und machten sich sofort daran, die Avantgardisten zu vertreiben. Als der „Führer“ 1938 den Dessauern als Ersatz für das 1922 abgebrannte Stadttheater einen wuchtigen Neubau im germanisch-griechischen Stil “schenkte“, waren die wichtigsten Bauhaus-Meister in die USA geflohen. Dennoch verfiel André Bücker, der Intendant des Anhaltischen Theaters, nicht nur auf die Idee, seinen „Ring des Nibelungen“ rückwärts zu inszenieren, also mit der „Götterdämmerung“ zu starten, sondern die Tetralogie auch in strenger Bauhaus-Ästhetik zu präsentieren. Nicht die psychologische Deutung oder eine politische Aktualisierung sind sein Anliegen, sondern „die innere Wahrheit des Menschen als Geometrie erfahrbar zu machen“. Das sieht zunächst sehr gut aus: Da gibt es einen schwarzen Kubus, der sich schichtweise auffächern kann, da flimmern Symbole, rätselhafte Schriftzeichen oder verpixelte Filmbilder auf gerundeten Leinwänden, die über dem Geschehen schweben, da gibt es elegante Stahlkonstruktionen mit lautlosen Fahrstühlen, da tauchen die mit Lichtschwertern ausgerüsteten Gibichsmannen in Kompaniestärke aus tiefer Versenkung auf. Enorm, was die Techniker des Theaters leisten - ganz zu Recht dürfen sie am Ende auf der Bühne ihren eigenen Applaus entgegennehmen.

Suse Tobisch hat sich bei ihren Kostümentwürfen von Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ inspirieren lassen: Expressionistisch proportionsverzerrend wölben sich steife Stoffe um die Sänger, die Herren des Chors tragen bodenlange Röcke zu künstlicher Glatze. Leider hat sich Bücker auch in den Kopf gesetzt, dass die Darsteller ebenso abstrakt agieren sollen, wie sie aussehen. Stilisierte Gesten mit angewinkelten Armen und windschiefen Körperhaltungen aber vertragen sich nicht so gut mit den physischen Anforderungen des Wagner-Gesangs. Tänzer mögen solche Zumutungen durchhalten können, die Dessauer Solisten schaffen das, bei aller sichtbaren Mühe, nur punktuell. Vor allem Arnold Bezuyen, der den Siegfried als eine Art Golem darstellen muss, sortiert immer erst mal seine Gliedmaßen, bevor er sich maschinenmäßig in Gang setzt. Sängerisch schlägt sich Bezuyen mit seinem Trompetentenor sehr achtbar. Ebenso wie die drei Mitglieder des hauseigenen Ensembles: lordanka Derilova mag vielleicht keine sehr durchschlagskräftige Brünnhilde sein, hat sich die Partie aber mit großer Detailgenauigkeit erarbeitet. Angelina Ruzzafante gibt eine lyrische Gutrune, Publikumsliebling Ulf Paulsen reizt seinen angenehmen Bariton für den Gunther rückhaltlos aus. Stephan Klemm hat als Hagen seine besten Momente in den hinterhältig-düsteren Monologen, im zweiten Akt angemessen aasig sekundiert von Nico Wouterses Alberich. Den stärksten Eindruck aber hinterlässt Rita Kapfhammer, deren Waltraute in ihrem schmerzlichen Ringen um den Ring wirklich anrührt - wie schön, dass sie ab der kommenden Saison zum Dessauer Ensemble gehören wird.

Intensiv hat auch Antony Hermus die Anhaltische Philharmonie vorbereitet. Mit nie erlahmendem Engagement sind die Musiker bei der Sache, souverän koordiniert der Dessauer Musikchef die Chorszenen, flüssig sind die Tempi der Rheintöchter. Problematisch aber wird es im Bereich des Atmosphärischen: Für das Mystisch-Raunende fehlt ihm das Gespür, für die verschatteten Gefühle, die Fehlfarben des Bösen. Stattdessen drosselt er an den entsprechenden Stellen das Tempo derart, dass der Spannungsfaden schnell so brüchig wird wie das Seil der Nornen.

Herbert Henning, ORPHEUS, Juli/Aug. 2012

Gesamtkunstwerk

Die Wagner-Enthusiasten haben künftig die Qual der Wahl. Kaum 60 km trennen Halle und Dessau und in beiden Städten wird mit Feuereifer und dem Blick auf das Wagner-Jubiläumsjahr 2013 am Ring geschmiedet. Die bis 2015 geplante Inszenierung des Wagner-Epos beginnt am Anhaltischen Theater mit der GÖTTERDÄMMERUNG und setzt sich rückwärts unter dem Motto Mythos und Utopie in den nächsten drei Jahren bis zum finalen Rheingold fort. ANDRE BÜCKER besinnt sich auf die beispiellose Ästhetik Wieland Wagners, lässt sich in der Abstraktion und (pantomimischen) Überhöhung des Szenischen (vor allem der Bewegungen) von Robert Wilson und Achim Freyer inspirieren. Vor allem aber nutzt er gemeinsam mit JAN STEIGERT (Bühne) und SUSE TOBISCH (Kostüme) die Bauhaus-Tradition Dessaus, insbesondere die Farb- und Formenästhetik der Arbeiten (auch für das Theater) von Feiniger, Kandinsky, Klee und Nagys, die auch schon das Neubayreuth Wieland Wagners wesentlich beeinflussten. Ergebnis ist eine klar durchdachte Inszenierung, in ihren strengen Formen und dem Spiel in einem abstrakten Raum mit Farben und Bildprojektionen in steter Verwandlung (Videotechnik: FRANK VETTER/MICHAEL OTT), die durch eine symbolisierende Körpersprache voller Chiffren und Symbole, kongenial zur Musik, die Aufführung zu einem einzigartigen ästhetischen Erlebnis macht. Dem Team gelang ein Gesamtkunstwerk als eine Raum-Zeit-Maschine, bei der am Ende der Anfang steht.

Wie von Zauberhand bewegt und verändert sich durch bewegliche Teilhorizonte im Wechselspiel der Farben und Projektionen die Szene. Das wird durch die wunderbaren technischen Möglichkeiten des Theaters, die hier sämtlich ausgenutzt werden, ohne Fehl und Tadel realisiert. Beispielhaft für das faszinierende Raumkonzept stehen der in 14 beweglichen Scheiben bestehende schwarze Kubus als Brünnhilde-Felsen und die metallene Turmkonstruktion als Hort der Gibichungen, die immer neue Personenkonstellationen, vor allem zwischen Hagen und Gunter sowie Gutrune und Siegfried möglich machen. Das Szenische in seiner Klarheit (und teilweisen Überhöhung) korrespondiert beispielhaft mit dem Spiel der Anhaltischen Philharmonie. GMD ANTONY HERMUS gelingt mit dem Orchester und den von HELMUT SONNE präzis einstudierten Chören (einschließlich der Statisterie) eine bis in den letzten Ton ausbalancierte, auf die Sänger ausgerichtete musikalische Interpretation der Partitur, fein ausgelotet bis ins kleinste musikalische Detail.

Und das Ensemble wird von ihm beeindruckend sicher geführt. Allen voran die Brünnhilde der IORDANKA DERILOVA, die bis zu ihrem großen Schlussgesang fesselndes Spiel mit dem wunderbaren legato ihrer hochdramatischen Stimme ohne jegliche Trübung und Nachlassen der stimmlichen Kräfte verbindet und neben STEPHAN KLEMM als Hagen und ULF PAULSEN als Gunther das außerordentlich hohe musikalische Niveau der Aufführung bestimmt. ARNOLD BEZUYEN als Siegfried hat bei seinem Rollendebüt gegen Ende doch hörbare Konditionsprobleme, meistert aber insgesamt beachtlich diese wohl schwerste Partie der Opernliteratur. Große musikalische Momente gleich zu Beginn im Klagegesang der Nornen (RITA KAPFHAMMER/ CORNELIA MARSCHALL/ ANNE WEINKAUF) ebenso wie im Klagen der Rheintöchter in einem optisch faszinierendem Neonstablabyrinth. Als Waltraute ist außerdem Rita Kampfhammer in ihrer Erzählung von besonderer Präsenz. NICO WOURTESE gibt in der Zwiesprache mit seinem Sohn Hagen dem Alberich bemerkenswertes sängerisches Profil. Am Ende weist ein Jung-Siegfried auf den Fortgang der Geschichte, so wie die Nornen fragen: Weißt Du wie das war? An dieser „Götterdämmerung“ kommt kein Wagner-Freund vorbei!

Christian Wildhagen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.2012

Totaltheaterformen

Auf die Idee muss man erst einmal kommen: Weil Wagner sein "Nibelungen"-Epos einst mit dem Textentwurf zu "Siegfrieds Tod", also mit dem Schluss, begann, um dann erst etappenweise bis zu den Uranfängen des "Rheingolds" zurückzudichten, zäumt man am Anhaltischen Theater den "Ring" kurzerhand vom Ende her auf. Das ist weniger schräg (oder auch bloß bemüht originell), als es klingt. Denn Generalintendant André Bücker wählt auch für seine Inszenierung eine Perspektive, die den historischen Zeitverlauf reizvoll aufbricht. Dabei liegt es in Dessau nahe, sich auf die revolutionäre Ästhetik des Bauhauses zu berufen, das delikaterweise unweit des 1938 von Hitler eingeweihten Theaterprunkbaus steht. Doch Bücker thematisiert gerade nicht diese für die ganze Stadt so verhängnisvolle Spannung zwischen Fortschritt und politisch-ästhetischer Reaktion, sondern verfolgt lieber die Entwicklung der Bauhaus-Moderne durch die Zeiten. Dazu geht er zurück bis zu dem legendären Bühnenkunstvisionär Adolphe Appia, hangelt sich über László Moholy-Nagys "Licht-Raum-Modulator" und die Formarchitekturen bei Feininger, Klee und Kandinsky bis zu Oskar Schlemmer vor und hört bei Gropius' Idee eines "Totaltheaters" für Piscator noch längst nicht auf. Denn im abstrakten Bühnenbild von Jan Steigert und den kunstvoll stilisierten Kostümen von Suse Tobisch spinnt die Inszenierung den Faden - durchaus kritisch - weiter: bis in eine fiktive Zukunft, wo das Bauhaus-Dogma der unbedingten Funktionalität auch den Menschen erfasst und in starre Verhaltensraster gepresst hat. Im Zusammenspiel mit der von Antony Hermus ungemein idiomatisch dirigierten Musik ergibt das ein ungewöhnliches Totalkunstwerk, über das Wagner fraglos freudig gestaunt hätte.

Roberto Becker, Online Musikmagazin

Bewegte Farbenleere

Wenn sich selbst ambitionierte Bühnen wie in Frankfurt oder München mit ihren Ring-Projekten nicht wirklich an den großen Welterklärungsversuch oder Kommentar zur Gegenwart herantrauen und das eher ausgeflippten Provokateuren wie Barrie Kosky in Hannover oder einem routinierten Altmeister wie Hansgünther Heyme in Halle überlassen, dann hat natürlich auch Dessau die Freiheit, die Ring- einer Weltdiagnose vorzuziehen. Also keinen weiteren halbgaren Regietheater-Aufguss von Kapitalismus- oder Globalisierungskritik beizusteuern, sondern sich (so wie Achim Freyer gerade in Mannheim) einen ästhetischen Kunstkosmos zu basteln und den Rest an die Musik und (notgedrungen auch den Text) Richard Wagners zu delegieren. Hamlets Mutter Gertrud sitzt ja mit Sicherheit nicht im Publikum, um ihr „Mehr Inhalt, weniger Kunst“ der Bühne entgegen zu halten. Gründe hätte sie in Dessau einige.

Dort hat man jetzt den Ring mit der Götterdämmerung angefangen. Man inszeniert also nicht dem benachbarten Halle hinterher, sondern kommt der Konkurrenz vom anderen Ende entgegen. Und das auf Augenhöhe, was die musikalischen Qualitäten betrifft! Es ist nicht nur für die ausgemachten Wagnerianer beglückend, wenn man Wagners Stresstest-Monstrum für jedes Opernhaus auf so dichtem Raum von mittleren Häusern auf einem derartigen musikalischen Niveau geboten bekommt. Der herbei geraunte Kulturinfarkt jedenfalls sieht anders aus. Und die Behauptung, es gäbe in Deutschland bei der Hochkultur von allem zu viel und überall das gleiche, lässt sich kaum besser kontern.
Der Dessauer GMD Anthony Hermus demonstriert mit der Anhaltischen Philharmonie vom ersten Nornenraunen bis zu den paar hellen Nachklängen, die auf den gewaltigen (Götter-)Weltuntergang im Finale folgen, wieso das Dessauer Theater seinen einstigen Beinamen „Bayreuth des Nordens“ immer noch zu recht hervorholen kann, wenn es der Vermarktung dient. Was man erleben kann, ist ein großer Klang im großen Haus. Mit leisen Tönen, wo es sein muss und mit jener Faszination, die die Wucht des Trauermarsches oder das gewaltige Finale entfalten können, in dem Brünnhilde den Scheiterhaufen für Siegfried und sich selbst und die Götterburg gleich noch mit in Brand setzt.

Auch, dass es heute keine Wagnersänger für die großen Partien mehr gäbe, verweist Dessau ins Reich der Fabel. Man muss nur abseits des Kreises der Handvoll von überall herumgereichten Stars suchen. Dann findet man auch einen Siegfried wie Arnold Bezuyen, der seinen Wechsel vom Loge-Sänger zum Siegfried alles in allem mit Bravour meisterte. Oder einen standfest intrigierenden Hagen wie Stephan Klemm. Die restlichen Rollen kann man in Dessau aus dem Ensemble oder mit dem Haus eng verbundenen Sängern besetzten. Iordanka Derilova etwa ist mit Wagner in ihrem eigentlichen Element und liefert, ab dem zweiten Akt, eine erstklassige Brünnhilde mit Kraft und Deutlichkeit. Auch sonst ist dieser Ringauftakt rollendeckend besetzt: von Ulf Paulsen (Gunther) und Angelina Ruzzafante (Gutrune), über Nico Wouterse (Alberich) bis hin zu der aus dem Nornen- und Rheintöchtertrio, aus dem neben Anna Weinkauf und Sonja Freitag, besonders Rita Kapfhammer in ihrer dritten Rolle als Waltraude herausragt. Da auch der Chor, mit bewährten Partnern aufstockt, in Hochform ist, lässt sich aus Anhalt ein musikalischer Glücksfall vermelden.

Bei der Regie ist die Sache nicht so eindeutig. Doch André Bücker ist zumindest konsequent in seinem Versuch, eine Bauhaus-Ästhetik auf die Bühne zu projizieren.Was die Projektionen im wortwörtlichen Sinne betrifft, haben sich Frank Vetter und Michael Ott offenbar nach Herzenslust ausgetobt und manchmal den Sinn des Gesungenen illustrierend getroffen. Oft entschweben sie damit aber auch in ein virtuelles Nirwana, das im besten Falle als Bauhaus-Reminiszenz durchgeht, oft aber auch in eine unverbindliche Bildschirmschoner-Ästhetik abdriftet. Dass das so exzessiv gar nicht nötig ist, wird deutlich, wenn der mit Leuchtspeeren bewaffnete Chor von Hagens Mannen in blauen Röcken als Formation aus der Versenkung hochfährt und mal nichts zusätzlich auf der an sich triftigen weißen Verkleidung des Bühnenportals flackert. Regelrecht falsch wird es, wenn sich zu Siegfrieds Trauermarsch der Vorhang senkt, die Musik gerade ihre Wirkung zu entfalten beginnt und ein Flimmersturm sondergleichen ausbricht. Das könnte man vielleicht sogar noch einmal in Ruhe überdenken und etwas beruhigen. Misstrauen gegenüber der Musik und der sonstigen Bühne ist nämlich unangebracht.

Die Kostüme von Suse Tobisch (die nur etwas gegen Siegfried zu haben scheint) verweisen auf Oskar Schlemmer. Da die Figuren (ähnlich wie bei Robert Wilson) stilisierte Zeichen mit ritualisierten Bewegungen sind, bleibt deren Psychologie außen vor. Wie bei dem Amerikaner aber bricht sie dann doch immer mal durch. Etwa wenn zitternde Handbewegungen innere Unruhe verdeutlichen sollen. Oder wenn selbst der stets ulkig herum staksende Siegfried mit einem Minenspiel aufwarten darf.
Ein heimlicher Star dieser Götterdämmerung ist Jan Steigerts Bühne. Da ist einmal der riesige schwarze Walkürenfelsen-Würfel. Durch seine 14 Schichten kann er wunderbar aus der Quader in die stufige Felsenform gleiten und erinnert entfernt an eine Tony-Cragg-Plastik. Auch die drei Gibichungentürme mit ihren Fahrstühlen und der ebenfalls auf und abgleitenden Plattform spielt mit der funktionalen Ästhetik des Bauhauses wie die halbrunden Horizonte, auf die unentwegt projiziert wird. Technisch funktioniert das alles fabelhaft als eigener Kosmos und als ein Spiel der Figuren, des Raums und der Farben.


FAZIT

Diese Götterdämmerung ist szenisch ein Triumph der Form über den Inhalt. Sie ist aber in sich stimmig und geht auf hohem musikalischem Niveau über die Bühne. So ist doch eine Art von Gesamtkunstwerk herausgekommen, das vom Premierenpublikum mit einhelligem Jubel für alle Beteiligten gefeiert wurde. Bei Orchester begann die stehende Ovation - und das ganz zu Recht.

Andreas Hauff, nmz online, 18.05.2012

Zwischen Bauhaus und Science Fiction: In Dessau startet Wagners „Ring“ mit der „Götterdämmerung“
Übers Land geht eine „Ring“-Welle. Viele Theater wagen sich wieder an Wagners Tetralogie – oft zum wiederholten, manche zum ersten Mal. In Sachsen-Anhalt hat es Halle (in Kooperation mit Ludwigshafen) noch nicht bis zum „Siegfried“ gebracht, da beginnt das Anhaltische Theater im benachbarten Dessau-Roßlau schon seinen eigenen „Ring des Nibelungen“ - mit der „Götterdämmerung“ Doubletten im Spielplan benachbarter Häuser sind dann ein Gewinn, wenn sich der ästhetische Ansatz unterscheidet. Schon insofern hat André Bücker, Regisseur und Intendant in Dessau, die Weichen richtig gestellt, wenn er entgegen üblicher Praxis den Zyklus von hinten aufrollt und damit der Entstehungsgeschichte von Wagners Handlungsgerüst und Libretto folgt. Und während im Regelfall die „Götterdämmerung“ nach Vollendung eines „Rings“ schnell vom Spielplan verschwindet, hat das Publikum in Dessau bis zur geplanten Abrundung der Tetralogie beim internationalen Richard-Wagner-Kongress im Mai 2015 endlich einmal die Chance, das Schlussstück häufiger zu erleben.

Eine zweite Überlegung zur Inszenierung lässt gleichfalls aufhorchen: „Das Werk kann in Dessau nicht ohne Erinnerung an die Klassische Moderne gelesen werden, die vor Ort vor allem während der Bauhaus-Jahre 1926-1932 Gestalt gewann.“ Erinnert wird in Programmheft und Vorankündigung ausdrücklich an die Bauhaus-Meister Walter Gropius, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Oskar Schlemmer und László Moholy-Nagy. Ausdrücklich wollen André Bücker und seine Mitarbeiter Jan Steigert (Bühne), Suse Tobisch (Kostüme), Frank Vetter und Michael Ott (Projektionen) an Wieland Wagners Bayreuther Wagner-Erneuerung anknüpfen. Sie beziehen aber zugleich auch Stellung in der Diskussion um Profil und Identität der von Spardiskussionen geschüttelten Doppelstadt an Mulde und Elbe. Zukunft lässt sich in Dessau-Roßlau nur gewinnen, wenn das Erbe der kurzen, aber fruchtbaren Bauhaus-Jahre nicht nur nach Außen dem Image der Stadt dient, sondern auch intern wieder kreative Energien freisetzt.

Dass Dessau seiner reichen Wagner-Tradition wegen lange Zeit als „Bayreuth des Nordens“ galt, die letzte komplette Neuinszenierung des gesamten „Ring“-Inszenierung aber schon 1953/54 herauskam und in veränderter Ausstattung letztmals 1963 gespielt wurde, ist ein weiteres Argument für das ambitionierte Projekt. Und man ist neugierig, welche Botschaft für die Gegenwart das Anhaltische Theater in der „Götterdämmerung“ entdeckt. Immerhin steht die laufende Spielzeit unter dem beziehungsreichen Motto „Glühende Landschaften“.

Tatsächlich sind Stilwille und Originalität der Inszenierung nicht abzusprechen. Abstrakte Farb- und Lichtwirkungen überziehen in ungewöhnlicher Intensität Vorder-, Seiten- und Hinterbühne. Oft sind es geometrische Figuren in Rot, Gelb oder Blau, in Weiß und in Schwarz, die sich in verschiedene Richtungen bewegen, der Verdichtung oder Verdunkelung unterliegen. Wie auffällige Fremdkörper erscheinen in dieser Umgebung eine goldene Scheibe und ein goldener Ring. Zwischenzeitlich erscheinen im Hintergrund germanische Runen, im 2. Akt auch grotesk wirkende, archaische Figurinen. Manchmal mutet die Bebilderung überladen oder beliebig an, doch allemal bleibt die Bühne als eine zweite Schicht über der Musik in Bewegung, während die eigentliche Inszenierung durch Sparsamkeit und Statuarik geprägt ist. Obwohl in der Regel gut verständlich, ist der Text über die Bühne projiziert, und so entsteht oft eine Art dezent bebildertes Lesetheater, in dem der Zuschauer bewusst den Beziehungen zwischen Musik, Handlung und Bebilderung nachspüren kann.

So bleibt viel Raum für die Wirkung der Musik und die stimmliche, artikulatorische und darstellerische Präsenz der Sänger. Am Ende wird das Premierenpublikum während von den Ensemblemitgliedern besonders Iordanka Derilova als großartige Brünnhilde, Rita Kapfhammer als anrührende Waltraute (und zusätzlich Floßhilde und 1. Norne) und Ulf Paulsen als eindrucksvollen Gunther feiern. Unter den Gästen stach der gebürtige Roßlauer Stephan Klemm in der Schlüsselrolle des ebenso wachen wie finsteren Drahtziehers Hagen hervor. Der von Helmut Sonne einstudierte Opernchor (unterstützt durch den Extrachor und den freien Opernchor „choruso“) fesselte durch Timbre, Artikulation, Nuancierung und szenische Beweglichkeit. Die Anhaltische Philharmonie unter GMD Anthony Hermus überzeugte im 1. Akt noch nicht in jeder Phrasierung und nicht an jeder exponierten Solostelle, aber diese kleineren Unsicherheiten legten sich immer mehr zugunsten eines wirklich imponierenden, farbigen, souverän atmenden Duktus, der die Musik als organischen Bestandteil eines zunehmend fesselnden Gesamtkunstwerks erscheinen ließ.

Dabei hat die Regie den Akteuren eine durchaus gewöhnungsbedürftige, da mehr oder weniger stark ritualisierte Körpersprache auferlegt. Sie ist wesentlich geprägt von Bewegungen der Arme und Hände geprägt und erinnert stark an das barocke Gestenrepertoire, wie es 2009 in Karlsruhe die belgische Regisseurin Sigrid T’Hooft an Händels „Radamisto“ vorgeführt hat. Die Figuren der Handlung wirken auf diese Weise gefangen in Rollen oder Konventionen, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Brünnhilde und Hagen agieren relativ natürlich und strahlen selbstbewusste Autorität aus. Ganz anders – und zunächst gewöhnungsbedürftig - Siegfried: Weiß geschminkt und gekleidet, mit roten Lippen und rotem Haarkranz, wobei ihn das in einem Köcher auf dem Rücken (!) getragene Schwert überragt, ist er alles andere als ein blonder germanischer Held, sondern wirkt wie eine Mischung aus Clown, Teletubbie und Roboter. Die Beine stecken in hohen Stiefelschäften, die ihn zum Stechschritt zwingen, und mit weit ausholenden Armen stakst er unternehmungslustig über die Bühne. Am Ende bleibt sogar die Leiche in den Stiefeln stehen. Wie Arnold Bezuyen daraus eine tragikomische Figur macht, die in ihrer verzweifelten Ernsthaftigkeit schon wieder Würde ausstrahlt, ist eine Leistung für sich. Dass er dabei sängerisch in der Höhe bisweilen etwas angestrengt wirkt, ist dabei durchaus noch im Einklang mit der Rolle.

Sehr geschickt nutzt die Inszenierung die ungewöhnlich tiefe und breite Bühne. Hinten erscheint als Walkürenfelsen ein zunächst monolithischer schwarzer Block, der sich zur Treppe auffächern und zudem in den Vordergrund schieben lässt. Vorne fährt aus dem Boden eine Gestängekonstruktion mit drei Aufzügen, die vor allem als Gibichungenhalle dient. Wenn sie seitlich von Vorhängen umfasst ist, erinnert sie – als Anspielung auf die industrielle Tradition des Standortes Dessau – an ein Gasometer. Viele Auf- und Abgänge finden über eine Plattform im Bühnenboden statt – auch dies ein Ausdruck der Abstraktion. Der armreifgroße Ring und die Speere, Schwere und Schilfrohre symbolisierenden Leuchtstäbe der Darsteller bleiben die einzigen sichtbaren Requisiten. Es gibt weder Horn noch Holz, nicht Boot noch Strom, nicht Vogel noch Ross. Die szenischen Verwandlungen aber gelingen perfekt und ziehen viel Aufmerksamkeit auf sich – um den Preis aber auch, dass „Siegfrieds Rheinfahrt“ zur Hintergrundmusik des Umbaus schrumpft.

In der irritierten Zuschauer-Bemerkung, die Theaterleute hätten wohl „zuviel Science Fiction gesehen“, spiegeln sich Stärke und Schwächen des Regiekonzepts. Unzweifelhaft ist dieser „Ring“ nicht von Gestern: Er rührt nicht in der germanischen Mythensuppe. Er ist aber auch nicht wirklich von Heute, wirkt bei allem Verzicht auf verkrampfte Aktualität und trotz aller Bauhaus-Farben und -Formen seltsam zeit- und ortlos, vielleicht wirklich futuristisch. Am Ende sieht man Siegfried vor dem kohlrabenschwarzen Kubus im Hintergrund in einem Stuhl – wie aufgebahrt zur Leichenverbrennung. Dass der Tote den Arm mit dem Ring noch einmal drohend erhebt, überrascht zwar, entspricht aber Wagners Regieanweisung. Brünnhilde gibt den Ring zurück und steigt auf den angedeuteten Scheiterhaufen. Hagen verschwindet mit den Rheintöchtern in der Versenkung, und Gutrune (Angelina Ruzzafante), die an Gunthers Leiche trauert, wird im Gestänge eingeschlossen. Siegfried aber steigt aus seinem Sitz, kommt nach vorne - und entpuppt sich als ein durchaus lebendiges Kind.

Bühnentechnisch ist dieser Schluss ein raffiniertes Spiel mit der Perspektive. Inhaltlich ist er eine Wendung, die schon Ferrucio Busoni in seinem antiwagnerischen Gesamtkunstwerk „Doktor Faust“ (UA 1925) vorweggenommen hat. Auch hier inkarniert sich als Ausdruck der Hoffnung der tote Held in der jungen Generation wieder neu. Bischof Wolfgang Huber, ehemals Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, hatte es anderntags bei seiner Theaterpredigt in der Johanniskirche nicht schwer, die inhaltliche Brücke zur biblischen Offenbarung des Johannes zu schließen – mit der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Trotzdem erinnert das Ende dieser Dessauer „Götterdämmerung“ auch an die etwas zwanghafte Beschwörungsformel in Bertolt Brechts „Gutem Menschen von Sezuan“. Dort soll sich das Publikum selbst den Schluss ausdenken: „Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“ Aber in der Tat: In den glühenden, aber nicht blühenden Landschaften nordöstlich von Sachsen liegt genau hier die Herausforderung. Mit brennenden Landschaften, Untergangsvisionen und Todesrausch ist hier niemandem gedient.

Friedeon Rosén, Der Neue Merker, 13.05.2012

Diese Götterdämmerung stellt ein wirkliches Faszinosum dar. Sie ist explizit – als 1. Ring-Inszenierung des 21. Jahrhunderts - auf die Bauhausstadt Dessau hin konzipiert, die ja vieles mit dem Neu-Bayreuth von Wieland Wagner verbindet. So ist die Inszenierung auch von einer superben Bühnentechnik inspiriert, die quasi im Dauereinsatz ist und den Ring als “Raum-Zeit-Maschine”, ohne möblierte Räume, zeigen soll.
Das Orchester erreicht dabei eine eine sprechende Intensität und wird so seiner Funktion als Handlungsprotagonist, vorausschauende Instanz und rückgewandte Reflexion unter der souveränen Leitung von Antony Hermus vollauf gerecht. In den instrumentalen Zwischenspielen “Rheinfahrt” und besonders im 3.Akt ‘Siegfrieds Trauermarsch’ und ’Untergang Walhalls’ erreicht die Anhaltische Philharmonie auch eine Schönheit und Plastizität des Spiels, die ihresgleichen sucht. Gern sieht man da von einigen Fehlern der Blechbläser /Horn ab, die aber nichtdestotrotz einen vollen weichen Sound herausspielen. Wie schon eingangs festgestellt, ist die Inszenierung von der Bühne Jan Steigerts her gedacht. Zu Beginn erscheinen die Nornen wie Marionetten, die an vom Schnürboden kommenden Bändern hängen, die sich während ihres Gesangs ineinander verkreuzen, inmitten von stehenden Leuchtstäben, die später weitere Verwendung, so auch beim Mannenchor finden. Der Brünnhildenfels mutet wie ein riesiger aufgetürmter schwarzer Schieferthron an, der fortwährend um sich selbst rotiert. Die Personen bewegen sich zumeist wie roboterhafte Marionetten. Der besondere Clou bei Siegfried dabei ist, vom Regisseur André Bücker gewollt: er hat hat immer noch einen martialisch anmutenden Stechschritt drauf. Die Gibichungenszene beinhaltet ein bühnenfüllendes Eisengestell, in dem die Beteiligten wie in Aufzügen immer auf- und abgefahren werden. Die Rheintöchterszene erscheint wieder als Reprise der Nornenepisode, es entsprechen sich auch die Darstellerinnen: Floßhilde = 1. Norn, Wellgunde= 2.Norn, Floßhilde= 3. Norn. Ihre Gewandungen kommen spanischer Nonnentracht zur Renaissancezeit sehr nahe (Kostüme: Suse Tobisch). Während Brünnhildes Absprache ist im Bühnenhintergrund eine kleine Person in einem Schrein hockend schon gegenwärtig. Sie entpuppt sich später als junger Siegfried in dessen Montur en miniature.
Leitmotiv der Inszenierung ist laut A. Bücker die “Kubatur der Sphäre” als positive Wendung des Paradoxon der ‘Quadratur des Kreises’. Dazu soll auch die multimediale Aufbereitung mittels fast permant die Bühne umzuckende abstrakt-farbiger Video-Projektionen (Frank Vetter, Michael Ott) beitrragen. Ein starkes Stück scheint es auch, dass das Team mit einer Innovation herauskommt, wie sie seinerzeit Klaus Zehelein mit seiner Ring-Inszenierung mit 4 verschiedenen Regisseuren in Stuttgart, den Ring in Dessau von hinten bzw. mit ‘Siegfrieds Tod’ als dem Erzähl-Nukleus der Götterdämmerung zu beginnen. Besonders erwähnenswert sind auch die Kostüme Suse Tobischs: so schräg, aber auch wieder streng kabuki-mäßig, dabei auch farbig kombiniert in ihren Applikationen. So hat man das so noch nicht erlebt.
Sängerisch gelingt auch fast alles an diesem Abend. Rita Kapfhammer, Anne Weinkauf und Cornelia Marschall sind das stimmlich volumenreiche, tatsächlich märchenhafte Nornen- und Rheintöchterterzett. Opernchor und Extrachor (Helmut Sonne) leisten auch Vortreffliches. Gutrune wird von Angelina Ruzzafante mit süßlichem, aber präzise geführtem Sopran gegeben. Nico Wouterse gibt einen fast träumerischen Alberich mit gediegenem Timbre. Der Hagen des Stephan Klemm ist nicht großstimmig, aber filigran singend und sehr präsent in seiner Maske als quasi Außerirdischer. Das trifft auch auf Gunther des Ulf Paulsen zu mit geschmeidigem, nicht zu dunklem Bariton. Arnold Bezuyen hat diesen angenehm timbrierten schönstimmigen Siegfried-Tenor, dem er auch zu seinem martialischen Äußeren große Kraft beimischen kann.
In der Waltrauten-Szene durchschreitet Rita Kapfhammer, die auch als Waltraute auftritt, zunächst unermessliche Räume, umgeben mit bunten Kreisen und Kuben, bis sie mit dem Ebenholz-Thron Brünnhildes ihr Ziel erreicht hat. Der folgende Dialog der beiden hat es in sich. Kapfhammer bringt mit warmem, sich steigerndem, bestphrasiertem Mezzo die schauerliche Göttermetamorphose in Walhall zu Gehör. Das wurde seit Waltaud Meier bei den Bayreuther Festspielen nicht mehr in dieser Intensität und Inbrunst wahrgenommen,. Und die Repliken Iordanka Derilovas lassen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Liebe und deren Pfand zu keinem Zeitpunkt weggeben würde. In diesem blaugrünen, fast an eine Meerfrau gemahnenden Outfit schreitet sie auch zu ihren letzten Handlungen am Rhein so stoisch souverän und dabei noch höchst erotisch. Dabei verfügt sie über eine stupende gesangliche Qualität, eine tolle Diktion und einen makellos schöntimbrierten Sopran, der auch in höchster Höhe sowie in der Tiefe völlig durchgestilt erscheint. Das wäre mal eine Brünnhilde für den Jubiläums-Ring 2013 in Bayreuth!

Oliver Hohlbach, operapoint, 13.05.2012

Kurzinhalt

Für Siegfried besitzt der von Alberich verfluchte Ring des Nibelungen ewige Macht. Auch Hagens Halbbruder Gunther möchte den Ring besitzen. Als es Siegfried an den Rhein zu Gunther verschlägt, verliert er unter dem Einfluß eines Zaubertranks jede Erinnerung an Brünnhilde, begehrt Gutrune und verspricht Gunther Brünnhilde zur Frau. Haßerfüllt wendet sich Brünnhilde gegen Siegfried und berichtet, daß sie quasi vermählt seien. Für seinen Betrug an Gunther tötet Hagen auf der Jagd Siegfried, doch Brünnhilde stürzt sich mit dem Ring in den für den Toten brennenden Scheiterhaufen. Die Flammen erfassen Walhall, die Götterdämmerung bricht an: Der Ring versinkt im Rhein und die Welt ist erlöst vom Fluch.

Aufführung

Der Ring in der Bauhausstadt Dessau, die Götterdämmerung im Bauhaus-Stil, wie ein Architektur-Designstil Bühnenbild und Personenführung beeinflussen kann, zeigt uns André Bücker, der Intendant des Theater Dessau: Die vielfarbigen Designer-Kostüme lassen Assoziationen in alle Richtungen zu. Ebenso ist jeder Figur eine eigene Geste zugeordnet. So zeichnet sich der ganz in weiß gekleidete Siegfried mit rotem Haarschopf und Stechschritt aus. Das Bühnenbild wirkt einfach: Die Spielfläche ist in zwei Ebenen aufgeteilt, die versenkt und gehoben werden können. Die hintere Ebene kann den Brünnhildenfelsen aufnehmen, der aus verschiebbaren Quadern besteht. Die vordere Ebene kann ein Stahlgestell (Niebelheim) aufnehmen, in das eine obere Plattform und drei Aufzüge integriert sind. Um diese Spielfläche hängen zwei gekrümmte Vorhänge, die kreisförmig verfahren werden können. Über dieses Bühnenbild werden Projektionen geworfen, die mit vielen Formen und Farben spielen.

Sänger und Orchester

Dominiert wird das ausgezeichnete Sängerensemble vom Rollendebüt Arnold Bezuyens als Siegfried. Er ist von der lyrischen Rolle des Loge aus dem Rheingold nun ins Heldentenor-Fach vorgestoßen. Nach dem Abend kann man feststellen, daß das Potential für diese Weiterentwicklung zweifellos vorhanden ist. Er versucht zunächst alle Töne – besonders die Heil-Brünnhild-Rufe – mit viel Klangvolumen auszusingen. Jedoch geht ihm spätestens zu Beginn des dritten Aktes die Luft aus, hohe Töne werden nur noch angesungen und am Ende wirkt die Waldvogel-Erzählung wie eine alternative tiefere Notierung. Iordanka Derilova als Brünnhilde ist ein hochdramatischer Sopran, der mit viel Durchschlagskraft der Brünnhilde gerecht wird, wenn ihr auch die warmen einfühlsamen Töne (noch) fehlen. Ulf Paulsen kann mit seinen stimmlichen Mitteln aus dem Vollen schöpfen – bei ihm ist Gunther ein zurückhaltender Mensch. Angelina Ruzzafante wertet mit ihren glockenklaren Tonkaskaden die Gutrune von der jugendlichen Naiven zum Vollweib auf, wird damit zur Gegenspielerin der Brünnhilde. Genau das gleiche gelingt Rita Kampfhammer als Waltraute: Ein schier unerschöpfliches Stimmvolumen und Ton-Umfang ermöglicht ihr mit einem mystisch-rauchigen Ausdruck die Verzweiflung der Waltraute greifbar zu machen. Stephan Klemm verleiht dem Hagen mit seiner soliden Baß-Stimme entsprechendes Auftreten, wenn auch ein wenig Bösartigkeit fehlt. Der Chor besticht durch transparentes Klangbild und exaktes Zusammenspiel, besonders, da er mit einem Extrachor verstärkt wurde. Antony Hermus führt die Anhaltische Philharmonie ohne Probleme durch die Untiefen der Götterdämmerung. Die symphonischen Zwischenstücke wie Siegfrieds Rheinfahrt werden monumental breit mit viel Leidenschaft gespielt. Manchmal wirkt das gefühlte Tempo sehr breit, aber das Finale wird zu einem Kumulationspunkt der Hoffnung.

Fazit

Minutenlange Ovationen, ein tobendes Publikum – das ist der Lohn für eine sehr aufwendige, den Zuschauer in der Farben-Formen-Bilderflut fast ertränkende Inszenierung. Die körperstarre gestendominierte Personenführung erinnert an Regisseur Robert Wilson, wodurch im ersten Akt Längen entstehen, denn die teilweise unverständlichen Gesten verundeutlichen manches Mal die Handlung). Auch stören die permanent grellen Projektionen unkonkreter Formen quer über das gesamte Bild. Dennoch überzeugt die Produktion durch eindrucksvolle Bühnenbilder. Musikalisch bestätigt dieser Ring das Anhaltische Theater Dessau als derzeit führendes Haus im Großraum Berlin – und als Wahrer einer Wagner-Tradition in Dessau.

Helmut Rohm, Magdeburger Volksstimme, 14.5.2012

Faszinierende Verknüpfung zweier Mythen zum Gesamtkunstwerk

Dessau-Roßlau l Mehr als 15 Minuten stürmischen Beifall und Standing Ovations zollten die Besucher im Anhaltischen Theater Dessau am Sonnabend nach fünfeinhalbstündiger Aufführung Darstellern, Musikern und Inszenierungsteam. Mit der "Götterdämmerung" hat das vierjährige Projekt von Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen" einen grandiosen Auftakt erfahren.

Zunächst ist es ganz still, nachdem der letzte Ton verklingt. Die mehr als 1000 Gäste sind noch gefesselt vom überwältigenden Finale. Ganz weit weg in der schier unendlichen Tiefe der in Rot getauchten Bühne wird Brünnhilde ins Feuer reiten. In den videogestützten raumübergreifend tosenden Rhein wird der Ring zurückkehren. Hagen versinkt in den Fluten. Der Untergang der Götter ist besiegelt.

Regisseur André Bücker, der den "Ring" vom Ende her erschließt, ist mit seiner Inszenierung ein "großer Wurf" gelungen. Eine Inszenierung, die so nur in der Bauhausstadt Dessau möglich ist. Wenn man denn Mut und Visionen hat und sich eines engagierten Ensembles sicher ist.

Diese Opernaufführung ohne modernisierende Neudeutung ist getragen von der faszinierenden Verknüpfung zweier Mythen zu einem ganzheitlichen Kunstwerk. Dem der Götterbeziehungen an sich und dem Mythos der klassischen Moderne des Bauhauses. Damit wurde ebenso eine Art Mythos vom "Dessau als Bayreuth des Nordens" neu begründet.

Dass Text in Übertiteln, trotz des gut verständlichen Gesanges, präsentiert wird, hilft dem Zuschauer, die spannende Geschichte über Liebe und Treue, Macht, Intrige sowie Verrat und schließlich auch Tod und Erlösung schnell nachvollziehen zu können. Und sich damit voll dem Geschehen auf der Bühne und der grandiosen Musik hingeben zu können.

Das alles letztendlich so prächtig gelang, war gerade bei dieser Wagner-Oper eine Gesamtleistung aller Mitwirkenden hinter und auf der Bühne. Die die Handlung dem Publikum mit Gesang, Mimik und Gestik unmittelbar nahebringen, sind die Darsteller. Großer Beifall und Bravo-Rufe gab es für alle. Durchweg alle verbanden Gesang und Spiel, natürlich rollenabhängig, sehr überzeugend.

Dennoch gab es mit Iordanka Derilova (Brünnhilde) und Stephan Klemm (Hagen) zwei ausgemachte Publikumslieblinge. In weiteren Rollen brillierten Arnold Bezuyen, Ulf Paulsen, Nico Wouterse, Angelina Ruzzafante, Rita Kapfhammer, Anne Weinkauf und Sonja Freitag. Die Chöre unter Helmut Sonne überzeugten einmal mehr mit Gesang und Spiel gleichermaßen hervorragend.

Die Bühnenbildgestaltung von Jan Steigert verdient eigentlich eine umfangreiche eigene Betrachtung, weil so viel Symbolik darin steckt und sich wundersame Verwandlungen vollziehen. Farbe, Licht und Formen, ganz im Bauhausstil, waren stimmig eingesetzt.

Für eine technische Meisterleistung und gleichsam eine verblüffende dramatische Regieidee steht der schwarze Kubus, aus dem auf freier Bühne der Walkürefelsen "geboren" wird. Die Mystik unterstreichende Kostüme hat Suse Tobisch geschaffen.

Videoeinspielungen vervollständigen die Stimmung, unterstützen Handlungen, hätten aber an manchen Stellen etwas dezenter ausfallen können.

Bei teils stakkatohaften symbolträchtigen "Bewegungsmustern" stutzte der eine oder andere Gast zunächst - Spielraum, für sich selbst eine Deutung zu finden.

Wagners Musik in ihrer Vielschichtigkeit zu beschreiben, erscheint überflüssig. Der Anhaltischen Philharmonie unter GMD Antony Hermus ist in Ehrfurcht zu danken, was das Publikum mit spontanem stehenden Beifall tat, als alle Musiker auf der Bühne erschienen.

Joachim Lange, Mitteldeutsche Zeitung, 14.5.2012

Premierenpublikum feiert Dessauer «Götterdämmerung»
DESSAU-ROSSLAU/MZ. Die Götterdämmerung ist schon von der puren Länge her das gewaltigstes Einzelstück aus Richard Wagners Ring-Vierteiler. Doch in dem Fünfstünder sind viele der Ring-Messen längst gesungen. Es wird nur in ausführlichen Rückblenden daran erinnert, dass es da einen schweren Fall von Goldraub gab. Mit weitreichenden Folgen und etlichen Toten. Denn mit dem Ring, den sich Alberich aus seiner Beute schmiedet, bekam das Unheil in der Welt sein Symbol. Wotan geht fremd Selbst Wotan, der eigentlich für die Ordnung der Welt zuständig ist, wurde als er vom Ring hörte, zum Dieb. Außerdem geht er fremd, was das Zeug hält, versucht, den Inzest seiner außerehelich gezeugten Zwillinge zu decken, und verhilft obendrein noch deren Sprössling Siegfried zu einer Liebschaft mit der eigenen Tochter Brünnhilde. Dass er damit zugleich versucht, die in den Dreck gefahrene Kiste Welt wieder flott zu machen und den eigenen Untergang in Kauf nimmt - das alles gehört zur Vorgeschichte. Da läuft Siegfried "nur" noch bei den Gibichungen in Hagens tödliche Intrigenfalle. Was Wagner auf seine vertrackt großartige Weise seinem 19. Jahrhundert, also auch dem aufkommenden Kapitalismus abgelauscht hat, zu entwickeln und neu zu befragen, macht den Reiz der Ringtetralogie aus. Wenn man, aus welchen guten Gründen auch immer, den Ring vom Ende her beginnt, fehlt natürlich die Vorgeschichte. Und das ist ein Problem. Aber sei's drum. Für die Wagnerfans in Sachsen-Anhalt hat das den Vorzug, dass man dem "Siegfried" in Halle eine gänzlich andere "Götterdämmerung" folgen lassen kann. André Bückers Ring-Ansatz zielt ohnehin nicht auf die offenkundige (vor allem von Joachim Herz in Leipzig und dann von Patrice Chereau in Bayreuth in den siebziger Jahren beispielhaft ausgelotete) Korrespondenz zur Gesellschaft, in der das Werk entstand, oder auch zu der, in der er inszeniert wird. Er nimmt die "Götterdämmerung" für sich, als den ästhetischen Kosmos eigenen Rechts. Dabei macht er aus dem vermarktungscleveren Zusatz zum Titel des Projektes " … in der Bauhausstadt Dessau" ein ästhetisches Prinzip. Und das mit einer erstaunlichen Konsequenz und einem ausgeprägten Formwillen. Dabei nimmt er in Kauf, dass die Form (zu) oft über den Inhalt, ja sogar über die Musik triumphiert. Vor allem die permanent flimmernden Projektionen (von Frank Vetter und Michael Ott) auf dem weiß verkleideten Bühnenportal nerven schnell. Mag sein, dass das die rampennahe Statik der Personenplatzierung ausgleichen sollte. Im Ganzen gelingt freilich eine faszinierende Kunstanstrengung. Denn die von den Farb-, Form- und Theateransätzen der Bauhäusler oder von Robert Wilsons ritualisierter Bewegungsdramaturgie und Lichtmagie inspirierte Ästhetik trägt szenisch vor allem deshalb, weil Jan Steigert eine großartige Raumlösung gelungen ist. Der Walkürenfelsen ist ein schwarz glänzender Riesenquader, dessen 14 Schichten so beweglich sind, dass sie sich mit scheinbarer Leichtigkeit zu einem abstrakt stufigen Felsen auffächern lassen. Meisterwerk der Bühnentechnik Als Gibichungen-Halle fungieren drei riesige Turmkonstrukte, in denen man sich ebenso wie auf dem umgebenden Plateau wie von Fahrstuhl-Zauberhand auf und ab bewegen kann. Zusammen mit den beweglichen Teilhorizonten, die als Projektions-Leinwände im Dauereinsatz sind, ist da ein Meisterwerk der Bühnentechnik zu bestaunen, das obendrein wie geschmiert funktioniert. Suse Tobischs Kostüme fügen sich in ihrer bunten Abstraktion als eigenständige Kunstwerke ein. Mal mehr - wie bei Brünnhilde oder den blau berockten, mit Neon-Leuchtspeeren bewaffneten Mannen. Mal weniger - wie ausgerechnet beim Siegfried. Der sieht schon seltsam antiheldisch, wie ein missglücktes Playmobil-Männchen aus, dem der Regisseur obendrein eine Art Stechschritt verordnet hat, mit dem der Ärmste wie der Storch im Ringsalat herumstapfen muss. Es lacht trotzdem keiner. Die Konsequenz schützt ihn. Und natürlich der fast bis zum Schluss tadellose, exzellent wortverständliche Gesang, mit dem Arnold Bezuyen seinen ersten Siegfried meistert! Wie Halle kann auch Dessau mit dem Superhelden glänzen. Stephan Klemm ist wenn auch kein übermäßig diabolischer, aber doch ein hochsouveräner Hagen. Ulf Paulsen fügt seinem Gunther eine Extraportion Spiel hinzu. Angelina Ruzzafante leidet besonders überzeugend als betrogene Gutrune. Nico Wouterse ist der immer noch ehrgeizig mitspielende, seinen Sohn Hagen manipulierende Alberich. Ein Kabinettstück von Wagnergesang lieferte Rita Kapfhammer mit ihrer Waltrauden-Erzählung (aber auch als erste Norne und Flosshilde). Anne Weinkauf und Sonja Freitag komplettierten das orakelnde Trio der Nornen und der Rheintöchter. Bleibt die hauseigene Brünnhilde: Iordanka Derilova. Die läuft nach kleinen Anlaufproblemen ab dem zweiten Akt zu erstklassiger Form auf. Mit einer unglaublichen, vibratoreichen Durchschlagskraft, doch stets ohne zu brüllen und mit mustergültiger Artikulation! Und während die Musik das Ende der Götter zelebriert, kommt ein kleiner Jung-Siegfried vor den Vorhang. Was wohl "Alles auf Anfang" heißen soll. Seinen Jubel für die Protagonisten und die von Helmut Sonne einstudierten Chöre steigerte das Premierenpublikum noch einmal bei Antony Hermus und der Anhaltischen Philharmonie. Dem Generalmusikdirektor und Ring-Neuling ist es wirklich auf Anhieb gelungen, die Geister der langen Wagner-Tradition im Bayreuth des Nordens für seinen Ring-Auftakt zu erwecken. Dafür gab es am Samstagabend ganz zu Recht stehende Ovationen.

Peter Jungblut, Bayerischer Rundfunk, 13. Mai 2012

Für ihre romantische Ader sind die Bauhaus-Künstler nicht gerade bekannt. Und auch mit Richard Wagners gefühlsgeladenen Werken hatten sie wenig im Sinn, ging es dem Bauhaus doch um einen Aufbruch in die Moderne, um Zweckmäßigkeit, Alltagstauglichkeit, kurz und gut: Um die Beschränkung auf das Wesentliche. Deshalb beschäftigte sich das Bauhaus mit den drei Grundfarben rot, blau und gelb, und mit drei Grundformen Kreis, Dreieck und Viereck. Man könnte auch sagen: Mit Harmonie und Geometrie. Genau diese Gedanken bestimmten auch die "Götterdämmerung", die gestern Abend in der Bauhaus-Stadt Dessau Premiere hatte. Intendant und Regisseur André Bücker.
[André Bücker: Das Bauhaus hat natürlich auch eine ganz wichtige Wirkung hier in der Stadt, als Weltkulturerbestätte, als großer Partner auch für das Theater, und wir haben uns bei der Konzeption, bei den Überlegungen zum Ring natürlich Gedanken gemacht, wo siedeln wir das an, wir behandeln wir diesen Stoff und da sind wir auf die klassische Moderne gekommen, da sind wir auf Wieland Wagner gekommen mit Neubayreuth, die Einflüsse, die es da aus der klassischen Moderne und dem Bauhaus-Bereich gab, auch Paul Klee. Das wichtige bei unserem Ring ist, dass wir nicht eine kalte, analytische, geometrische Veranstaltung machen, sondern dass sich über diese äußere Form auch stark die Emotionen transportieren.]
Bauhaus auf der Opernbühne - das hat also Tradition. In den radikal leer geräumten Bühnenbildern von Wieland Wagner in den fünfziger Jahren ersetzte das Licht beinahe sämtliche Requisiten, Kostüme und Kulissen. Einen ähnlichen Weg beschritt André Bücker. Farbprojektionen dominierten die Götterdämmerung, immer streng entlang der Grundfarben rot, blau und gelb. Selten tauchten germanische Runen in diesen Flächen auf, oder auch Liniengewirre und pulsierende Formen, die mal an Zellkulturen, mal an Blutkreisläufe oder Schattenspiele erinnerten. Natürlich bewegten sich die Sänger in dieser abstrakten Bauhaus-Optik streng geometrisch: Eine Finger-, Hand- oder Armbewegung ist jeweils ein Ereignis - alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf diese kleinen und kleinsten Gesten. Ansonsten sind die Personen wie erstarrt, wie eingenäht in ihre Bauhaus-Kostüme. Auch hier hält sich das Design strikt an die Grundfarben und Grundformen des Bauhaus-Stils - Siegfried stakst in rechteckigen Riesenstiefeln herum, die Rheintöchter tragen kegelförmige Röcke, Brünnhilde zieht mit einem dreieckigen, roten Herz die Blicke auf sich, Hagen schüchtert seine Gegner mit einem Kampfanzug in Brauntönen ein. Das alles hätten den Bauhaus-Künstlern vermutlich sehr gefallen - ist aber nicht immer bühnenwirksam. Die Beschränkung auf wenige Gesten und Blicke steigert zweifellos die Konzentration des Publikums, das streckenweise dem Konzept schier atemlos folgte. Andererseits ist eine derart strenge Orientierung am Bauhaus bisweilen ermüdend - vor allem dann, wenn sich die Personen bei Wagner eigentlich total entäußern, also alle Grenzen und Konventionen hinter sich lassen und ganz ihren Gefühlen folgen. In solchen Momenten wirken sowohl die grellen Lichteffekte, als auch die reduzierte Körpersprache fehl am Platz. Gerade die Lichtregie war so emsig und aufdringlich im Einsatz, dass weniger deutlich mehr gewesen wäre, um mit dem Bauhaus zu argumentieren. Dennoch ein großer Erfolg für Dessau, auch wegen des grandiosen Orchesters unter Leitung von Antony Hermus. Er dirigierte ausgesprochen feinfühlig, was den überwiegend hervorragenden Sängern zugutekam. Soviel Textverständlichkeit ist selten, und auch das darf getrost zu den Bauhaustugenden gerechnet werden.

zu „Richard Wagner ‚Götterdämmerung‘ gelesen von André Bücker und Gerald Fiedler“

Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung, 24.01.2012

Die schönen Alliterationen
Wagners „Götterdämmerung“ gelesen.
Dass Richard Wagners Operntexte ohne die dazu gehörige, grandiose Musik gelinde gesagt speziell klingen, ist keine neue Erkenntnis. Namentlich der „Ring des Nibelungen“ hat mit seiner künstlichen Archaik und den grotesken Alliterationen schon häufig Anlass zu ironischen Adaptionen geboten. Dass man über die scheinbaren Schwächen dieses Werkes um so begründeter lachen kann, wenn man seine tatsächlichen Stärken ernst nimmt, zeigte nun eine Lesung der „Götterdämmerung“ im Alten Theater. Denn der Dessauer Generalintendant André Bücker näherte sich gemeinsam mit Schauspieler Gerald Fiedler hier ja einem Stoff, den er in wenigen Monaten mit größtmöglichem Aufwand und den vereinten Kräften seines Hauses auf die Bühne bringen will. Vor diesem Hintergrund kam dieser skelettierten Fassung der Tragödie um Siegfried und Brünhilde, Gunther und Hagen eine besondere Bedeutung zu. Bücker und Fiedler teilen die umfangreiche Personnage, zu der sich im letzten Teil des „Rings“ ja auch noch ein Chor gesellt, brüderlich durch zwei - und provozieren bereits durch diese simple Verabredung Gelächter im ausverkauften Haus. Denn wenn man mit heiligem Ernst einen Dialog mit sich selbst führen muss oder binnen kürzester Zeit die Rollen zu wechseln hat, dann ist das natürlich komisch - ganz gleich, wie tragisch sich die vorgetragenen Texte geben. Dass sich die beiden Sprecher zudem nicht auf die reine Lesung verlassen, sondern beiläufig Auf- und Abgänge sowie markante Gesten oder charakteristische Stimmfarben in die Handlung integrieren, steigert die Heiterkeit. Den größten Effekt aber machen jene Regie-Anweisungen, die Richard Wagner in seiner ganzen Ambivalenz als versierten Theaterpraktiker und visionären Gesamtkunstwerket zeigen. Denn das, was hier so wortreich beschrieben wird, ist für das Verständnis des Geschehens zwar einerseits unverzichtbar, im buchstäblichen Sinn aber zugleich unumsetzbar. Am Ende kehrt der „Ring“ dorthin zurück, woher er im „Rheingold“ genommen wurde - doch das ist ein anderer Teil der Geschichte, der in Dessau erst 2015 erzählt werden soll.

zu „Regina oder die Eichhörnchenküsse“

Martin Hatzius, NEUES DEUTSCHLAND, 26.09.2011

Fortsetzung folgt: eine Aufforderung
THEATER I: Dietmar Daths »Regina oder Die Eichhörnchenküsse« am Nationaltheater Mannheim
Mannheim, Baden-Württemberg, Abendrot. Am Laternenmast auf der Straße hängt ein Pappschild, auf dem die örtlichen Grünen zu einer Diskussionsveranstaltung laden. Auf der Studio-Bühne des Nationaltheaters sinkt unterdessen Nicola Zerweck in sich zusammen wie bald die Sonnenblume auf dem welken Plakat. Die Zerweck: eine Behördenbeauftragte mit schwarzem Künast-Igel, Typ: Lehrerin, »aufgeschlossen, ökologisch, basisdemokratisch, sozial, gewaltfrei«. Regina Jordis hat ihr Gift in den Kaffee getan.
Regina, Titelheldin von Dietmar Daths gerade uraufgeführtem Science-Fiction-Stück, ist Professorin am Mannheimer Institut für biologische Verhaltensforschung, Kopf eines kleinen Teams, das den Metamykoplasmen auf der Spur ist. Diese Parasiten sind, wie die Wissenschaftlerin nachweisen will, Verursacher von Anpassung, Gehorsam, Gruppenzwang in menschlichen Gemeinschaften. Was, wenn es Regina gelänge, ein Mittel gegen die Bakterien zu entwickeln?
Es gibt Leute, die das um jeden Preis verhindern wollen. Zum Zeitpunkt, da die Professorin ihre behördliche Prüferin vergiftet, wir schreiben vielleicht das Jahr 2015, liegen die Ergebnisse ihrer Arbeit bereits in Trümmern. Reginas Gegenspieler, der Psychotherapeut Hartmut Uhlig, Teil ihres eigenen Teams, hat die Kabel zerschnitten, die Rechner zerstört. Möglich aber war ihm das nur durch das unbedarfte Zutun der Nicola Zerweck (in staatstragender Geschwätzigkeit: Almut Henkel), die nun noch einmal in der Institutsruine aufkreuzt, um der geschlagenen Forscherin zu versichern: »Nichts ist mir wichtiger, als dass Sie nicht das Gefühl haben, man tut Ihnen Unrecht.« Regina Jordis erwidert der Gutmeinenden kalt: »Sowas nehme ich nicht über Gefühle wahr. Unrecht ist, wenn der Tausch nicht fair ist. Das kann man sehen.«
Das Stück strebt nach zwei atemlosen Stunden, vier Todesfällen und einem Haufen Nüssen, die es erst noch zu knacken gilt – ein Plüscheichhörnchen fungiert darin als Funkgerät ins Unbewusste –, seinem Ende entgegen. Das besteht, so will es die Regie (André Bücker, Ingoh Brux), aus drei Worten: »to be continued«, Fortsetzung folgt.
Offen ist das Ende aber nicht auf dieselbe Weise wie die Folge einer Fernsehserie, deren Fans nach der baldigen Auflösung der entwickelten Konflikte lechzen. Die Konflikte, um die es in Daths »Spiel für fünf Menschen« geht, sind gar nicht zu lösen. Aber nirgends als auf der Gegenwartsbühne sind sie besser zu fassen – wenn denn dort wirklich mal ein so streng konstruiertes, so brutal überforderndes, so forsch den Lebensdämonen ins offene Herz greifendes Drama gegeben wird wie dieses. »Ich mag Fragen«, bekennt dessen Autor im Programmheft, »denen man ansieht, dass sie wertvoller sind als jede Antwort, die sich darauf finden ließe.« Die Mannheimer Inszenierung ist so eine wertvolle Frage, mit aller dem Theater zu Gebote stehenden Sinnlichkeit hervorgebracht. Wenn man den Saal verlässt, rumort es im Hirn und im Brustkorb, weiter unten auch. Was boxt da und zwickt und kneift und will keine Ruhe geben? Es ist die aufgeworfene Frage. Sie will sich der Welt draußen stellen. »Fortsetzung folgt«: keine Ankündigung, eine Aufforderung.
Die Frage lautet: Wer hat recht?
So scharf konturiert wie hier, zwischen dem weiß gerahmten Laborglas auf der Bühne (Jan Steigert) und den transparenten Gaze-Projektionswänden, die sie begrenzen (Video: Michael Ott, Frank Vetter, Regina Hess), bekommt man die verschiedenen Positionen, die verschiedene Leute zum selben Problem einnehmen können, selten zu Gesicht. Zum ersten ist da Regina, die geniale Naturwissenschaftlerin, der die Mittel dem Zweck nachgeordnet sind: Um herauszufinden, ob es tatsächlich die von ihr entdeckten Mikroorganismen sind, die den Menschen am selbstbestimmten Streben nach seinem ureigenen Glück hindern, nimmt sie es mit der Legalität ihrer Datenerhebungsmethoden nicht allzu genau – Verfahrensfehler bürokratischer Art werden das Einfallstor für die Feinde ihres Strebens sein. Dascha Trautwein spielt die von ihrer Assistentin geliebte, von ihrem Zuarbeiter gefürchtete, von der Behördenschnüfflerin beargwöhnte und vom Psychiater ehrfürchtig gehasste Heldin (und Rachegöttin) mit all der Souveränität, die dieser fürchterlich mächtigen Figur gebührt. Was Trautweins gewaltige Bühnenpräsenz mit dem Zuschauer anstellt, steht auf einem anderen Blatt: Ob man Regina liebt, fürchtet, beargwöhnt oder hasst, hängt davon ab, wer man selber ist.
Weniger leicht machen Stück, Inszenierung und Darsteller (Sascha Tuxhorn) es dem Zuschauer, den Seelenarzt Uhlig zu mögen. So souverän wie seine Antipodin, aber anders als jene intrigant und niederträchtig, tut dieser Mann alles dafür, Regina das Handwerk zu legen. Weil er die Menschen für »Mistviecher« hält – »Leute wie du«, schleudert er Regina entgegen, »reden ihnen ein, sie wären mehr als das, und dadurch werden sie noch schlimmere Mistviecher« –, hält er den Käfig für den einzigen angemessenen Ort, sie darin zu halten. Ein Recht auf Glück, sagt der irre nüchterne Therapeut, gibt es nicht.
Die direkte Auseinandersetzung der beiden ist der Gipfel des Stücks. Uhligs Brandrede wider die Möglichkeit eines besseren Menschen entgegnet Regina Jordis: »Was mich verblüfft: Nirgends in deiner Predigt taucht die Frage auf, ob das die Wahrheit ist, was ich hier gefunden habe.« Uhlig: »Interessiert mich, ob das die Wahrheit war, was Marx geschrieben hat? Was kam dabei heraus? Gulag, Mauer, Misswirtschaft ...«
Der Dialog mündet in den Gewaltakt: Hartmut Uhlig prügelt Regina Jordis das ungeborene Kind aus dem Leib – aber nicht aus dem Kopf (ein ermordeter Junge hängt von Beginn an in einer Vitrine, ist aber, wie man spät erfährt, alles andere als ein makabar-okkultes Schaustück). Das einzige Mal sehen wir nach Uhligs Bluttat die starke Heldin schwach. Zwischen Rechnern und Reagenzgläsern krümmt sie sich am Laborboden. Sie wird wieder aufstehen. Um am Ende dahin zu verschwinden, wo sie zu Hause ist. Ins Unbekannte.
Des weiteren treten auf: Abidin Demir (Michael Fuchs erinnert ein wenig an Cem Özdemir), Reginas linke Hand im Labor, ein schwuler Türke, der seiner Angst vor der eigenen Courage nicht gewachsen ist. Wenn es die Metamykoplasmen wirklich gäbe, Abi-din wäre Anschauungsobjekt eines Infizierten. Die tiefe Furcht vor dem Unvorhersehbaren erst macht ihn zu Uhligs Marionette, dann zu Reginas Verräter, letztlich entleibt er sich selbst.
Dann und vor allen: Ina Brendel (unverdorben naiv und deshalb so tatkräftig: Michaela Klamminger), Doktorandin, von sicht- und unsichtbaren Kräften hingezogen zu ihrer großen Kollegin (und Geliebten) Regina. Wen Ina verlässt, um bei Regina zu sein, das ist Hartmut, der Therapeut. Der, beleidigt, über sie: »Ina, das sagt der Name schon, ist nur eine Regina, der etwas fehlt.«
Was das ist, was ihr fehlt, ich glaube, darauf kommt es an. Ina, die einzige unter den fünf Protagonisten, die weder zum Mörder noch zum Mittäter wird, die einzige auch, die am Ende weder tot noch hinter Schloss und Riegeln ist, folgt ihrer »Königin« aus Liebe – zu Regina selbst, zu der Wahrheit, für die sie ficht. Aber um derart zu lieben, muss Ina nicht Königin noch Mörderin sein, nur lernend Handelnde. Eine wahrlich utopische Gestalt. Die menschlichste von allen.


Martina Klemm, Allgemeine Zeitung Mainz, 24.09.2011

Chaos im Labor
URAUFFÜHRUNG Daths „Regina oder Die Eichhörnchenküsse“ in Mannheim
Die Bühne als Zukunftslabor. Kann das funktionieren? Im Falle von Dietmar Daths jüngstem Stück „Regina oder die Eichhörnchenküsse“, das im Studio des Mannheimer Nationaltheaters Uraufführung hatte, kann es nur ein eingeschränktes „Ja“ geben. Denn komplexe, urphilosophische Menschheitsfragen - etwa die nach der Willensfreiheit des Menschen - lassen simple Schlussfolgerungen nicht zu. Weil im Stück aber zu viele Antworten auf zu viele Fragen gegeben werden sollen, baut sich die Tragödie im Laufe zweier Stunden als hochüberfrachtetes Monster vor dem Zuschauer auf.
Schauplatz des Geschehens ist ein Zentrum für biologische Verhaltensforschung, in dem Prof. Regina Jordis (Dascha Trautwein) erkundet, auf welche Weise soziale Anpassung funktioniert. Die Wissenschaftlerin hat entdeckt, dass eine heimtückische Bakterienart die Menschen am freien Denken und Handeln hindert. Der Therapeut im Forschungsteam, Dr. Hartmut Uhlich (Sascha Tuxhorn), trachtet indessen danach, alle Ergebnisse zu vernichten, weil er die Bakterientheorie für gefährlich hält. Er stellt die Gegenfrage: Was wäre, wenn man die „Krankheit“ Anpassung an eine Gruppe wirklich ausschalten könnte und die Menschen nur noch frei und selbstverwirklicht wären?
Während das Wissenschaftsteam elementaren Fragen für ein besseres Leben in der Zukunft nachjagt, entwickelt sich das soziale Klima im Jetzt und Heute immer bedrohlicher. Der Mitarbeiter Abidin (Michael Fuchs) droht am Tempo zu zerbrechen, Ina (Michaela Klamminger) verliert sich selbst an ihre „Über“-Chefin Regina, die Mitarbeiterin der Aufsichtsbehörde, Nicola (Almut Henkel), schwankt gefährlich zwischen Ablehnung und Zugeständnissen und bezahlt mit dem Tod. Der Wahnsinn bahnt sich allmählich seinen Weg - er führt ungebremst ins Chaos.
Wie dem Stücktext, so hätte auch André Bückers Inszenierung etwas mehr Beschränkung auf das Wesentliche gut getan. In seinem gläsernen Labor der Zukunft werden zu viele Informationen gleichzeitig verarbeitet. Ein schier endloses Schriftband läuft ab, antike Götter-Gestalten tauchen auf, es gibt Plüschtiere und Naturfilmeinspielungen im Hintergrund. Ein uneingeschränktes Lob gilt allerdings den Schauspielern, denen es ausnahmslos gelingt, das überbordende Sprechtheater eindrücklich zu strukturieren.

Jan Küveler, DIE WELT, 26.09.2011

Hier produzieren die Eingeweide Backups
Uraufführungen in Frankfurt und Mannheim: Lothar Kittstein und Dietmar Dath haben den Kapitalismus auf dem Kieker
Dem Kapitalismus, diesem klebrigen Ding, ist bekanntlich schwer beizukommen. Nach Art eines Fliegenfängers haftet ihm alles an, was sich von seinem Honigversprechen einlullen ließ. Kürzlich gingen ihm selbst die Chinesen auf den Leim. Als letztes Bollwerk, hinter dessen subventionsmächtigen Mauern die gesellschaftliche Utopie blüht, inszeniert sich gern das deutsche Stadttheater. "Anderes Denken, anderes Fühlen muss doch noch möglich sein!" lautet ein Lieblingsmantra der zeitgenössischen Dramatik, von Nis-Momme Stockmann bis Roland Schimmelpfennig. Jetzt waren gleich zwei entsprechende Bemühungen zu besichtigen, als Frankfurter und Mannheimer Uraufführungen: Lothar Kittsteins "Die Bürgschaft" und Dietmar Daths "Regina oder die Eichhörnchenküsse".
Die beiden Autoren nähern sich ihrem Thema auf Umwegen, blicken es gleichsam durch einen Spiegel an, denn wer dem Basilisken ins Gesicht sieht, erstarrt zu Stein. Die Poesie verfährt durch Tücke und Gleichklang: Kittstein nimmt den Kapitalismus mittels Kolportage in den Blick, Dath mittels Camp.
Die bewusste Kolportage spielt mit Plot- und Figuren-Klischees. In jedem Moment schimmern Versatzstücke und Zitate durch. Schon Kittsteins Titel ist eins: "Die Bürgschaft". Hat aber nichts mit Schiller zu tun, oder nur sehr wenig. Ein Mann schleicht um Mitternacht zu einem anderen, statt eines Dolchs eine Pistole im Gewande. Aber das Opfer heißt nicht Dionys, sondern Gerd. Und ist kein Tyrann, sondern Investmentbanker. Er hat zwecks Adoption ein osteuropäisches Baby gekauft. Das heißt, bisher ist es nur geleast. Die letzte Rate beläuft sich auf 85 000. Die Währung bleibt ein Geheimnis. Genau wie der Ort der Handlung. Das Wesen der Gegenwart soll sich in der Abstraktion enthüllen.
Bühnenbildnerin Anne Ehrlich verrät nur eins: Es geht bergab. Eine Rampe, auf der sich trefflich rollerbladen oder rollstuhlfahren lässt, dominiert die Bühne. Darüber hängen allerlei Lampions, als habe sich Madame Butterfly zum Tee angekündigt. Aber da ist nur der finstere Pistolero (Till Weinheimer). Er knutscht mit der wohlstandsgelangweilten Ehefrau (Anita Vulesica), während Gerd (Isaak Dentler) durch die Nacht zieht, verzweifelt bemüht, das Geld aufzutreiben. Sonst setzt es Kopfschüsse. Dentler fühlt sich zu Recht im falschen Film, blickt mit einem Mal auf das eigene Leben wie an tausend Fernsehabenden auf die Mattscheibe - Pulp Fiction. Das ist wohl angewandte Ideologiekritik: das Durchschauen von Verblendungszusammenhängen, in die man verstrickt ist.
Die junge britische Regisseurin Lily Sykes, die seit einer Weile in Frankfurt arbeitet, hat die Kooperation mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen als rasantes Road Movie inszeniert. Seine beiden Höhepunkte sind die Auftritte von Ernst Alisch als im Altenheim vermodernder Vater sowie als schneidiges Raubopfer mit Cosmo-Kramer-Gedenkfrisur. Für sein stilistisches Vorbild aus der US-Serie "Seinfeld" dürfte Alischs Kramer indes wenig übrig haben: Der Humor von New Yorker Juden kann ihm gestohlen bleiben. Er kommt, als Gerd ihm begegnet, eben aus "dem neuen Woody-Allen-Film". Er findet ihn grauenhaft. Zu jämmerlich, würdelos verzagt. Nicht gestohlen bleiben kann ihm hingegen sein Geld. Er fordert Dentlers handzahmen Möchtegern-Räuber in Nadelstreifen zum Faustkampf. Der Banker purzelt wie eine Aktie im Crash. Beim schnoddrigen Papa, den er morgens um vier besucht, holt er sich eine weitere blutige Nase: "Das mag keiner, was du machst! Das ist nicht gut!"
Wenn Alisch spricht, kommt Leben in die Papierbude. Zwischendurch fürchtet man immer wieder, Kittstein nehme seinen Auftrag als Wortdrechsler zu wörtlich; die Sätze scheinen sich weniger einer brütenden Menschenseele zu verdanken als einem kalten Holzschnitzmesser. Alisch aber bringt die Puppe zum Tanzen. Was bleibt? Allerlei Kurzweil, bis zum unsinnig brutalen Ende.
In Mannheim wird radikaler gedacht, radikaler gelebt. Dath - wie Kittstein Jahrgang 1970 - steigert die Kolportage zum Camp. Zeichnet also eine überzüchtet artifizielle Welt. Alles hier ist androgyn, grell und geschminkt. Die Verhaltensbiologin Regina Jordis forscht an einer Mikrobe namens Metamytoplasma: Die hält die Menschen dumm und autoritätsgläubig. Jordis (Dascha Trautwein) träumt von einer Welt voller Eigensinn, wodurch erst echte Solidarität möglich werde. Inzwischen hat sie lesbischen Sex mit ihrer Laborassistentin (Michaela Klamminger) und angeregte Unterhaltungen mit einem Stoffeichhörnchen. Ein eifersüchtiger Boyfriend (Sascha Tuxhorn) mit einer Frisur, gegen die selbst Cosmo Kramers Pipifax ist, sabotiert schließlich die Computer. Zum Glück ist alles in einem Kunstwerk aufbewahrt: einem blauen Pappmaché-Jungen, der an der Decke hängt. Seine Eingeweide machen Backups. Frau Professor Jordis geht trotzdem ins Wasser.
Daths Stück ist sagenhaft verquatscht. Regisseur André Bücker hetzt die Schauspieler durch den absurden Text, dass einem die Ohren schlackern. Wo Kittstein sich beim Banker-Sprech bedient ("Real ist, was bezahlt ist"), schickt Dath Mr. Spock in den Zoo: "Hörnchen, die Zeitintervalle machen mir immer noch Verdruss." Die beiden Vieldichter sollten sich eines hinter die Ohren schreiben: Kapitalismuskritik lässt sich schlecht am Fließband produzieren.

Ralf-Carl Langhals, Mannheimer Morgen, 24.9.2011

Kitsch in der Petrischale
Schauspiel: André Bücker beginnt den NTM-Premierenreigen mit Dietmar Daths "Regina oder die Eichhörnchenküsse" im Werkhaus
Kennen Sie "CSI", "Bones" oder "Numbers"? Dann haben Sie eine Vorstellung, wie Jan Steigerts Werkhaus-Bühne des fiktiven "Mannheimer Instituts für biologische Verhaltensforschung" aussieht. Wer sich im kriminalistischen Privatfernsehen weniger gut auskennt, darf sich das so vorstellen: Bildschirme flackern, auf Glasscheiben werden mit weißen Stiften hektisch Formeln und Ableitungen gekritzelt, Weißlicht schwebt über futuristischen Forschungszellen, man trägt Laborkleidung und ist verbal gut drauf.
Schlagfertig, intelligent und glücklich mit seiner Arbeit ist das Wissenschaftsterzett um Professor Regina Jordis (Dascha Trautwein), die wie Autor Dietmar Dath eine gute Frage stellte: Ist soziale Anpassung und hierarchischer Gehorsam eine durch Bakterien verursachte Krankheit?
Von Vögeln und Menschen
Eine steile These, die auch die Berliner Forschungsbeauftragte Zerweck (Almut Henkel) auf den Plan ruft. Anschaulichkeit ist die Stärke von Reginas Forschung. Und doch haben Jordis, ihre Doktorandin Brendel (Michaela Klamminger) und Assistent Demir (Michael Fuchs) Mühe, der einstigen Biologielehrerin ("Aufgeschlossen. Ökologisch, basisdemokratisch, sozial, gewaltfrei") die folgende Theorie des Wissenschaftsprojekts näher zu bringen: In falschen Gesellschaften siegt die Hierarchiedynamik des Kollektivs, und unfreie Individuen sind dadurch nicht in der Lage zu erkennen, dass Solidarität, Individualismus und Gerechtigkeit ihrem Wesen nach zusammenkommen könnten.
Untersucht hat die Institutsleiterin "Hierarchie und Gruppenkohäsion" anhand des Vergleichs von Vogelschwärmen und Menschen. Und anhand eines von seiner - sich vor ihm gruselnden - Öko-Mutter ermordeten Kindes, das wohl Furcht kannte vor Gewitter, aber "keine irrationale Angst - also keine Angst vor Sachen, die es bloß im Kopf gibt und nicht in der Welt". Das tote Kind ist aphorismenreicher Ratgeber, und auch ein Plüsch-Eichhörnchen ist in gleicher Funktion tätig. Man hat also einigen Grund zur Skepsis.
Und so obsiegt die Angst vor einem zu erwartenden Regelvakuum nicht nur in wissenschaftsfernen Kreisen, sondern auch beim lose angeschlossenen Psychiater Uhlich (Sascha Tuxhorn), dessen Hass auf der Professorin "Befreierkomplex" am Ende nur schnöde Eifersucht auf deren lesbisches Verhältnis zu seiner Freundin, nämlich der Doktorandin, ist. Komplex, das Ganze. Aber hoch spannend zu lesen - als Text. Auf der Bühne, das ist der erste Teil der bitteren Uraufführungserkenntnis, funktioniert der soziophilosophische Thesensalat mit Bubenstückfinale trotz geschliffener Sprache, kluger Gedanken und geistreicher Dialoge nicht. Womit wir bei der zweiten, weitaus unangenehmeren Erkenntnis wären. Regisseur André Bücker überhetzt den fürs Theater zu geschwätzigen Text im Eiltempo, jagt ihn an der Grenze zur Unverständlichkeit durch Mikroports und Schauspielermünder, die in ihrer schrillen, teils erbärmlichen Überzeichnung den Figuren das Fleisch von den Knochen reißen, bis nur noch skurrile Chargen übrig bleiben. Einzig Michaela Klamminger und besonders Dascha Trautwein sind Ausnahmen vergönnt.
In der ästhetischen Petrischale übergießt der Regisseur die hochangereicherte Lösung mit einer Science-Fiction-Soße aus futuristischem Electro-Bach-Gedudel, bakteriologischen Videos (Michael Ott/Frank Vetter) und den albernen Kostümen Jan Steigerts, mit dem Bücker bereits bei "Der Besuch der alten Dame" und "Die Physiker" äußerst schlecht beraten war.
Auch ohne Glück
Was bleibt, ist keine gescheiterte Utopie, sondern leichenreicher Krimikitsch mit Kabelsalat und Clownsnummer. Wenn dann noch ein (glänzend gearbeitetes) Eichhörnchenkostüm und ein zum Robbenbaby mutiertes Spermium auftreten, ist die Operation 90er-Jahre-Freakshow gelungen, der Patient aber längst tot. Wissenschaft und Theater haben hier kein Glück. Wie schreibt Dath? "Glück und Pech entscheiden leider. Nur beim Kaputtmachen geht es auch ohne Glück, da zählen Quantität und Beharrlichkeit." Das gilt auch für diesen Abend.

zu „Landscape - Kritik der Liebe“

Katja Eichhorn, 3Sat Kulturzeit, 6.6.2011

Andreas Montag, Mitteldeutsche Zeitung, 4.6.2011

Amors Pfeile fliegen durch das frühe Morgenlicht
Eine Theatervorstellung, die um fünf Uhr in der Früh beginnt. Oder abends um neun. Im Freien. Man kann das verrückt finden, aber kein Mensch ist gezwungen, sich darauf einzulassen. Wer sich indes frei dafür entscheidet, wird nach zwei morgen- oder abendkühlen, magischen Stunden mit erfrischter Seele aus dem Park des Schlosses Luisium in die alltägliche Welt zurückkehren und sie verändert sehen. Dabei werden im grünenden Garten ausdrücklich elegische, wenn auch heiter grundierte Dinge verhandelt. Gleichwohl, sie drücken nicht nieder, auch wenn sie schon ernst genommen werden wollen.
Diese Balance ist es, die lebensnahe Verschwisterung von Bitternis und Scherz, die das Experiment der Theaterleute gelingen lässt. André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters, hat das intelligente, kurzweilige Spiel inszeniert, Wolfgang Katschner, Chef der Berliner Lautten Compagney, sorgt mit seinem Ensemble für den barocken Klang. Und das Wetter hätte schöner nicht sein können zur Premiere am Himmelfahrtstag. Auch das war noch ein Antrieb für sich: Früher als die notorisch angesäuselten Vatertagstrupps im Freien unterwegs zu sein und dem Aufsteigen der Sonne beizuwohnen, während einen ein rührender, schießfreudiger Amor und beschwörend, doch diskret raunende Faune begleiten. Und einem von ihnen gelingt ein ums andere Mal ein großartiges, irritierendes Mäh.
Wozu aber wird man bei "Landscape - Kritik der Liebe" überhaupt gebeten, weshalb an diesem Ort und am liebsten in aller Herrgottsfrühe, auch wenn es die meisten der noch ausstehenden Aufführungen um neun Uhr abends geben wird? Eingebettet in Shakespeare-Sonette und Gedichte Friedrich von Matthissons geht es um die titelstiftende "Kritik der Liebe", das heißt, um Melancholie und Einsamkeit, wie Louise sie empfunden haben muss, die unglücklich ungeliebte Frau des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau.
Mit dem hatte sie eine arrangierte Ehe geschlossen, er kümmerte sich neben Regierungsgeschäften und dem mit seinem Freund, dem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, betriebenen Ausbau des Wörlitzer Gartenreichs lieber um seine Geliebte als um seine Frau. Immerhin ließ er ihr eben das Schloss Luisium samt englischem Garten quasi als Entschädigung erbauen und einrichten - einen Ort, den Louise sehr geliebt hat. Und nun, als seien nicht mehr als 200 Jahre seitdem vergangen, tummeln sich die historischen Gestalten am überlieferten Ort. Des Fürsten Freund Erdmannsdorff (Karl Thiele) am Schlangenhaus, der Dichter Matthisson (Gerald Fiedler), der Louise (Christel Ortmann) nahestand, an der Grotte des Schlossparks. Auf dem See fährt indessen Louisens Freund Aloys Hirt (Sebastian Müller-Stahl) deklamierend mit einem Bötchen hin und her. Und immer wieder grätscht Amor dazwischen, während der schwarze Engel des Todes bedrohlich und augenzwinkernd zugleich an die Endlichkeit unseres Tuns erinnert.
Überhaupt ist dies ein heutiges, nicht nur ein Historienspiel. Lieben und auf Liebe hoffen sind so beständige Themen wie zuverlässig die Sonne aufgeht. Und dass Konventionen einerseits, der fröhliche Gebrauch (oder Missbrauch) der Macht andererseits noch eine Rolle spielen, ist ebenso gewiss. Dies alles gewinnt im erst diffusen, dann allmählich heller werdenden Licht des beginnenden Tages allmählich Klarheit. Immer wieder zieht dabei der Garten selbst als Mitspieler die Aufmerksamkeit auf sich und fordert Respekt für seine Schönheit. So geht man durchaus erhoben in den Tag. Oder eben in die Nacht, wenn abends gespielt wird. Dafür haben Bücker, Katschner und Co. den begeisterten Schlussapplaus mehr als verdient.

Helmut Rohm, Volksstimme, 4.6.2011

"Barocke Ergehung" im Park des Luisiums

Es ist Himmelfahrtstag, kurz vor fünf Uhr. Über 200 Frühaufsteher haben sich an den Eingängen zum Dessauer Luisium, dem klassizistischen Landsitz der Fürstin Louise von Anhalt, eingefunden. Ein Goodfellow, ein "lustiger Geselle" im Schelmenkostüm, lädt ein: "Von nun an bist Du frei./Folge Deinem Willen/.../Der Park kann Sehnsucht wecken oder stillen/.../ Tritt nur herein!/Und lausche uns’ren Klängen ... So erleben die Gäste bei aufgehender Sonne und erwachender Natur den Auftakt zur Premiere von "Landscape – Kritik der Liebe". André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters, inszenierte eine "barocke Shakespeare-Ergehung im Park Luisium". Den musikalischen Part übernehmen die Musiker der Lautten Compagney Berlin, eines der renommiertesten Ensembles für Barockmusik auf historischen Instrumenten, unter Leitung von Wolfgang Katschner. Die textliche Grundlage bilden Sonette von Shakespeare und Gedichte von Friedrich Matthisson.
Natur stellt Bühnenbild
Der Park beginnt zu leben, arkadische Landschaften tun sich auf. Wunderliche Figuren huschen vorbei. Täuschend echte "Mähs" sind zu hören. Das sind Faune, sonderbare gehörnte Mischwesen, die gerade der Mythologie entsprungen scheinen. Hin und wieder entdeckt der Besucher den flinken Amor mit Liebespfeil und Bogen. Der schwarze und der weiße Engel präsentieren sich. In diesem Bereich agiert die Ballettcompagnie des Anhaltischen Theaters (Choreografie Tomasz Kajdanski).
Es ist die Intimität des Parks mit seinen verschlungenen Wegen und reizvollen Sichtachsen, es sind die besonderen Architekturen und scheinbar natürlichen Gegebenheiten der Anlage, die den Gast unaufdringlich zu immer neuen reizenden Eindrücken geleiten. Kleine Instrumentalgruppen, sprichwörtlich vom Scheitel bis zur Sohle im barocken Weiß, intonieren anmutig und einfühlsam Musik, unter anderem von Purcell, Dowland. Mit dabei sind vier Gesangssolisten.
Der Gast verweilt, hört zu, spendet Beifall, bleibt oder geht weiter. Welchen Weg er einschlägt, ist egal, immer wird er bald auf neue Erlebnisse treffen. Alles ist ganz ohne Hektik, viel mehr Genuss und Erbauung. Das Bühnenbild "stellen" die Natur und der Park. Für die Beleuchtung sorgt die aufgehende Sonne. Einen akustischen Background steuern Vögel und Frösche, das leise Rauschen der Blätter im schwachen Wind bei.
Louise und Gefährten
Aus der Ferne vernimmt man Musik, Gesang oder das gesprochene Wort. Anlass, auch dort mal zu schauen. Die Sichtachsen des Parks sind zu Klangachsen geworden. Die handelnden Menschen und Figuren präsentieren sich in wunderschönen traumhaften Kostümen (Ausstattung Suse Tobisch). In der Nähe des Schlosses trifft der Gast auf Fürstin Louise. Sie suchte wegen ihrer unglücklichen Liebe mit Fürst Franz oft Zuflucht in "i"hrem Luisium". An anderen Stellen sind es historische Personen aus dem Umfeld der Fürstin. Der Gärtner Johann Friedrich Eyserbeck, der Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf, der Fürstinnenfreund Aloys Hirt, der Dichter und Vorleser Friedrich zu Matthisson agieren gewissermaßen als Zeitzeugen. Drei Goodfellows treiben miteinander oder mit Gästen manchen Schabernack. Diesen Part gestalten die Mitglieder des Schauspielensembles. Nach etwa zwei Stunden rufen Fanfarensignale Ausführende und Gäste zu einem kurzen Finale vor die Orangerie. Es gibt sehr viel Beifall. Es folgt ein (beim Kartenkauf zu bestellender) kulinarischer Abschluss.

zu „Der Protagonist / Der Bajazzo [I Pagliacci]“

Andreas Hauff, Oper und Tanz, Mai/Juni 2011

Authentische Darstellung von Wahnsinn "Der Protagonist" beim Kurt Weill Fest Dessau

Abseits von „Dreigroschenoper", „Mahagonny" und den "Sieben Todsünden" haben es Kurt Weills Bühnenwerke immer noch schwer. Das liegt nicht nur an den Argus-Augen der Kurt-Weill-Foundation und der Unkenntnis der Theatermacher, sondern auch an der Geschwindigkeit, mit der Weill selbst auf die Zeitläufte reagierte. Im „Windkanal" der Weimarer Republik verlief die Entwicklung in Politik, Gesellschaft und Kultur wie im Zeitraffer.

Weills Opern-Erstling, der am 27.3.1926 in Dresden uraufgeführte expressionistische Einakter „Der Protagonist", beeindruckte die Zeitgenossen kaum weniger als Alban Bergs „Wozzeck", der dreieinhalb Monate zuvor in Berlin herausgekommen war. Doch während Berg dann bis zu seinem Tod 1935 an „Lulu" arbeitete, entwickelte Weill in der Zwischenzeit den populären Songstil, ohne den kein Weill-Fest denkbar wäre, integrierte diesen in größere Bühnenwerke und experimentierte weiter - auch nachdem er sich 1933 gezwungen sah, Deutschland zu verlassen. Im Ohr blieben dem deutschen Publikum fast nur die Songs der „Dreigroschenoper".

Die Entscheidung, zum 19. Kurt-Weill-Fest in Dessau den "Protagonisten" mit Leoncavallos beliebtem „Bajazzo" („I Pagliacci") von 1892 zu kombinieren, sorgt nicht nur für die Repertoire-Fähigkeit der Aufführung am Anhaltischen Theater, sondern stellt auch Weills Einakter in den Kontext damaliger Opernspielpläne. Man darf vermuten, dass schon Georg Kaisers Schauspiel „Der Protagonist", das wenig verändert der Oper als Vorlage diente, eine Reaktion auf das Bajazzo-Sujet darstellte. Dort tötet Canio, Chef einer vierköpfigen Schauspieltruppe, seine Frau Nedda während einer Aufführung - aus Eifersucht wegen ihrer Affäre mit einem Unbekannten.

Der Protagonist, ebenfalls Chef einer vierköpfigen Schauspieltruppe (diesmal im Shakespeare-England), fällt ähnlich aus der Rolle, wenn er während einer Probe seine Schwester umbringt. André Bücker, Regie führender Intendant des Anhaltischen Theaters, findet in dieser Konstellation eine inzestuöse Beziehung. Wichtiger ist, dass der hypernervöse Darsteller die Schwester braucht, um den Realitätskontakt nicht zu verlieren. Sie hat allerdings seit einiger Zeit einen Liebhaber. Wissend um die psychische Labilität ihres Bruders, nutzt sie die Probe einer heiterdeftigen Ehebruchs-Pantomime, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Als sie ihm kurze Zeit später den Mann vorstellen will, hat der Auftraggeber, ein Herzog, inzwischen ein Stück mit tragischem Ausgang bestellt. Und während der Protagonist mit seinen Leuten spontan die Umkehr des heiteren Sujets improvisiert, steigert er sich so sehr in die Rolle des eifersüchtigen Ehemanns, dass er im Affekt die eigene Schwester ersticht.

Die Oper schließt nicht mit diesem veristischen Knalleffekt, sondern einem eigenartigen Epilog: Der Protagonist bittet die Wachen, die fällige Verhaftung erst nach der Aufführung vorzunehmen, und verspricht dafür als künstlerischen Hochgenuss die denkbar authentische Darstellung von Wahnsinn. Weill geht mit diesem eigenartigen Szenario sehr bewusst um. Während die vielstimmig polyphone Partitur expressionistisch aufgeladen erscheint, steht die heitere Pantomime in einem neoklassizistischen Tonfall, und in der tragischen Pantomime mischen sich beide Stile. Diese musikalische Ebene wird noch mit einer Art instrumentalem Theater kombiniert, denn das zwölfköpfige Blasorchester des Herzogs wechselt zwischen Bühne und Orchestergraben. Wenn Weill dem Protagonisten am Ende einen veristischen Tonfall unterlegt, entlarvt er damit das Klischeehafte des übersteigerten Geniekultes.

Das Regieteam (mit Ausstatter Oliver Proske und Choreografin Gabriella Gilardi) verzichtete auf die Bläserwanderung und ersetzte die herzoglichen Musikanten durch junge Statisten mit Spielzeuginstrumenten. Sie stammten aus dem Kinderchor, der seinen eigentlichen Auftritt im „Bajazzo" hatte. Überhaupt gelang sehr sinnfällig die Verklammerung der beiden Opern. Ein kleiner, als Tod kostümierter Statist, stach zu Beginn des „Protagonisten" das Messer in die Bühne, mit dem beide Frauen in nahezu identischen Bühnenpositionen ermordet wurden, und beschloss mit seiner Verbeugung auch den „Bajazzo". Der komödiantische Geist der heiteren Pantomime im ersten Stück fand im zweiten seine ironische Korrespondenz beim feierlichen Kirchgang, bei dem Männer und Frauen mehrfach die Partner wechselten.

Oliver Proskes Bühnenbild wartete im „Protagonisten" mit witzigen Details auf, und durch das Herunterklappen einiger Bauelemente wurde aus dem großen Wirtshaussaal nach der Pause eine innerstädtische Silhouette. Anrührend und mit starker stimmlicher Ausstrahlung sang Iordanka Derilova die beiden weiblichen Hauptrollen. Den männlichen Affekttäter teilten sich Angus Wood als Protagonist und Sergey Drobyshevskiy als Canio. Beide sangen und agierten ausgezeichnet. Auch die übrigen Darsteller einschließlich des von Helmut Sonne einstudierten Opernchors überzeugten rundum. Unter dem neuen GMD Antony Hermus spielte die Anhaltische Philharmonie mit Präzision, Farbenreichtum und Ausdruckswillen, wie man sie an größeren Häusern nicht besser erwarten könnte.

Andreas Hauff, nmz Neue Musikzeitschrift, April 2011

Die Türen sind geöffnet, ein Protagonist betritt die Bühne

Von Dessau aus blickte die 19. Ausgabe des Kurt-Weill-Festes auf „Berlin im Licht"

Durchaus hintergründig ist das Logo des 19. Kurt-WeilI-Festes zu verstehen: Eine Nickelbrille, wie der Komponist sie trug, wirft den Schatten des Brandenburger Tores. "Berlin im Licht" lautet das diesjährige Motto, "Berlin im Licht" hieß ein Song, den Weill im September 1928 für die gleichnamige Werbeveranstaltung der Berliner Gas- und Elektrizitätswerke schrieb, und „Berlin im Licht" hieß Ende der 1980er-Jahre ein Programm des Ensemble Modern unter dem Wiener Dirigenten, Komponisten und Chansonier H.K. Gruber.
Seit Jahren gastiert das Ensemble Modem immer wieder beim Weill-Fest. In diesem Jahr war es sogar als vielköpfiger und vielstimmiger „Artist-in-Residence" zu erleben und nutzte die Gelegenheit, sich an vier Terminen in ganz verschiedenen Facetten zu präsentieren. Auch das alte „Berlin im-Licht-Programm" unter Gruber war wieder zu hören, allerdings mit etwas weniger Weill, dafür einigen politischen Liedern von Hanns Eisler. Man habe sich bemüht, Weill "als Prisma" zu benutzen, erklärte Roland Diry, Klarinettist und Hauptgeschäftsführer des Frankfurter Ensembles, beim einleitenden Festivalcafe. Im Rahmen dieses lebendigen Künstlergesprächs spielte der junge Geiger Filip Michal Saffray Musik für Violine solo von George Antheil, Paul Hindemith und dem deutsch-französischen Geiger Henri Marteau, der 1908 Nachfolger Joseph Joachims an der Berliner Musikhochschule geworden war. Ein Konzert in der Marienkirche mit der Sängerin und Stimmartistin Salome Kammer kombinierte unter der Überschrift .Nachtgesänge" Schönbergs „Pierrot Lunaire", Eislers „Palmström", Hindemiths „Die junge Magd" und die Suite aus Strawinskys „Geschichte vom Soldaten". Im Bauhaus schließlich gab es Bläsermusik in Trio- und Quintettbesetzung der Weill Zeitgenossen Zemlinsky, Eisler, Schulhoff, Pavel Haas und Cage unter dem Motto „Round About Weill", Weill als "Türöffner" in die verschiedensten Richtungen, wie Festival-Intendant Michael Kaufmann es nennt, ist sicher eine ausgesprochene Chance und Stärke des Dessauer Festivals. Man stelle sich einen ähnlich erhellenden Pluralismus bei den Bayreuther Festspielen vor: Wagner plus Brahms im Sinfoniekonzert, „Lohengrin" neben „Genoveva", „Pariser Leben" und der zweite Akt von „Parsifal" , Teile aus dem „Ring" in Verbindung mit Stockhausens „Licht!". Andererseits zeigt der Vergleich mit Bayreuth auch die Dessauer Schwäche. Undenkbar wäre es, den Musikdramatiker Wagner auf seine Instrumentalwerke und populäre Ausschnitte aus den Opern zu reduzieren. Beim Bühnenkomponisten Weill aber kämpfen die Intendanten des Weill-Festes seit Jahren darum, nicht immer wieder die etablierte „Dreigroschenoper", das „Mahagonny"-Songspiel, die gleichnamige Oper oder die „Sieben Todsünden" zu wiederholen. Doch vor einer Aufführung der übrigen Opern, Operetten und Musicals stand lange Jahre die Zurückhaltung des Anhaltischen Theaters und der New Yorker Kurt Weill Foundation. So darf man schon als großen Schritt werten, dass diesmal am Anhaltischen Theater nicht nur die Vorjahresproduktion von Weills Broadway-Erfolg „One Touch of Venus" zu sehen war, sondern auch die gewichtige Neuinszenierung einer weiteren Rarität: Intendant André Bücker und GMD Antony Hermus kombinierten Ruggiero Leoncavallos beliebten Einakter „Paliacci" (auch "Der Bajazzo") mit Weills frühem expressionistischem Einakter „Der Protagonist" von 1924/25 - eine bislang noch nirgends gewagte Zusammenstellung, die nicht nur Repertoirefähigkeit nach dem Festival verheißt, sondern auch den inneren Bezug der beiden Stücke freilegt, In beiden Fällen geht es um die Tötung einer Frau im Affekt durch einen Schauspieler in Aktion.
Während allerdings Canio im „Bajazzo" seine Frau im Rahmen einer Aufführung umbringt, nachdem Tonio ihm ihre Untreue hinterbracht hat, tötet der Protagonist in Georg Kaisers Libretto zu Weills Oper seine eigene Schwester bei einer Probe, während der er sich in krankhafte Eifersucht gesteigert hat.
Und während bei Leoncavallo der Vorhang unmittelbar nach der Tragödie schließt, liefert Kaisers Held noch den zynischen Kommentar eines egomanen Künstlers zu seiner eigenen Tat ab. Kaiser dürfte mit diesem Szenario seinen eigenen Schrecken über den Realitätsverlust eines übersteigerten Expressionismus verarbeitet haben. Weill wiederum kritisiert die dramaturgischen Tricks des italienischen Verismo, wenn er dem Protagonisten am Ende dessen musikalischen Tonfall unterschiebt. Das Regieteam (mit Ausstatter Oliver Proske und Choreografin Gabriella Gilardi) kam im „Protagonisten" den Intentionen der Autoren sehr nahe und schaffte es zudem, die bei den Stücke auf intelligente Weise zu verklammern. Auch die von den Zeitgenossen bezeugte enorme Bühnenwirksamkeit des Weill'schen Opernerstlings war zu spüren. Angus Wood kam mit der anstrengenden Titelrolle darstellerisch und sängerisch ausgezeichnet zurecht, und die Anhaltische Philharmonie spielte mit Präzision, Farbenreichtum und Ausdruckswillen, wie man sie auch von renommierteren Orchestern selten hört.
Einen gewichtigen Seitenblick in puncto Musiktheater tat das Festival mit Edmund Nicks Radio-Stück „Leben in dieser Zeit", das als Gastspiel der Staatsoperette Dresden unter dem Dirigat von Ernst Theis zu erleben war. Erich Kästner war 1929 mit einem Hörspielentwurf an die Schlesische Funkstunde Breslau herangetreten. Weill, mit anderen Arbeiten ausgelastet, hatte die Komposition abgelehnt und Nick, den damaligen musikalischen Leiter des Breslauer Senders, empfohlen. Formal eine Kantate für Chor, Solisten und Orchester, inhaltlich ein lebendiges Kaleidoskop aus der Sicht eines kritischen Moralisten, hatte das Hörspiel einen solchen Erfolg, dass der Komponist 1931 eine Konzert- und eine Bühnenfassung anfertigte. Interessanterweise klingen in der Partitur musikalische Stilebenen an, derer sich Weill erst später bediente. Man findet den Chanson-Tonfall, den Weill im Pariser Exil kultivierte, aber auch den amerikanischen Stil der ersten Musicals „Johnny Johnson" und „Knickerbocker Holiday". Sogar das lärmende Großstadt-Szenario von „Street Scene" kündigt sich als Idee bei Nick schon an. Kästners Texte haben sich überdies erstaunlich frisch gehalten. Dass viele Menschen anstelle des Herzen ein Telefon tragen, erscheint im Zeitalter der mobilen Kommunikation sogar noch aktueller.
Dessau als „Wiege der klassischen Moderne" - der Slogan, mit dem die Bauhausstadt seit einer Weile wirbt, bewahrheitet sich immer wieder. Wie es um die Zukunft der Dessauer Kulturlandschaft bestellt ist, bleibt vorerst offen. Hatten im Vorjahr die Blut-und-Tränen-Liste des Oberbürgermeisters und die darauf folgenden Demonstrationen für Nervosität gesorgt, so herrschte diesmal vor den Landtagswahlen die gespannte Ruhe des Abwartens. Der Schlüssel für die Zukunft des Anhaltischen Theaters und damit auch des Weill-Festes liegt bei der neuen Landesregierung.

R. Erkens, Opernglas, April 2011

Zum Auftakt des diesjährigen Kurt-Weill-Festes in Dessau präsentierte die Festivalleitung in Kooperation mit dem Anhaltischen Theater eine ungewöhnliche, aber höchst spannungsreiche Kombination zweier Kurzopern: Weills Operndebüt „Der Protagonist“, 1926 unter Fritz Busch in Dresden uraufgeführt, eröffnete den Premierenabend, gefolgt von Leoncavallos Repertoireklassiker „Pagliacci“. Der unterschiedliche Bekanntheitsgrad der Werke sticht sogleich ins Auge und legt die Vermutung nahe, dass hier der alte dramaturgische Kniff angewendet wurde, durch ein populäres Werk im zweiten Teil des Abends das Publikum bei der Stange zu halten und das Risiko leerer Sitzreihen zu verringern. Andere, stilistisch geschlossenere Kombinationsvarianten mit dem „Protagonisten“ wären mithin denkbar: Etwa Busonis „Arlecchino“, in dessen kompositorischem wie musikdramaturgischem Fahrwasser Weill eben auch schwimmt, oder mit seiner eigenen Ergänzung, die er zusammen mit dem Dramatiker Georg Kaiser zwei Jahre später für Leipzig komponiert hat, nämlich der komischen Oper „Der Zar lässt sich fotografieren“.

Doch ausschlaggebend waren für die Verantwortlichen wohl inhaltliche Bezüge, die in den Werken Weills und Leoncavallos vorhanden sind und die in verblüffender Deutlichkeit in dieser Produktion zutage traten. Das machte den Abend sehenswert. Die Werke allerdings gemäß ihrer historischen Entstehung aufzuführen, hätte dem Abend einen weitaus höheren intellektuellen Reiz verliehen. Denn was bei Leoncavallo in veristischer Ausdruckästhetik endet, ist bei Weill ins Pathologisch-Moderne gewendet. Die Zuschauer nach einem solchen Schlussbild aus dem Theater gehen zu lassen, wäre die raffiniertere, möglicherweise auch ergreifendere Variante gewesen.

Regisseur Andre Bücker unterstrich die Verbindungslinien beider Stücke durch das Bild des Todes, das hinter der Schauspielermaske hervorlugt. Das mit (zu) vielen kleindimensionierten Spielereien ausgestattete Bühnenbild von Oliver Proske bot einen sicheren Rahmen, wobei die Symbiose von Bühnenraum und Personenregie in den „Pagliacci“ weitaus besser glücken wollte als im „Protagonisten“. Besonders die Theater-auf dem-Theater-Szenen bei Weill, zwei recht langatmige Pantomimen, gerieten zur derben Klamotte ohne rechten Witz und Charme, eingeengt in kleine Spielkammern, in denen die Effekte häufig verkümmerten. Der Funke wollte nicht zum Publikum überspringen. Bei Leoncavallo dagegen sollte dann alles passen, sowohl der Klamauk zwischen Colombina und Arlecchino (mit schönem tenoralen Glanz gesungen von David Ameln) wie die (wiederum kleindimensionierte) Überraschung eines sich plötzlich drehenden Esstisches.

Angus Wood, der im ersten Teil die Partie des Protagonisten übernahm, mangelte es noch an Darstellungsvermögen, wie es diese Rolle erfordert. Sein Tenor ist bei leichtem Verlust der Strahlkraft in den Höhenlagen zuverlässig, zeigte aber wenig Fähigkeit zur charismatischen Interpretation. Die sich ins Pathologische steigernde Eifersucht, durchmischt mit inzestuöser Fixierung auf die Schwester, wurde nicht ausreichend ausgespielt. Darstellerisches Feuer besaß dagegen Sergey Drobyshevskiy als Canio fast im Übermaß: Sein Monolog "Recitar!. .. Mentre preso dal delirio" wurde zum musikdramatischen Höhepunkt des Abends, da er die Tragik der Situation schauspielerisch meisterlich bewältigte und einen sicheren Instinkt für den großen veristischen Stimmausbruch hat. Schade nur, dass er durch mangelnde Präzision weniger exponierte Passagen verschluderte. In den Rollen des Wirts und des Tonio war Ulf Paulsen zu hören. Am Pult der Anhaltischen Philharmonie stand GMD Antony Hermus, der lebendig und mit sicherem Niveau den Premierenabend leitete.

Udo Badelt, Opernwelt, April 2011

Berlin, Paris, New York
Das Kurt Weill Fest in Dessau will die Stationen seines Namenspatrons verfolgen

Dieser Platz trägt seinen Namen zu Recht: Stille herrscht auf dem Friedensplatz vor dem Anhaltischen Theater. Die gleiche Stille, die inzwischen in so vielen ostdeutschen Klein- und Mittelstädten zur Regel geworden ist. Auch Dessau ist zu groß für diejenigen, die geblieben und nicht nach Bayern oder Baden-Württemberg abgewandert sind. Abends belebt sich der Platz, Taxis kommen an, später erhellt ein Feuerwerk den Nachthimmel. Das Kurt Weill Fest wird eröffnet, und plötzlich merkt man, dass es in Dessau sehr wohl noch eine Stadtgesellschaft, ein Kulturbürgertum gibt.

Seit 1993 feiert es seinen berühmten Sohn - und versichert sich damit auch der eigenen Geschichte und Identität. Weill hat in Dessau nur die ersten 17 Jahre seines Lebens verbracht, bevor er nach Berlin ging, um Musik zu studieren. Im Nationalsozialismus spielt er als Jude natürlich keine Rolle, zumal er Deutschland früh verlassen hat. Aber auch in der DDR war er vergessen – verdrängt vom alles überschattenden Hanns Eisler. Erst nach der Wende hat man sich an ihn erinnert. Jetzt, nach Ende der Intendanz von Johannes Felsenstein, entfaltet sich das Weill-Fest mit neuer Energie. André Bücker ist Nachfolger Felsensteins und Michael Kaufmann, Ex-Intendant der Essener Philharmonie, Intendant des Festes.

Und doch stellt sich die Frage: Wie lange kann Kurt Weill allein das zehntägige Festival tragen? Schon jetzt versucht Kaufmann, den monothematischen Zuschnitt zu weiten. Mit dem Motto „Berlin im Licht“ unternimmt er einen ersten Schritt aus der Dessauer Nabelschau. Das Motto spielt auf einen Song an, den Weill 1928 anlässlich einer Beleuchtungsausstellung in Berlin geschrieben hat. Kaufmann will sukzessive die drei wichtigsten Stationen von Weills Leben in den Mittelpunkt stellen. 2012 soll Paris folgen, 2013 New York, wo Weill eine zweite Karriere als Musical-Autor gelang. Was kommt danach? Kaufmann ist nicht bange. „Als Festivalmacher“, sagt er, „ist es unsere Aufgabe, Geschichten zu erzählen. Es geht darum, vernünftige Kontexte herzustellen. Ich denke nicht, dass uns da der Stoff ausgeht.“ Künftige Kontexte deutet er nur an: etwa die Frage, warum Weill immer wieder zur Bühne zurückgekehrt ist und mit dem entstehenden Rundfunk eher wenig anfangen konnte - und inwiefern das bei der Interpretation heutiger medialer Tendenzen hilfreich sein kann.

Mit 570 000 Euro ist das Budget wahrlich bescheiden. Beachtlich, was damit auf die Beine gestellt wird: ein differenziertes Programm aus zwei Opern- und einer Musical-Aufführung, Konzerten der Anhaltischen Philharmonie und des Ensemble Modern, Familienkonzerten, Aufführungen von Filmen aus dem Berlin der 20er Jahre und Raritäten, etwa ein Konzert, das die Orgelfugen Johann Sebastian Bachs mit denen des Bauhausmeisters Lyonel Feininger kontrastiert. Beachtlich auch die Eröffnungspremiere im Anhaltischen Theater. Sie lässt vermuten, dass hier ein ganzes Haus hinter dem Festival steht. Weill schrieb seine erste Oper „Der Protagonist“ auf ein Libretto von Georg Kaiser. Sie wurde 1926 uraufgeführt und ist nur knapp eine Stunde lang. Andre Bückers Idee, sie mit Leoncavallos „Bajazzo“ zusammenzuspannen, ist bestechend. Nicht nur, weil der „Bajazzo“ aus der ewigen Ehe mit Mascagnis „Cavalleria rusticana“ befreit wird, sondern auch, weil die inhaltlichen Parallelen zwischen den im Abstand von rund 30 Jahren entstandenen Stücken frappant sind. Beide spielen Theater im Theater; in beiden wird die weibliche Hauptfigur aus Eifersucht von ihrem Bruder (Protagonist) bzw. Ehemann (Bajazzo) umgebracht.

Mit Verve und vollem Einsatz werfen sich Dessaus GMD Antony Hermus und die Anhaltische Philharmonie in Weills unablässig nach vorn treibende Klänge, die voller rasch aufeinanderfolgender Farb- und Stimmungswechsel sind, durchzuckt von dumpf-bedrohlichen Paukenschlägen und punktierten ostinaten Figuren. Eine Musik, die nicht schwelgt - anders als der metallisch timbrierte Sopran von lordanka Derilova, die in beiden Stücken die weibliche Hauptrolle mit Bravour ausfüllt. Angus Wood, der eifersüchtige Protagonist, ist dagegen ein zu freundlicher Mann. Der Wahnsinn seiner Figur wird zu keiner Sekunde so glaubhaft wie bei Sergey Drobyshevskiy als Canio im „Bajazzo“. Andre Bücker zeigt erneut, dass er als Regisseur ein Händchen für Personenführung hat.
Denkt Kaufmann angesichts der Weill-Kompetenz, die dieser Abend unter Beweis gestellt hat. über Kooperationen mit anderen Stadttheatern nach 7 Vorstellen kann er sich das gut, sagt er. Aber jetzt, im Frühstadium der Intendanz von Andre Bücker, sei es wichtig, dass dieser erst einmal dem Haus ein eigenes Profil verleiht. Anders als das Theater ist das Kurt Weil Fest nicht direkt betroffen von der großen Spardebatte, die Dessaus Oberbürgermeister Klemens Koschig vor einem Jahr vom Zaun gebrochen hat und die immer noch anhält. Das Fest wird größtenteils von Sachsen-Anhalt und nur zu einem geringen Teil von der Stadt bezuschusst. Bedrohlich ist die Lage dennoch, denn auch dem Land geht es schlecht. In seiner Eröffnungsrede hat Ministerpräsident Wolfgang Böhmer mal wieder laut darüber nachgedacht. Gelder an den Publikumszuspruch zu binden. Kaufmann schüttelt es natürlich angesichts solcher Ideen. Denn sie laufen darauf hinaus, dass bald landauf, landab nur noch die „Zauberflöte“ gezeigt wird. „Leider sind es meist gerade die Kulturfreunde, die schweigen“, sagt er. „Sie müssen begreifen, dass es um ihr kulturelles Erbe geht, aber dass sie dafür auch etwas tun müssen.“ Deshalb hält er die Debatte in Dessau auch für 50 wichtig. Deutschland wird geprägt von Städten dieser Größe. Ein Modellfall also.

Alexander Hauer, Der Opernfreund, 16.03.2011

Der Protagonist & I Pagliacci

Zur Eröffnung des Kurt Weill Festes gab sich das Anhaltische Theater die Ehre zwei Opern über tödlich endeten Realitätsverlust zu geben. Weills selten gespielte Oper „Der Protagonist“ und Leoncavallos „I Pagliacci“.

Zweimal die „gleiche“ Oper, zweimal Frauenmord aus Eifersucht. Weills Protagonist, 1926 in Dresden mit unglaublichen Erfolg uraufgeführt, beschäftigt sich weniger mit dem Mord, sondern eher mit der Frage: Wieweit dürfen Mäzene und Gönner in den laufenden Theaterbetrieb eingreifen. André Bücker kümmert sich aber weniger um diese Frage, die heute aktueller ist als je, sondern richtet seinen Focus auf das kriminalistische Geschehen. Im beweglichen Bühnenbild von Oliver Proske versucht er Gründe für den Mord zu finden.

Der Protagonist, Angus Wood, reist mit seiner Truppe und seiner Schwester, in Shakespeares Zeiten eher unüblich umher. Von einem zwielichtigen Wirt, Ulf Paulsen, werden sie argwöhnisch empfangen. Die Schwester, des Protagonisten, Iordanka Derilova, lässt ihren Liebhaber, Wiard Withold, nachkommen. Sie möchte den jungen Mann ihrem Bruder vorstellen. Man probt für den ortsansässigen Adel eine Komödie. In der ausgelassenen Probenstimmung sagt sie ihrem Bruder, dass sie einen Freund habe. Er lacht sie aus und wünscht ihn zu sehen. Sie geht um ihn zu holen. Aus einer Laune heraus, lässt der Herzog durch seinen Haushofmeister ausrichten, dass er lieber eine Tragödie sehen möchte. Schnell wird das Lustspiel um geprobt. Als die Schwester mit ihrem Liebhaber erscheint, verwechselt der Protagonist Sein mit Schein und ersticht die in seinen Augen Untreue.

Antony Hermus kommt mit der spröden, dem Moderne der zwanziger Jahre verhafteten Musik Weills bestens zu recht. Er leitet Orchester und Sänger mit schier schlafwandlerischer Sicherheit um die Klippen und Untiefen dieser Partitur. Iordanka Derilova und Angus Wood sind das (latent inzestiöse) Geschwisterpaar, beide kommen mit der hochdramatischen Partie im Zwölfton-Stil bestens zurecht. Wiard Withold als charmanter Liebhaber gewinnt mit sanftem Bariton. Ulf Paulsen kann als Wirt in einer sehr kurzen Partie überzeugen.

Der zweite Teil des Opernabends kam gefälliger daher. Die eher sentimentalen Verismoklänge Leoncavallos sind geläufiger. Aber auch hier lauert das Böse. Der Prolog von Ulf Paulsen weist schon darauf. Kaum merklich verwandelt sich der sympathische „Prolog“ in Tonio, bei Bücker kein bedauernswerter Behinderter, sondern ein hintertriebenes Dreckschwein. Sergey Drobyshevskiy gibt hier Canio, den Chef der Theatertruppe, Iordanka Derilova seine Frau Nedda. Wiard Witholt ist auch hier der Liebhaber. Von Nedda abgewiesen untergräbt Tonio das Verhältnis von Silvio und Nedda. Das Ende ist bekannt. Die Anhaltische Philharmonie überzeugt auch im Verismofach genauso wie in der Moderne. Das Gesangspersonal wird von Bücker in guter Schauspielmanier geführt. Viel Wert wird auf ausdrucksstarkes Spiel gelegt, ohne dabei die gesanglichen Künste zu vernachlässigen. Die Szenen von Nedda mit ihrem ungeliebten Mann sind dabei genauso glaubwürdig, als auch ihre Amour fou mit Silvio. Der angesagte Sergey Drobyshevskiy teilte sich klugerweise seine Kräfte für das „Ridi, pagliaccio“ auf, gewann dann aber auf ganzer Linie. Der Abend war dann der Triumpf der Stimmen und des Orchesters. Der Chor unter Helmut Sonne und der bezaubernde Kinderchor unter der Leitung von Dorislava Kuntschewa singen auf höchstem Niveau. Bückers Inszenierung lässt beide Stücke authentisch wirken, wenn ich persönlich auf den Auftritt der Komödiantentruppe im „Bajazzo“ per Fesselballon und das Kinderorchester, die Seiffener Engelchen ließen freundlich grüßen, im Zwischenspiel auch verzichten könnte. Für Freunde des selten gespielten Weill abseits der „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ ein Muss, für Freunde des Verismo sicherlich eine Option.

George Loomis,The New York Times, 08.03.2011

Music Review

Kurt Weill Festival Focuses on One Man, With Many Beats

DESSAU, GERMANY — Despite near universal recognition of his genius, opportunities to experience works by Kurt Weill are not what they ought to be. Opera companies regularly take up “The Rise and Fall of the City of Mahagonny,” a masterpiece of his German years, but it never quite fits in as a repertory piece, whether because of Bertolt Brecht’s quirky libretto or the music’s popular idioms. After emigrating and reinventing himself as a Broadway composer, he met with deserved success, but none of his musicals achieved iconic status. And his instrumental compositions take second place to his stage works. Weill’s multiplicity of styles still seems to throw people off.

Those in major musical centers can nevertheless stay put and Weill’s works will come their way. For those who desire more, one possibility is theKurt Weill Festival in Dessau, where Weill was born in 1900 (he died in New York 50 years later.) The young composer’s talents quickly took him beyond Dessau — his last work there was in 1919 as assistant to the conductor Hans Knappertsbusch — but in 1993 a festival was established in his honor, which now embraces some 50 events over 17 days.

Dessau, which has a population of only 80,000, has another artistic claim to fame as the locale of the Bauhaus School of architecture in the 1920s and early ’30s. But Dessau’s East German heritage is all too evident today in its drab appearance. For those who go for music, the main structure is the Anhaltisches Theater, an imposing stone structure from the Nazi period built when plans existed for a big population increase. Seating 1,100, it somehow escaped the bombing that flattened most of the city and currently operates as a typical German regional theater. The festival is dependent on it for its theatrical performances, but, as the festival’s artistic director Michael Kaufmann said in an interview, the theater also recognizes a mission to perform Weill’s works, so cooperative collaboration is the rule.

This year brought “Der Protagonist,” Weill’s first opera and a great success at its 1926 Dresden premiere conducted by Fritz Busch. With a lurid subject drawn from a play by Georg Kaiser (who wrote the libretto), the one-act work is a choice example of the sensationalistic, psychologically oriented operas popular during the Weimar Republic. It concerns a theatrical troupe run by the Protagonist, an actor who is overly protective of his Sister. Unable to distinguish between illusion and reality, he kills her after she tells him she has a fiancé; at the close, he calls the murder his greatest theatrical performance. The brilliant score contains two extensive pantomimes conceived as entertainment for a Duke — the first a farce, the second (because of changed circumstances announced “Ariadne”-style by the Duke’s Major Domo) tragic. Brittle, sarcastic woodwinds characterize the first pantomime, to which Weill adds ominous strings for the second. Elsewhere an atonal style often prevails, creating musical diversity in which popular elements play no role.
André Bücker’s production is straightforward but adds some original touches, like having the troupe’s members wear blond wigs at a crucial point to resemble the Sister, thereby compounding the Protagonist’s confusion. Angus Wood’s strong, clear tenor and convincing acting made for an accomplished portrayal of the Protagonist, and Iordanka Derilova, an Isolde with the company, sang Sister with a gleaming dramatic soprano voice. The orchestra led by Antony Hermus dealt ably with Weill’s rich score.

“Der Protagonist” was done at the Santa Fe Opera in 1993, and, its grim subject notwithstanding, deserves to be more widely seen. In Dessau, it was paired with Leoncavallo’s “Pagliacci,” another opera about an itinerant dramatic troupe.

The children’s pantomime “Zaubernacht,” another early work, was performed in the handsomely restored Marienkirche in accordance with Weill’s musical intentions, thanks to the recent discovery of orchestral parts at Yale University. Expertly played by 10 members of the Arte Ensemble, a group drawn from the NDR Radio Philharmonic, it emerged as an enchanting divertimento-like sequence of numbers in a gentle neo-Classical style. Lasting nearly an hour, “Zaubernacht” involves the familiar story of children awakening during the night to witness wondrous sights. Choreography by the Nina Kurzeja Dance Theater involved a man with a horse’s head, a woman in a skeleton costume and a doll wearing a pink minidress.

The Broadway hit “One Touch of Venus” returned to the Anhaltisches Theater in Klaus Seiffert’s production last year. The 1943 musical demonstrates that Weill — who escaped Nazi oppression by ultimately settling in 1935 in New York — not only mastered Broadway style but that he supplied a peerless model for others. With lyrics by Ogden Nash, “Venus” stems from the days before Rodgers and Hammerstein sentimentalism took over, when musicals truly scintillated verbally. The madcap book by S.J. Perelman about a barber bringing a statue of Venus to life might seem dated, so it was no great loss that spoken dialogue was in German. But too many of Nash’s words did not come through, although it was good to hear the piece with real singers (the mezzo Ulrike Mayer) was Venus, Angus Wood — fresh from “Der Protagonist” — was the barber) and a real orchestra (conducted by Daniel Carlberg). Imme Kachel’s sets suggested Edward Hopper.

Hearing works by Weill’s contemporaries is part of the festival mix, and I caught part of a concert by the prestigious Ensemble Modern, including a compelling performance by the mezzo Salome Kammer of Hindemith’s highly expressive song cycle from 1922 “Die junge Magd.”

Mr. Kaufmann, the artistic director, focuses each year’s festival on a particular city that featured in Weill’s career, while also drawing on works that have had their premiere elsewhere. Berlin was favored this year, while next year brings Paris, a way station en route to New York that witnessed several notable pieces. A wealth of other music by this prolific and fascinating composer exists to supplant them.

Richard Erkens, Märkische Allgemeine, 01.03.2011

[....]“Zum Auftakt ein doppeltes Debüt: Die Anhaltische Philharmonie unter ihrem Chefdirigenten Antony Hermus bereichert erstmalig die Musikerriege des Festivals und präsentierte in der Kombination der Weillschen Debütoper „Der Protagonist“ mit dem Repertoire-Klassiker „Pagliacci“ von Leoncavallo einen musikalisch wie inhaltlich spannenden Abend. Der Theater-auf-dem-Theater-Effekt und das Thema Eifersucht verbinden beide Stücke. Was in der Routine der Schauspieler als bloß fingierte Unterhaltung und derbe Posse erscheint, nämlich der eheliche beziehungsweise platonische Seitensprung, wird plötzlich zur eigenen Realität. Grenzen verschwimmen und Masken fallen, dann folgt die Katastrophe. Bei Leoncavallo unter veristischen Vorzeichen, bei Weill modern und ins Pathologische gesteigert. Die Zusammenstellung dieser Operneinakter faszinierte auch deshalb, weil beide zentralen Sopranpartien von Iordanka Derilova verkörpert wurden. An ihr entzündete sich die männliche Eifersucht und erlosch auf tragische Weise“[....]

Helmut Rohm, Volksstimme, 28.02.2011

Kurt-Weill-Fest beginnt mit Doppel-Opernabend am Anhaltischen Theater Dessau

Protagonist trifft Bajazzo: Viel Beifall und viel Distanz
Ein mitreißender Auftakt des 19. Kurt-Weill-Festes war es nicht. Vor allem in der Stückewahl für den Eröffnungsabend lag das – aber auch in der Umsetzung. Am ausverkauften Anhaltischen Theater hatten am Freitag in Kombination Kurt Weills erste, 1926 uraufgeführte Oper "Der Protagonist", komponiert mit 25 Jahren, und "Der Bajazzo" (I Pagliacci) von Ruggero Leoncavallo in der Inszenierung von André Bücker Premiere.
Ein Messer im vorderen Bühnenboden, mit Spotlicht stets mehr oder weniger durchweg präsent, lässt Schlimmes ahnen, macht zumindest neugierig. Und in beiden Stücken schlägt Spiel in Realität um, werden Liebe und auch geistiges Beherrschen anderer zu Verzweiflung, zu rasender Eifersucht, steigern sich zum Wahnsinn – und zum Mord.
Beide Opern, deren Entstehung 36 Jahre auseinander liegt, weisen Handlungsparallelen auf. Beide Male sind es freie Theatergruppen auf Gastspielreisen. Die Chefs, mal als Protagonist, mal als der Bajazzo, sind die jeweiligen Hauptdarsteller. Ihre Beziehungen zu Frauen bergen Dramatik, gleichsam tödlich endende Tragödie. Der Protagonist (Angus Wood) liebt seine Schwester (Iordanka Derilova). Ob nur schwesterlich oder mehr schon inzestuös, wird nicht ganz klar, soll es vielleicht auch nicht. Der als Bajazzo agierende Canio (Sergey Drobyshevskiy) liebt seine Ehefrau Nedda (auch die Derilova) eigentlich nicht, sieht sie wohl mehr als sein von ihm beherrschtes Eigentum. Es geht um Theater auf dem Theater, und der Parallelität gibt Bühnenbildner Oliver Proske Optik. Der Zuschauer wird in beiden Stücken in ein dem gewaltigen stationären Bühnenportal angepasst fortgesetztes variables Wandsystem geführt, das sich fast nur abstrakt in eine englische Kneipe der Shakespeare-Zeit verwandelt und beim "Bajazzo" zu einer italienischen Piazza wird, auf die das Volk zu einer Aufführung kommen soll.
Iordanka Derilova und Angus Wood gelingt es im "Protagonisten" nur teilweise, die Exzessivität der inneren zerrissenen Gefühlswelt erlebbar zu gestalten. André Bückers slapstickartige "Einwürfe" mit stark angetrunkenen Mimen, Auf- und Abgängen, angedeuteten Tanzeskapaden könnten mit Weills Intention zu darstellerischer Verknüpfung in Vielfalt gedeutet werden, wirken jedoch zu aufgesetzt. Da sind die pantomimischen Aktionen in den von der Truppe gespielten Stücken schon wirkungsvoller. Die Anhaltische Philharmonie unter ihrem GMD Antony Hermus intoniert die Weillsche Musik in ihrem spröden, illusionslosen und expressionistischen Stil. Musik, die von der Moderne Anfang der 20er Jahre beeinflusst wird. Gesang, der eher rezitativ und schon ein wenig songartig daher kommt. Wenig Aktion auf der Bühne. Einige Besucher verlassen die Premiere nach wenigen Minuten, einige mehr in der Pause. Bei vielen, die bleiben, ist Distanz zum Erlebten.
Mehr aktive Bewegung kommt mit dem "Bajazzo" (im italienischen Original und wie bei Weill auch mit Obertiteln) auf die Bühne. Die Musik ist flüssiger, die Melodien "angenehmer". Chor (Leitung Helmut Sonne) und Kinderchor (Leitung Dorislava Kuntschewa) mischen aktionsvoll mit. Die Bühne verwandelt sich mehr. Die Künstlertruppe wird mit einem Ballon eingefahren. Mit etwas Verwunderung versuchen die Zuschauer wohl, den Tanz des Volkes, das Warum des am Orchestergrabenrand "musizierenden" Kinderorchesters einzuordnen. Da sind die putzigen Holzvögel zu Neddas inniger Vogelfreiheitsarie eher hinzunehmen. Sergey Drobyshevskiy und Iordanka Derilova kommen gut in Szene. In beiden Opern haben Ulf Paulsen (Wirt und Tonio), David Ameln (Hofhausmeister und Peppe) sowie Wiard Witholt (junger Mann und Silvio) bravourös agiert.
Der große Schlussbeifall rührt vor allem vom "Bajazzo" her. Auch der Weillsche "Der Protagonist" profitiert damit vom so entstandenen positiveren Gesamt-Premieren-Eindruck. Die nächste Aufführung gibt es am 5. März um 17 Uhr.

Joachim Lange, Frankfurter Rundschau, 28.02.2011

Ein Mord gehört dazu

Das Kurt-Weill-Fest in Dessau startet mit einem Operndoppel aus „Der Protagonist“ und Leoncavallos „I Pagliacci“: Leider hatte man nicht den Mut diesen kraftvollen Weill mit einem seiner Zeitgenossen zu kombinieren. Für den 36 Jahre älteren "Bajazzo" von Leoncavalli sprach die Ähnlichkeit des Sujets.
Der heute kaum noch vorstellbare Uraufführungseifer, den das Dresdner Musikleben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auszeichnete, beschränkte sich keineswegs auf die Novitäten des Hausheiligen Richard Strauss. Neben Ferrucio Busonis „Doktor Faust“ und Paul Hindemiths „Cardillac“ gehörte 1926 auch Kurt Weills erste Oper „Der Protagonist“ in diese Reihe.
Dass der damals 26-jährige Schüler Busonis mit diesem Einakter selbstbewusst seinen eigenen Moderne-Ehrgeiz an den Tag legte, davon vermittelte jetzt, bei der Eröffnung des 19. Kurt-Weill-Festes in Dessau, vor allem der dortige GMD Anthony Hermus vom Graben aus zumindest einen Eindruck. Weills Musik verbindet die noch lebendige Tradition mit der vitalen Nervosität und dem Tempo seiner Zeit. Dieser Opernerstling machte ihn zu einem Hoffnungsträger für die Erneuerung des Genres. Nachhaltig berühmt gemacht haben ihn allerdings zwei Jahre später die geradezu volkstümlichen Songs der „Dreigroschenoper“.

Logischer Ausgangspunkt

Nachdem es „Der Protagonist“ vor acht Jahren schon einmal in Bregenz zu Festspielehren gebracht hatte, ist er nun der aktuelle Festival-Beitrag des Anhaltischen Theaters. Da man dort in den nächsten Jahren die drei Lebensstationen des 1933 vor den Nazis zunächst nach Paris und dann 1935 nach Amerika geflohenen Weill nachzeichnen will, ist sein „Protagonist“ der logische Ausgangspunkt. Allerdings hatte man nicht den Mut, diesen kraftvollen, durchaus ambitionierten Weill mit einem seiner Zeitgenossen zu kombinieren. Für den 36 Jahre älteren „Bajazzo“ von Leoncavallo sprechen allenfalls dessen Popularität und die Ähnlichkeiten des Sujets.
Es geht in beiden Stücken um einen egomanischen Schauspieler, der sich zu einem Eifersuchtsmord hinreißen lässt. Dabei bleibt die große Bühne, die Canio immerhin hat, als er seine untreue Nedda umbringt, seinem Bühnenbruder im Geiste, dem Protagonisten aus Georg Kaisers Stück und Weills Oper, wohl versagt. Der lässt sich nämlich schon bei der Probe im Gasthaus zum Mord an der heiß und über die erlaubten Grenzen hinaus geliebten Schwester hinreißen. Dass er dann auch noch die Justiz darum bittet, ihn erst nach der Vorstellung zu verhaften, weil das wohl die beste Rolle seines Lebens würde, ist die Pointe einer Selbstüberhebung, die den Exzentriker eben doch nur zum Mörder und nicht zum genialen Mimen macht.
Mit der szenischen Verschränkung beider Stücke, für die sich Intendant André Bücker bei seiner Inszenierung entschied, werden das Einheitsbühnenbild von Oliver Proske und die diffus unbestimmten Kostüme zu einer Falle.

Peinliche Choreographie

Die Verlängerung der Holzvertäflung des Bühnenportals, eine kleine Bühne auf der Bühne im Hintergrund und diverse ausfahrbare Schubkästen oder abklappbare Dächer bieten eben noch lange keine mordlüsterne Wirtshausatmosphäre für den Protagonisten, auch wenn der Wirt blutüberströmt und mit Hackebeil herumgeistert. Dass Canio und seine Truppe mit dem Ballon einschweben, bleibt genauso aufgesetzt wie die peinliche Choreografie des Chores beim Kirchgang. Wenn dann noch eine Kinderkapelle im Zwischenspiel aufmarschiert und tut als ob, dann streift die Szene so den Kitsch, wie man es in Dessau zum Glück sonst nicht vorgesetzt bekommt. Bestritten wird der Abend mit hauseigenen Kräften. Am überzeugendsten sind Ulf Paulsen erst als Wirt und dann als intriganter Tonio und Wiard Witholt, in beiden Fällen in der Rolle des Liebhabers. Iordanka Derilova macht sich mit ausgestellt schnippischer Geste die beiden gemeuchelten Frauengestalten (zu) dramatisch zu eigen.
Angus Wood hat als Protagonist zwar Kondition, aber kaum Dämonie, und Sergy Drobyshevskiy konzentriert sich (mit Erfolg) auf sein „Lache Bajazzo“. Immerhin, wenn es sonst an diesem Abend schon keinen echten Grund zur Freude gab. Das Publikum ließ sich die Festspiellaune nicht verderben und jubelte.

Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung, 27.2.2011

Der Tod macht die Musik

DESSAU-ROSSLAU/MZ. Die Welt ist eine Bühne ist eine Welt: Hinter dem Vorhang bauscht sich eine weitere Gardine, das Portal verlängert sich bis zum Horizont, die Kostüme sind von den Alltagskleidern nicht zu unterscheiden - und die Schauspieler überschminken vor dem Spiegel ihre Masken. Die Selbstverhandlung des Theaters auf dem Theater, die sowohl in Kurt Weills "Der Protagonist" als auch in Ruggero Leoncavallos "I Pagliacci" ein zentrales Motiv darstellt, verdoppelt die Illusion mit dem Ziel ihrer Zerstörung. Und wenn am Ende beider Opern ein realer Mord geschieht, dann zeigt dies auf fatale Weise die Vermischung von Kunst und Leben - und ist doch wieder Theater. Die Verknüpfung der beiden Werke bescherte dem Dessauer Kurt-Weill-Fest nun einen großen Eröffnungsabend im Anhaltischen Theater. Erstmals seit der Jubiläumsproduktion des "Kuhhandel" im Jahr 2000 inszenierte ein Hausherr wieder selbst - und anders als die anmaßende Karikatur seines Vorgängers zeigte André Bücker eine vielschichtige Deutung, die sich in den Dienst des selten gespielten Weill-Erstlings von 1926 und des Vorläufers von 1892 stellte. Einen wesentlichen Anteil am Gelingen des Konzepts hatte dabei das Bühnenbild von Oliver Proske.

Die Holzschachtel, in der die warme Farbe und die Ornamentbänder des Bühnenportals aufgenommen werden, entpuppt sich mit fortschreitendem Geschehen als magische Box voller Fenster und Türen, Schubladen und Verstecke. Da können sich Wände zum Kreuzgang einer Kirche öffnen, da kippen Dächer aus dem Himmel und da schieben sich Balkone in den Raum - eine Fülle von Spielorten und -anlässen, die von der Regie dankbar angenommen wird.

Als dramaturgische Klammer setzt Bücker zudem eine symbolische Figur: Ein Kind mit Schädelmaske rammt zu den ersten Klängen einen Dolch in die Mitte der Vorbühne, das Mord-Instrument ist von Anfang an präsent - und fortan macht der Tod die Musik. Auch das Orchester des Herzogs, mit dem der Protagonist sein Stück in Szene setzen soll, erscheint als Gruppe von Knochenmännern. Wenn im zweiten Teil der Kinderchor auf stummen Saiten spielt, spiegeln sich diese lärmenden Leichen in lautlosen Lebenden - so, wie sich die Handlung der Stücke vielfach wechselseitig reflektiert.

Das zieht sich bis in die Stimmfarben der Hauptfiguren hinein: In beiden Fällen ist der Prinzipal der Theatertruppe ein Tenor, der heimliche Liebhaber ein Bariton - und das Opfer ein dramatischer Sopran. Hinzu gesellen sich Boten und die niederen Chargen des Ensembles sowie - im Falle des "Pagliacci" - das Publikum. Mit Wiard Witolt (Junger Herr / Silvio), Ulf Paulsen (Wirt / Tonio) und David Ameln (Hausmeister / Peppe) kann das Haus auf ausschließlich eigene Kräfte zurückgreifen, die hinter wechselnden Masken gemeinsame Triebkräfte ihrer Gestalten sicht- und hörbar machen - in Abwandlung des Satzes aus Georg Kaisers Libretto "Figur ist gleich, nur grenzenlose Verwandlung gilt!".

Mit Angus Wood als Protagonist und Sergey Drobyshevskiy als Canio werden zudem zwei hoch gestimmte Herren aufgeboten, deren Timbres sich bei einer optimalen Disposition des Bajazzo noch besser ergänzen dürften. Immerhin findet Leoncavallos Held im Moment des größten Schmerzes auch zu jener Kraft, mit der Drobyshevskiy zuletzt in der "Turandot" begeisterte. Angus Wood hingegen hält nicht nur der ambitionierten Klangsprache des damals 25-jährigen Komponisten und dem elaborierten Text seines Librettisten stand, sondern bewährt sich mit seinen Mitspielern Cezary Rotkiewicz, Christian Most und Anne Weinkauf auch in den beiden großen, zentralen Pantomimen.

Mit diesen stummen Szenen hat Weill eine bleibende Herausforderung über mehr als 100 Takte geschaffen. Gabriella Gilardi füllt diese gewaltigen Intermezzi mit den Mitteln eines derben Volkstheaters, das bereits auf die obligatorischen Commedia-Szenen im "Pagliacci" verweist - und choreografiert dort dann einen Kirchgang, der auf die forcierten Auftritte der Theatermacher im "Protagonisten" zurückdeutet. Der leuchtende Solitär aber ist einmal mehr Iordanka Derilova, die an diesem Abend den doppelten Bühnentod stirbt, nachdem sie in beiden Stücken starke, liebende Frauen zum Leben erweckt hat. Wenn sie als Nedda verzweifelt versucht, aus dem echten Konflikt mit Canio in die Harmlosigkeit der Komödie zurückzufinden, dann schließt sich ein Kreis - und man hört Leoncavallos Finale mit an Weill geschulten Ohren.

Beide Klangsprachen sind bei Antony Hermus in besten Händen, selbst wenn die Anhaltische Philharmonie am Ende ein wenig mit ihrer Konzentration zu kämpfen hat. Der nervöse, kleinteilige Gestus des jungen Weill fordert eben doch Tribut, gemeinsam mit den von Dorislava Kuntschewa und Helmut Sonne exzellent gearbeiteten Chören aber gelingt eine großartige Ensemble-Leistung. Und beiläufig wirkt das Ganze auch wie eine Antwort auf die Festakt-Ansprache des scheidenden Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer, der einmal mehr freihändig über An- und Zuspruch der Theater im Land sinniert hatte. Hier stimmt beides!

zu „Der Besuch der alten Dame“

Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung, 08.12.10

Grelle Fröhlichkeit übertönt die Mordlust
MANNHEIM/MZ. Sechs Buchstaben sind es, die Zeugnis über ihre Bewohner ablegen: "Güllen" steht in fetten Lettern am Bahnhof der Stadt, Worte wie "Gun" oder "Lügen" kann man mühelos daraus scrabbeln. Und weil Letztere in der Welt sind, braucht man Ersteres, wenn man den Aufschwung herbeiführen will. Eine Milliarde immerhin hat Claire Zachanassian ihrem einstigen Heimatort versprochen, wenn sich jemand findet, der ihren einstigen Geliebten Alfred Ill zum Tode befördert "Der Besuch der Alten Dame" ist bereits das zweite Stück von Friedrich Dürrenmatt, das Dessaus Generalintendant André Bücker als Gast am Nationaltheater Mannheim inszeniert hat. Und nachdem "Die Physiker" dort bereits in der dritten Saison laufen, dürfte auch dieser bitterbösen Komödie nun ein langes Leben beschieden sein. Schließlich holt der Regisseur mit seinem Ausstatter Jan Steigert - der am Anhaltischen Theater zuletzt das Bühnenbild für "Die Stumme von Portici" entwarf - das komische Lehrstück aus der papiernen Vergangenheit in eine höchst lebendige Gegenwart, ohne die Geschichte oder ihre Figuren dabei zu verraten.
Bücker verknappt einerseits das vielköpfige Personal, um andererseits mit Masse aufzutrumpfen: Nachdem er die Zahl der potenziell Verdächtigen auf Ills Familie, die Ärztin, den Pfarrer, den Polizisten, den Lehrer und den Bürgermeister reduziert hat, stellt er ihnen einen Kinderchor und einen Fanfarenzug zur Seite. So lässt sich eine grelle Fröhlichkeit begründen, die zum Übertönen von Todesangst wie von Mordlust taugt. Und auch dem Text bekommen einige Aktualisierungen gut, die den ersehnten Luxus an heutigen Maßstäben ausrichten.
Ansonsten aber wird die Geschichte erstaunlich werktreu erzählt - und erweist sich dank eines gut aufgestellten Ensembles als überraschend haltbar. Dass Bücker die Buchstaben des Stadtnamens dabei zu immer neuen Konstellationen formt, in denen die Jagd auf Claires schwarzen Panther so effektvoll in Szene gesetzt werden kann wie die aberwitzig komische Ansprache des Stadtoberhaupts oder der Waldspaziergang des einstigen Liebespaars, gibt der Inszenierung Rhythmus und Tempo.
Fast möchte man bedauern, dass sich der Regisseur nun bereits an diesem Stück abgearbeitet hat, das in der kommenden Saison auch auf dem Dessauer Spielplan im Anhaltischen Theater stehen wird.

Stefan Benz, Darmstädter Echo, 07.12.2010

RACHE STATT RENDITE
Schauspiel – Mannheim ernennt Dürrenmatt zum Globalisierungskritiker: „Der Besuch der alten Dame“ als große Show
MANNHEIM – So viel war noch selten los in Güllen: Die Blasmusik spielt, ein Kinderchor singt, eine Statistenkohorte feiert den Stargast wie bei einer Fernsehshow. Am Anfang bilden riesige Leuchtlettern die Ortsmarke G-Ü-L-L-E-N, am Ende steht da L-Ü-G-E-N. Im Mannheimer Nationaltheater sind die Bewohner von Friedrich Dürrenmatts Modellstädtchen arm, aber irgendwie auch sexy. Wo dem Publikum sonst nur noch szenische Stadtführungen für Mittelstufenklassen geboten werden, fegt Regisseur André Bücker den Staub der Fünfziger mit kabarettistischem Schwung aus. „Güllen schafft sich ab“ heißt es am Anfang, „Wir sind das Volk“ am Ende. Der neue Bogen spannt mithin von den Montagsdemos 1989 bis zur Sarrazin-Debatte von heute. Bei der Uraufführung 1956 war die moralische Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“ eine Parabel über die mörderische Verführbarkeit der Massen vor dem noch nahen Hintergrund des Holocaust. Die Milliardärin Claire Zachanassian kommt in ihre verarmte Heimatstadt Güllen zurück, wo sie als junges Mädchen verraten und verstoßen wurde. Für eine Milliarde will sie sich Gerechtigkeit kaufen. Ihre Jugendliebe Alfred Ill soll sterben, dann wird die alte Dame das Städtchen sanieren, das sie zuvor heimlich ruiniert hat. André Bücker, Generalintendant in Dessau, nimmt das als Vorlage für ein Spiel über Gier und Ohnmacht in Zeiten der Turboglobalisierung. Dieses Güllen ist unverkennbar eine Stadt der Hartz-IV-Freaks. Kaum besteht Aussicht auf Reichtum, karrt das Prekariat Flachbildschirme und Playstations herbei. Und der Bürgermeister, den Reinhard Mahlberg eben noch in einem Kabinettstückchen als stammelnden Dilettanten vorgestellt hat, enthüllt den Plan für „Güllen 21“. Bücker lässt keine Anspielung aus. Da muss auch der Dorfpfarrer noch einen zweifelhaften Lehrauftrag an der Odenwaldschule annehmen, und der Bürgermeister rollt das Wort „ausrotten“ wie beim Reichsparteitag. Lieber eine platte Pointe zuviel als ein Effekt zu wenig. Das scheint die Strategie in Mannheim gewesen zu sein. Und sie geht auf: Jubel nach zwei kurzweiligen Stunden für die packende Auffrischung von Dürrenmatts mahnender Satire. Das die Botschaft papieren raschelt, die Bitterkeit heute bieder anmutet, spürt man nur noch im Schlussdrittel, wenn Alfred Ill (Jacques Malan) resigniert dem Tod entgegentaumelt. Zuvor aber bereitet die Regie der alten Dame eine große Show. Zum Zulu-Hit „The lion sleeps tonight“ tritt Claire Zachanassian in einer Ethnogala auf wie Miriam Makeba als Megäre, wobei Anke Schubert den durchaus zärtlichen Zynismus der Titelfigur gegenüber ihrer alten Liebe durchweg barsch interpretiert. Als ihr Panther los ist, und die Güllener auf die Jagd gehen, verwandelt sich der Stadtwald per Videoprojektion in einen Dschungel, durch den die Strahlen der Laser-Zielgeräte fingern, als hätte Dürrenmatt das Kino-Drehbuch zur Alien-Action „Predator“ geschrieben. So viel Bilderwirbel hält die Schaulust lange hoch, zumal die alte Geschichte hier ja einen verschobenen Akzent trägt. Claire Zachanassian wird zur Verkörperung des Heuschrecken-Kapitalismus. „Besuch des neuen Hedgefonds“ könnte das Stück in Mannheim auch heißen. Wobei nicht die Gier nach Rendite, sondern nach Rache in den Ruin führt. Dürrenmatt ist dabei zwanzig Jahre nach seinem Tod als Globalisierungskritiker zu entdecken, der dem anonymen Profitstreben in Gestalt der alten Dame immerhin einen Kapitalismus mit unmenschlichem Antlitz entgegensetzt.

Volker Oesterreich, Rhein-Neckar-Zeitung, 6.12.2010

Am Nationaltheater mischt eine rachsüchtige Reiche bankrotte Bürger auf
In Güllen stehen sie alle bis zum Hals in der Gülle der Korruption , von der Dorfschlampe bis zum Pfarrer und vom Lehrer bis zum Bürgermeister. Natürlich wollen sie das nicht wahrhaben, die Güllener in Ftiedrich Dürrenmatts tragischer Komödie "Der Besuch der alten Dame". Aber der Macht des Geldes erliegen sie dann doch.
Güllen, so sieht es der Regisseur Andre Bücker im Nationaltheater Mannheim, ist ein bizarrer Modellfall für ein "global village" im Sumpf der Weltfinanzkrise. Ihr mehrfach wiederholtes Lippenbekenntnis "Lieber bankrott als blutbefleckt" ignorieren die hoch verschuldeten Kleinstädter am Ende, und so kommt es, dass sie mit Alfred Ill einen der ihren opfern, um der Rachefurie Claire Zachanassian Genüge zu tun. Nach Jahrzehnten ist sie zurückgekehrt in das Kaff ihrer Jugend, wo sie AIfred einst mit einem Kind hat sitzen lassen. Damals war sie bildschön, aber bettelarm, nun ist sie ein Wrack, aber stinkreich - Voraussetzung dafür, dass sie den Güllenern für eine Milliarde die "Gerechtigkeit" abkaufen kann. Eine irrwitzige Idee, aber sie funktioniert noch immer auf der Bühne. In den letzten Jahren ist dieser 1956 uraufgeführte Klassiker der Moderne zwar etwas aus dem Blickfeld der Theatermacher geraten, verloren hat er aber nichts von seiner klug konstruierten Wirkungsmacht. Mit ein paar satirischen Zutaten, die an unseren Zeitgeist appellieren, vor allem aber mit aufwändi- . gen Massenszenen, phantasievollem Augenfutter und einer so einfachen wie genialen Bühnenbild-Idee von Jan Steigert serviert Andre Bücker dem Publikum ein Dürrenmatt-Update, das nach zwei pausenlosen Stunden rhythmisch beklatscht wird.
Anfangs wird die Bühne von den meterhohen Leuchtbuchstaben GÜLLEN beherrscht. Spärlich flackernd symbolisieren sie den Provinzbahnhof, an dem schon seit Jahren die meisten Züge nur. noch durchrattern. Später werden die Lettern mehrfach gedreht und verschoben, so dass sich eine abstrakte Kleinstadt- Landschaft bildet, auf die der Dschungel der Großfinanz projiziert wird - oder ein Flickenteppich von Preisschildern, weil für die Güllener der Konsum auf Pump so verlockend ist. Nicht nur dieses Bühnenbild hinterlässt einen starken Eindruck, sondern auch die Manpower mit viel Statisterie, Kinderchor und Fanfarenzug verfehlen ihre Wirkung nicht. Claire Zachanassian, die von Anke Schubert eher in abwartender Zwiickhaltung als in rachsüchtigem Furor gespielt wird, beherrscht die Szene mit monströsen Kostümen (ebenfalls von Jan Steigert gestaltet) und einem exotischen Hofstaat, der geradewegs aus Disneys "König der Löwen" entsprungen sein könnte, was durch ein Bühnenmusik-Zitat suggeriert wird. Will sagen: Der Raubtier-Kapitalismus regiert die Welt, und die Güllener haben sich bei ihrem Affentanz der Almosenempfänger gefälligst anzupassen und ihre moralischen Bedenken über Bord zu werfen.
Auch Jacques Malan trumpft darstellerisch nicht auf, sondern zeigt in der Opferrolle des Alfred Ill eher ruhige Momente der Angst, der zunehmenden Isolation und Resignation. Almut Henkel macht als sexy Dorfschlampe gute Figur, Reinhard Mahlberg karikiert gekonnt den holprig redenden Bürgermeister, Matthias Thömmes mimt den verlogenen Pfar- Monströs kostümiert, Anke Schubert als milliardenschwere Claire Zachanasslan, Im Hintergrund Peter Pearce als Mitglied ihres exotischen Hofstaats. Foto, Flanan Merdes rer, W1d Thorsten Danner ist der zunachst prinzipien treue Lehrer, der sich seine humanistischen Ideale dann doch abkaufen lässt. Im Schlussbild stehen die versammelten Güllener verraten und verkauft da in ihrem Lügengebäude, versammelt um den weißen Sarg des kollektiv ermordeten Alfred Ill. Aber ihr großspuriges Bahnhofsprojekt "Güllen21 ", das können sie sich mit Claires Milliarde nun wohl leisten. Eine Prognose sei gewagt: Dieser "Damen-Besuch" wird noch lange auf dem Spielplan des Nationaltheaters bleiben.

Alfred Huber, Mannheimer Morgen, 6.12.2010

Im Zentrum des Kapitals
Solch einen Medienrummel wie auf der Bühne des Mannheimer Schauspielhauses kennt man höchstens vom Fernsehen, wenn sich Prominente spektakulär in der Öffentlichkeit zeigen. Schließlich geschieht es nicht alle Tage, dass die reichste Frau der Welt einem gottverlassenen Nest gleich eine Milliarde spendiert, bloß weil sie dort mal in ihrer Jugend heftig verknallt war. Jedenfalls kehrt Claire Zachanassian, geborene Wäscher, an den ihr vertrauten Ort zurück, nicht etwa aus Heimweh oder Sentimentalität, sondern aus Rachsucht. Schließlich hat ihr Lover von damals, fünfundvierzig Jahre sind das her, sein schwangeres "Wildkätzchen" sitzenlassen und in einem Prozess mit bestochenen Zeugen seine Vaterschaft bestritten.
Modernisierte Vorlage
Kläri landet in einem Bordell, das Kind stirbt. Sie lernt einen milliardenschweren Verehrer kennen, beerbt ihn, und nun ist sie wieder da im inzwischen bankrotten Güllen, genauso wie es Friedrich Dürrenmatt in seinem 1956 uraufgeführten Stück "Der Besuch der alten Dame" beschreibt. Natürlich ist die Zeit an dem Text nicht spurlos vorübergegangen, Marshall-Plan und Fresswelle gehören der Vergangenheit an. Entsprechend hat Regisseur André Bücker seine Inszenierung modernen Gegebenheiten angepasst und in einer bisweilen etwas schrillen revueartigen Schau nicht ohne Erfolg versucht, dem alten Stück neues Leben einzuhauchen.
Dazu hat ihm Jan Steigert ein tolles Bühnenbild bauen lassen, das die Leuchtbuchstaben GÜLLEN zu immer neuen Bau-Elementen variantenreich verändert. Hier spielt sich ab, was der moralische Anspruch der Dürrenmatt'schen Parabel so zu bieten hat. Aktuell ist das Stück noch immer in einer Welt, die mehr denn je das Geld wie einen Götzen verehrt.
Staub raus, Klamauk rein, mag Bücker gelegentlich gedacht haben, als er das Stück fröhlich aufpolierte. Aber immerhin erfahren wir so, dass nicht nur die Freimaurer, sondern möglicherweise auch die Schwulen in der FDP an der wirtschaftlichen Flaute in Güllen schuld sind. Und der Pfarrer hat, wie er mit raschem Griff in die entsprechende Körpergegend unterstreicht, eine Berufung an die Odenwaldschule abgelehnt. Zum Glück gibt es auch harmlosere Späße. Allein schon die mit Papierfähnchen wedelnden Mitglieder des Empfangskomitees am Bahnhof, deren Körper sich im Fahrtwind der vorbeidonnernden Züge verbiegen, sind ein amüsanter Auftakt, der zu Recht weitere interessante Vorstöße in das Reich kapitaler Heilserwartungen vermuten lässt. Und da die Schauspieler und Statisten den bisweilen munteren Einfällen des Regisseurs willig folgen, entsteht bald zwischen Bühne und Zuschauerraum ein angenehm lockeres Einvernehmen, das zwar gelegentlich am Nachdenken hindert, die Aussagen Dürrenmatts leicht verwässert, aber blendend unterhält.
Jeder Zoll eine Milliardärin. Stolz und selbstbewusst fährt Anke Schubert als Claire Zachanassian auf einer Gangway herein, begleitet von einem exotischen Hofstaat. Sachlich, kühl und hart trägt sie ihren Forderungen vor, für Zwischentöne und feinere Nuancen hat sie kaum etwas übrig. Zu viel Haltung, zu wenig Mensch. Entsprechend gelassen kommentiert sie auch die "selbstlosen" Huldigungen der Güllener. An ihrer Spitze der Bürgermeister, den Reinhard Mahlberg famos als doppelzüngigen von schleimiger Jovialität durchdrungenen Politiker spielt.
Erfreulich gute Auftritte gibt es auch von Thorsten Danner (Lehrer), Matthias Thömmes (Pfarrer), Tim Egloff (Polizist) und der agilen Almut Henkel, die als Ehefrau Alfred Ills wenig Mitgefühl für die fatale Lage ihres Mannes beweist. Gleiches gilt für ihre gemeinsame putzmuntere Tochter (Dascha Trautwein). Jacques Malan ist Ill, ein zunächst tief Verzweifelter, von allen Verwünschter, der trotz seiner Ängste später dem Urteil wunderlich gefasst entgegensieht. Nach zwei Stunden ohne Pause ist alles vorbei. So rasch und kurzweilig hat man Alfred Ill wohl selten um die Ecke gebracht. Das Publikum bedankte sich dafür mit herzlichem Applaus und übertönte so die wenigen Buhrufe.

zu „Doktor Mabuse“

Lena Schneider, Theater der Zeit

Im Rhythmus der Spieluhr
Was ist das eigentlich, ein Verbrecher? Ein Mörder? Banker? Umweltsünder, Raucher, Zuschnellfahrer? So recht auf die Polemik anspringen will das Dessauer Publikum nicht — „ Milchkaffeetrinker!", ergänzt ein Zuschauer die auf der Bühne versuchte Liste. Verstanden haben wir die Kehrseite der willkürlichen Reihung aber doch. Wo alles verbrecherisch ist, ist es niemand wirklich. Das hübsch Doppelbödige an der eher holprigen Mitmachszene: Der schmalschultrige Bursche auf der Bühne (Thorsten Köhler), der die Frage nach dem Verbrecher stellte, hatte kurz zuvor eine Knarre aus seiner knittrigen Plastetüte gewickelt, treffsicher in den Souffleurkasten gezielt, sich des reinflüsternden Souffleurs entledigt und dann ins Publikum gebellt: Was gucken Sie denn so?
Was Regisseur Andre Bücker in seiner Eingangsszene zeigt: Wo es um Doktor Mabuse, den Hypnotiseur, Verführer, Menschenverächter und Protagonisten des gleichnamigen 1919 erschienenen Romans von Norbert Jacques geht, geht es auch um die Frage, was das Böse eigentlich ausmacht. Mabuse steht für Machthunger und Misanthropie, aber ebenso für die Schwäche derer, die ihm verfallen. Das war schon in Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler" (1922) Thema und erst recht in „Das Testament des Dr. Mabuse" (1933), wofür Letzterer von den Nazis verboten wurde. Einen dritten, weniger bekannten Film drehte Lang 1960. Das Phänomen Mabuse bleibt interessant—nicht zuletzt, weil eingangs erwähnter Relativismus vielleicht tatsächlich die heutige Spielart von Mabuses Nihilismus ist. „Das, was wir Moral nennen, ist ein ausgehöhltes Nichts!", lässt Bücker den Ganoven auf der Dessauer Bühne noch rufen. Dann geht das „richtige" Theater los; Vorhang auf, willkommen in Mabuses Welt. Das Bedauerliche: Anders als das Entree hoffen ließ, hat diese Welt mit der unsrigen nichts mehr zu tun. Bückers Text ist von Nietzsche, Baudelaire und Canetti durchsetzt, auch Thomas Morus, Hannah Arendt und Rüdiger Safranski stehen auf der Leseliste — aber in Bückers Inszenierung flirrt der Text vorbei wie die ebenfalls flüchtigen Videosequenzen. Bücker erzählt nicht nur Krimi, Psychothriller, Sozialdrama und 'Künstlerglosse auf einmal, er will auch bei seiner Titelfigur al les zugleich. Mal erinnert Uwe Fischers Mabuse an den größenwahnsinnigen Ubu (Krone inklusive), mal an den herrischen Goebbels (der das Des-sauer Theater bauen ließ), mal an den Psychostripper Freud. Mal ist er Spekulant und Banker, dann dystopisierender Kolonialherr, der sich ein Inselchen, wo sich Natur und Mensch endlich vollkommen beherrschen lassen, zusammenträumt. In allen steckt Mabuse; aber weil alle Facetten nur angerissen sind, bleiben sie letztlich erstaunlich wirkungslos. Die Ausstattung hilft angesichts dieser Hilflosigkeit nicht: Sie belässt Mabuses Welt in einer vage den Zwanzigern anverwandten Ästhetik, die sich mit allen Mitteln bemüht, „anrüchig" zu sein, und doch irgendwie staubig bleibt: Blassgeschminkte Gesichter, Netzstrümpfe, Melonenhüte und lange Mäntel werden gemischt mit heutiger Kleidung, mikroportverstärkten Stimmen und vor allem mit ohne Unterlass flimmernden Videobildern, wo sich psychedelische Muster mit Nahaufnahmen der Protagonisten abwechseln. Die Bühne ist ähnlich überfrachtet: Das riesige Drehbühnengebilde von Jan Steigert hockt ziemlich opernhaft in der Mitte, vorne ist ein Spielkasino zu sehen (Mabuses Reich), hinten eine Hausfassade mit schwarz guckenden Fensterhöhlen (Straße, Gefängnis, Zwischenstation), an einer Seite eine herrschaftliche Treppe (die Villa der von Mabuse angebeteten, dann entführten Gräfin de Goult). Je öfter die Bühne sich von einem Spielort in den anderen dreht, desto mehr erinnert das Ganze an eine monumentale Spieluhr, ausgestattet mit immer neuem Videoflimmern, 'Kostümen, Klangteppichen, die nimmermüde um sich selbst schaukelt. Einen Kern gibt es nicht; wie jede Spieluhr scheint sie sich vor allem zu drehen, um sich zu drehen.
Das Ganze mag irgendwie mit Mabuse zu tun haben — die Verwirrung, Desorientierung, Überfrachtung —, aber trotz des mit aller Macht heraufbeschworenen Bühnenzaubers fehlt dem Abend sein hypnotisches Zentrum. Oder gerade deswegen? Dass ganz am Ende unser Ganove wieder auftritt, diesmal eingeschnürt in Dynamitpakete, so wie die Medien Selbstmordattentäter zeigen, wirkt wie ein ziemlich lauwarmer Versuch, doch noch den Ruck in die Aktualität zu schaffen. Außerdem zeigt dieser letzte Kniff die Ebene, auf der die Inszenierung insgesamt operiert: Das Böse, um das soll es ja gehen, wird vor allem an der Oberfläche von Bildern abgehandelt. Was hängen bleibt, ist die Frage der ausgehölten Moral — und die Ahnung, dass „Dr. Mabuse" damit tatsächlich ein heutiger, wichtiger Stoff sein könnte.

Nina May, Leipziger Volkszeitung, 18. Oktober 2010

Menschen -Spieler

Uraufführung: „Doktor Mabuse“ kann in Dessau nicht ganz mit Fritz Langs Stummfilmklassiker mithalten

Doktor Mabuse ist ein Psychoanalytiker, der die Menschen durch Hypnose manipuliert - sein Schöpfer und Roman-Autor Norbert Jacques wurde offenkundig inspiriert von Sigmund Freud. Er ist zugleich „immer ein anderer“, wie es im Anhaltinischen Theater auf der Bühne heißt, verbirgt sich ständig hinter neuen Masken, er ist als „Spieler“, wie Fritz Lang ihn in seinem ersten Film über den Universalbrecher nannte, nicht nur der Herr über die Karten, sondern auch über die Sinne der Menschen.

Theater hat seine Wurzeln in genau diesem Spiel mit Masken und Wahrnehmung, und so bietet sich die Wahl des Stoffes für die Bühne an. Am Freitagabend wurde die Uraufführung von „Doktor Mabuse“ im Anhaltinischen Theater gefeiert. Intendant André Bücker gelingt es in seiner Inszenierung, die unheimliche kriminelle Zwischenwelt, in der sich auch der Zuschauer nicht auf seine Sinne verlassen kann, sinnlich erfahrbar zu machen: indem er seinem Ensemble Monitore vors Gesicht spannt, auf denen Augen zu sehen sind. Auch darunter sind nicht die wahren Gesichter, sondern mit UV-Licht gezeichnete Konturen - eine eindrucksvolle Doppelmaske. Das sich stetig wandelnde Bühnenbild mit Spiegeln und Videoprojektionen von Jan Steigert spielt zudem mit der Wahrnehmung der Zuschauer. Die eigens komponierte Musik von Daniel Dohmeier erinnert an die Stummfilm-Atmosphäre.

Allerdings wirkt der Abend - vor allem nach dem Genuss von Langs Film - in großen Teilen sehr krakelig. Uwe Fischer scheint in der Titelrolle mangelnden Esprit mit Hysterie ausgleichen zu wollen. Da war der Filmdarsteller Rudolf Klein-Rogge mit diesem irren Blick schon von anderem Kaliber. Auch die Gräfin, für die Mabuse erfolglos entbrennt, wird in der Besetzung mit Katja Sieder von der gelangweilten Grand Dame, die ein bisschen Nervenkitzel sucht, zur theatralischen Selbstdarstellerin. Nicht schlecht jedoch der Wandel von Mabuses weiblichem Werkzeug von der umjubelten Tänzerin zur Lyrik zitierenden Prostituierten, die ihrem Meister hoffnungslos verfallen ist (viel Applaus für Susanne Hessel).

Als eine Art Ouvertüre philosophiert Mabuses Diener im Dialog mit dem Publikum über das Wesen des Verbrechers und scheut dabei auch Stammtisch-Parolen nicht („Die da oben sind …“). Eine bemerkenswerte Leistung von Thorsten Köhler. Der Prototyp des Verbrechers ist natürlich Doktor Mabuse selbst, der Börsenkurse wie Menschen zur Durchsetzung seines Willens manipuliert - in Dessau werden passenderweise Texte von Nietzsche montiert. Bücker muss keinen Holzhammer bemühen, um die Parallelen zur aktuellen Finanzkrise deutlich zu machen. Die Konsequenzen aus dem Glücksspiel Börse werden in den dekadenten Salons der 20er ebenso verdrängt wie in der Spaßgesellschaft vor dem Platzen der Spekulationsblase.

Bis dahin spielt man eben noch eine Runde - oder wird selbst zum Spielball eines Doktor Mabuse.

Nina May, Die Zeit, 21.10.2010

Kein schöner Land als Dessau

Das Beispiel Anhaltinisches Theater zeigt, dass Protest gegen Kulturkürzung erfolgreich sein kann »Kein schöner Land« – das Spielzeitmotto prangt auf einem riesigen Plakat am Eingang des Anhaltinischen Theaters Dessau. Es wirkt ein wenig selbstironisch, denn Kürzungsszenarios drohen diesen Ort zu einem hässlichen Fleck verkommen zu lassen. Im März hatte die Stadt Dessau-Roßlau angekündigt, die Zuschüsse für das Theater von 2013 an zu halbieren, sodass 3.5 Millionen Euro wegfielen, die weitere 3,5 Millionen an Landesmitteln abzögen. Ein Repertoiretheater wäre damit unmöglich, eine knapp 200-jährige Theatertradition würde ausgelöscht. Intendant Andre Bücker sagte damals: »Dann werden wir eine seelenlose Hülle für fahrende Theatertruppen.«
Die Bürgerinitiative »Land braucht Stadt« kämpft seitdem für das Haus, aber auch für Schwimmbäder, Bibliotheken und Sportvereine, die ebenfalls gefährdet sind. Da solle sich niemand über Abwanderung beschweren, kritisierte Bücker im März und warnte vor einem »Brachland, durch das wohlhabende Touristen fahren, um sich die Weltkulturerbestätten anzusehen.« Davon hat Dessau gleich zwei: die Bauhaus-Meisterhäuser und das Gartenreich Wörlitz. Mit diesem Kulturreichtum sei die Stadt finanziell überfordert, sagt Bücker heute, man versuche jetzt einen Teil der Verantwortung an das Land abzugeben. Er sei zuversichtlich: »Niemand hier will das Theater schließen.«
Man könnte Dessau also vorsichtig als Beispiel dafür anführen, dass die zurzeit allerorten ausgetragenen Kämpfe nicht zwangsläufig böse enden müssen. Als Beispiel dafür, dass die Politik einlenkt, wenn die Bürger ihr kulturelles Erbe verteidigen. Damit schimmert in Dessau auch Hoffnung für die krisengebeutelten Häuser der Region: Gerade wurde ohne Debatte die Schließung des Thalia Theaters Halle beschlossen, das mit mutigen Inszenierungen die Probleme der Region (etwa rechtsradikale Tendenzen in der Fanbewegung »Ultras«) ansprach, und die Insolvenz des Theaters Altenburg-Gera wurde gerade noch abgewendet. In Leipzig könnten durch eine Novelle des sächsischen Kulturraumgesetzes von 2011 an 2,5 Millionen Euro an Landesmitteln wegfallen, mit denen Sachsen die Landesbühnen Radebeul retten will. Das träfe in Leipzig vor allem Oper. Schauspiel und Gewandhaus, jeden Tag werden neue Horrorszenarios verhandelt – von reduzierten Spielplänen bis temporärer Schließung.
Doch in Dessau ein leises Aufatmen. Kein schöner Land – Bücker versteht das Motto schlicht als Liebeserklärung an das Theater als Ort der Arbeit und der Utopie. Und vielleicht ist es diese Leidenschaft, die dem Anhaltinischen Theater die Auszeichnung der Deutschen Bühne für ungewöhnlich überzeugende Theaterarbeit abseits großer Zentren einbrachte. Dabei kennt das Land schönere Orte als diesen schmucklosen Bau aus dem Jahr 1938. zu dessen Geschichte auch der erste Schauprozess der DDR unter Vorsitz von Hilde Benjamin gehört. Jetzt wurde in Dessau die Uraufführung von Doktor Mabuse nach Motiven von Norbert Jacques und Fritz Lang gefeiert. Andre Bückers Inszenierung erreicht zwar nicht ganz den Wahnsinns-Sog von Langs Stummfilm (1922), beweist aber unaufdringlich, dass Doktor Mabuse und seine Opfer Menschen unserer Zeit sind, wie es im Untertitel heißt. Mabuse, das Vorbild aller James-Bond-Schurken, manipuliert Börsenkurse und menschliche Sinne, um seinen Willen durchzusetzen. Das Theater erobert sich in Dessau sein ureigenstes Melier, das Spiel mit Masken und Wahrnehmung, zurück: In einer eindrücklichen Szene erscheint das Ensemble mit Monitoren vor den Gesichtern, und auf den Monitoren zucken menschliche Augenlider. Bückers Regieplan geht auf, und im dekadenten Spielermilieu der 1920er Jahre finden wir die Spaßgesellschaft von heute wieder. Nur als sehnsuchtsvoller Ruf nach »Eitopomar«, einer Inselgesellschaft, geformt nach dem Willen Mabuses, klingt die Utopie des Universalverbrechers an. Für Doktor Mabuse jedoch, dem sich ausgerechnet die begehrte Frau verweigert, kann es kein schönes Land geben.

Helmut Rohm, Zerbster Volksstimme, 19.10.2010

Große Fragen der Menschheit

Norbert Jacques im Roman und Fritz Lang im Film vor allem haben sich bisher dem "Dr. Mabuse" genähert. André Bücker bringt die vielschichtige Persönlichkeit auf die Theaterbühne. Mit eigener Textfassung war die Premiere am Anhaltischen Theater zugleich eine Uraufführung. Kein einfacher Abend, dieses, so der Untertitel, "Spiel mit den Menschen unserer Zeit".

Ein Pistolenschuss beendet das unermüdliche "Sein oder Nichtsein" in dem Souffleurskasten. Ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was ist ein Verbrechen? Wer sind die Verbrecher? 

In einer Mischung aus Prolog auf dem Theater und Stand-Up-Comedy wendet sich Thorsten Köhler (später Diener Hans-Georg Preiss) an das Publikum, "verführt" es zunehmend zum Dialog. Es geht um die große Politik, um Banker-Gebaren, um Rauchen oder Nichtrauchen … 

Es geht auch um Manipulation. Auch das, so André Bücker, ist Mabuse und der ist somit ein Gleichnis auf unsere heutige Welt. Darum geht es dem Dessauer Generalintendanten, wenn er für seine Inszenierung das Mabuse-Bild der ab 1921 erschienenen Romane von Norbert Jacques mit der Gegenwart verknüpft. 

Philosophische Texte, unter anderem von Friedrich Nietzsche, Rüdiger Safranski, Charles Baudelaire, Martin Heidegger und Thomas Morus hat er für seine Textfassung verwendet. Geblieben ist dennoch die Kriminalgeschichte, die auch ein Stück Liebesgeschichte ist – um Mabuse, den nicht wirklich greifbaren Universalverbrecher.

Jacques‘ Staatsanwalt von Wenk ist hier der Kommissar von Eyck (Gerald Fiedler). Illegalem Glücksspiel ist er auf der Spur und später auch einem Mord. Und wird selbst hineingezogen werden, zum Spielen verleitet ...

Eine dunkle Bar hat Jan Steigert in einem veränderbaren großräumigen Bühnenbild gestaltet. Zwielichtig sind die Spieler, denen André Bücker per Videokamera zusätzlich direkt in die Gesichter sehen lässt. Skurril auch äußerlich (Kostüme Katja Schöpfer/Jan Steigert). Masken, Verwandlung … Jede(r), so scheint es, so ist es, verkörpert mehrere Personen in einer. Wer sind die? Immer wieder eine Frage an diesem Abend.

Auch dem Publikum wird viel abverlangt

Und wer ist Mabuse? Im Stück am ehesten der unbeherrschte, machtgierige, maßlose Verbrecher, Spieler, Trinker und Utopist (Uwe Fischer als Cornelius von Link/Wolf Ponary), der dennoch immer Unzufriedene, der Tyrann, der sich nach dem Fanatasieland "Eitopomar" in der Südsee sehnt und vergeblich nach der Gräfin (Katja Fiedler). Der Manipulator, der Hypnotiseur. Faszinierend und erschreckend zugleich die Hypnoseszene, in der er versucht, Lolas (Susanne Hessels) Wissen zum Mord herauszubekommen.

Eine Aufklärung der Verbrechen gibt es nicht. In der Spielhölle geht es weiter. Die Erlösung, nach der sich (nicht nur) Mabuse sehnt, bleibt aus. Nicht der Vater und der Sohn (Jan Kersjes, auch als Spieler und Lolas Geliebter) bringen sie. Nicht die völlige Vernichtung alles Vorhandenen. Das Attentat scheitert an nicht funktionierenden Feuerzeugen.

André Bücker möchte mit seinem heutigen Mabuse auch dies hinterfragen. Ist die Katastrophe, die völlige Zerstörung der Systeme die einzige Chance auf einen Neuanfang für eine sich zunehmend selbst abschaffende Menschheit? Mit seiner fast zweieinhalbstündigen pausenlosen Inszenierung fordert er seine Darsteller, zu denen noch Stephan Korves, Matthieu Svetchine und Sebastian Müller-Stahl gehören, auch konditionell mit viel Auf und Ab auf einer großen Treppe. 

Die Akteure werden gefordert, vor allem aber auch das Publikum vor dem philosophischen, auf die großen Fragen der Menschheit zielenden Ansatz, vom tiefsinnigen Text, der höchste Konzentration verlangt.

Beifall im keineswegs vollen Theater gab es für das Ensemble. Insgesamt fiel er eher verhalten aus.

Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung, 18.10.2010

Menschen im Wechselrahmen
Zum Schluss ist es nur ein banaler Zufall, der den Weltuntergang verhindert: Der Selbstmordattentäter hat den Sprengstoffgürtel schon umgeschnallt, der Molotov-Cocktail ist gemixt - doch dann will das Feuerzeug nicht zünden. Und nach all den Bildern und Klängen, mit denen das Publikum zuvor pausenlos bombardiert wurde, ist es dunkel und still. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben ... So endet eine Zumutung, ein "Spiel mit Menschen unserer Zeit", das André Bücker jetzt am Anhaltischen Theater in Szene gesetzt hat. Sein "Doktor Mabuse", der die Romane von Norbert Jacques und die Filme von Fritz Lang zusammendenkt und um Texte u. a. von Elias Canetti und Charles Baudelaire, Martin Heidegger und Friedrich Nietzsche erweitert, funktioniert nach dem Prinzip Überforderung.
Prinzip der Überforderung
In der kühlen, expressionistisch gerahmten Stadtlandschaft von Jan Steigert werden Worte auf Videos auf Musik gestapelt, Nervosität und Konzentrationsverlust sind Programm. Schließlich ist dies ja auch die Methode des großen Manipulators Mabuse, die Verwirrung der Wahrnehmung schafft ihm den Raum, in dem er die Vernichtung der dekadenten westlichen Zivilisation vorbereitet. Dass das erste Opfer dieses Feldzugs auf dem Theater der Souffleur sein muss, ist von einer bezwingenden Logik. Schließlich bietet er den Schauspielern Halt - und wird deshalb von Mabuses Diener Hans-Georg erschossen, noch ehe sich der Vorhang hebt. Nachdem er so das geraunte "Sein oder Nichtsein" zum Schweigen gebracht hat, verwickelt Thorsten Köhler das Publikum in eine aberwitzige Debatte über das Zeitalter des Relativismus, in dem eben auch das Verbrechen eine Frage der Definition ist. Und schon dieser Hinweis lockt auf eine falsche Fährte - denn Mabuse ist ja eben in allen Handlungen und in seinen Ansprüchen absolut. Mit solchen Stolperfallen ist der ganze Abend gespickt: Immer wieder mäandert die eigentlich lineare Geschichte in abseitige Regionen - und an jeder dieser Kurven besteht die Gefahr, dass der Zuschauer aus der Bahn getragen wird. Manche der Texte kann man nur als jenes weiße Rauschen verstehen, das sich wie Schneegestöber gelegentlich auch optisch über die Szene legt - als Träger von Informationen, die nicht zu entschlüsseln sind. Dass in der lasterhaften Welt der Casinos und Boudoirs auch Identitäten und Geschlechtergrenzen verschwimmen, dass jeder ein Anderer sein kann, erschwert die Wahrnehmung zusätzlich. Nur Mabuse bleibt sich in all seinen Verkleidungen gleich. Uwe Fischer zeigt ihn als überwach tänzelnden und hypnotisch begabten Verführer, der sich schließlich an der scheinbar schwächsten Beute die Zähne ausbeißt - an Katja Sieders hinreißend fragiler und doch mit eisernem Willen begabten Gräfin. Mag ja sein, dass der König der Verbrecher die Welt erobern kann - diese Frau bekommt er nicht. Voll von der Rolle
Die andere, Lola, hingegen hat er längst besessen - und sie geht für ihn ins Gefängnis und schließlich sogar in den Tod. Susanne Hessel spielt dieses somnambule Wesen traumverloren lyrisch, aber auch trotzig aggressiv - eine Gratwanderung, die im befohlenen Suizid einen der schönsten Augenblicke des Stückes provoziert. Ein anderer Höhepunkt ist die gezielte Irreführung des Kommissars (Gerald Fiedler), der vom Verfolger unmerklich zum überforderten Opfer wird - und dem Mabuses Handlanger Harald (Matthieu Svetchine) eine wunderlich skurrile Räuberpistole auftischt. Ist der Croupier in diesem Moment aber wirklich ein Inspektor - und ist Paul (Sebastian Müller-Stahl) nun Henker und Arzt in einer Person? Wie kann es sein, dass Viktor (Jan Kersjes) nach seinem Tod als apokalyptischer Heiliger aufersteht? Und was stürzt den kunstsinnigen Grafen (Stephan Korves) plötzlich in so existenzielle Verzweiflung? Jede dieser Figuren trägt Optionen in sich - und wird von fremder Hand geführt. "Doktor Mabuse" funktioniert im Idealfall als pausenloser Trip, als multimediale Druckbetankung der Sinne. Dafür muss man in Kauf nehmen, dass dieses nach dem Motto "Spiel ist Krieg" geführte Gefecht keine Psychologie kennt, sondern die Figuren archetypisch behauptet. Wer das Theater als moralische Anstalt begreift, wird es hier nur in der Negation erleben - als Ort, der an Ängste rührt und am Ende keine Entwarnung gibt. Das treffendste Bild für die permanente Ungewissheit aber liefern jene digitalen Bildschirme, die den Figuren wie Bretter vor den Kopf gebunden sind ... Menschen im Wechselrahmen. Dafür gibt es am Ende Applaus - und viele ratlose Gesichter.

Alexander Hauer, www.musenblätter.de, 19.10.2010

Gleich zu Beginn stellt André Bücker uns die Frage „Wer ist Mabuse“. Und bleibt uns die Antwort schuldig, oder auch nicht. Denn wir alle sind Mabuse, Opfer und Täter zugleich, Kläger, Beschuldigter und Richter im einem.
Der Abend beginnt mit einem Mord. „Sein oder Nichtsein“ tonlos gesprochen klingt aus dem Off, und ein sichtlich genervter Typ (Thorsten Köhler als Mabuses Killer, Diener und Zofe) in Anzugsjacke und Trainingshose vom Aldi (Kostüme Katja Schröpfer und Jan Steigert), richtet ihn mit coolem Schuss in den Souffleurkasten hin und beginnt dann eine Exkursion über das Verbrechen im Allgemeinen. So beginnt das Spiel um den genialen Verbrecher. Uwe Fischer gibt diesen Geistesmenschen, der am Ende dem Wahnsinn anheimfällt, aber die Gesellschaft mit in den Wahn reißt. Sein Doktor M bleibt sympathisch, faszinierend, trotz aller Abgründe.
Gerald Fiedler ist sein Gegenspieler Kommissar von Eyck. Beide versteigen sich in ihren Wahn und auf der Strecke bleiben viele. Das erste Opfer ist die Tänzerin Hannelore Prezzo. Susanne Hessel lebt dieses Punkgirlie in erschreckender Intensität. Die Abhängigkeit, der Verfall ihres Körpers und ihres Geistes, bedingt durch Koks einerseits und die Ergebenheit, die sexuelle Abhängigkeit von Mabuse gerät zu einer schauspielerischen Großtat. Jan Kersjes als Lolas Liebhaber, und dann später als sein eigener Vater wird ebenso zum Opfer, genau wie Sebastian Müller Stahls Paul, Mabuses dienstfertiger Untergebener, von Bücker als Gummisklave angelegt. Die einzige, die am Ende Mabuse widersteht ist Katja Siedler als Gräfin Fabienne. Scheinbar schwach und verletzlich ist sie diejenige, an der Mabuse letztendlich scheitert.
André Bücker schrieb auf der Folie von Norbert Jacques und Fritz Langs Filmen eine Bühnenadaption des surrealen Stoffes. Angereichert mit Zitaten von Nietzsche, Heidegger und Baudelaire, wirft ein Wortgebirge auf, das kaum zu bewältigen ist. Texte, die kaum zu sprechen sind, verlangen sowohl bei Schauspielern und Publikum höchste Konzentration. Das Bühnenbild, eine von Jan Steigert entworfene, stets wandelnde kalt- anonyme Großstadtlandschaft, überlagert mit Projektionen bietet auch keine Rückzugsmöglichkeit zum Entspannen. Aber soll man sich entspannen? Der 20er Jahre Stoff über den genialen Verbrecher bekommt in unserer Zeit plötzliche Aktualität. Die modernen Verführer, die stets coolen Bankmanager, die sich auch fürs Versagen noch saftige Bonis auszahlen, sind sie soweit von Jacques‘ Mabuse entfernt? In Zeiten der Relativität, und wir leben in einer solchen, sind eben auch Verbrechen, wie in allen anderen Zeiten auch, relativ. Einerseits schwimmen die einen Dagobert Duck gleich im Geld, auf der anderen Seite wissen Hartz IV Empfänger, gegen Monatsende oft nicht, wovon sie leben sollen. Einerseits bekommen Pleitebanken eine Staatsgarantie zum Übertünchen des Versagens nach der anderen, andererseits werden im geringsten Haushaltsposten unserer Republik, der Kultur, hemmungslos die Gelder gestrichen. Aber wie gesagt, Verbrechen ist relativ. Es kommt immer auf den Standpunkt an.
 Nach fast zweieinhalb pausenlosen Stunden scheitert Mabuses Zerstörung der Welt an einem kaputten Feuerzeug. Der Selbstmordattentäter steht bereit, der Molli liegt schon wurfbereit in der Hand, und das Zippo funktioniert nicht. Vorerst! Bücker und sein Team erlösen ein verstörtes Publikum. Ein Gesamtkunstwerk , ein Konglomerat von Text, Bildern und der kongenialen Musik von Daniel Dohmeier, wurde von einem durchaus erschöpften Publikum mit mehr als freundlichem Applaus bedacht. Dieser Mabuse hat nichts mit den 60er Jahren Filmchen zu tun, es ist kein Abend, den man nach der Vorstellung abhakt. Großartiges Theater, das zum Diskutieren und zum Nachdenken zwingt. Auch über uns und unsere Situation.

zu „Die Stumme von Portici (La Muette de Portici)“

Oliver Hohlbach, Operapoint, Heft 3/ 2011

Kurzinhalt
Prinzessin Elvire und Alphonse, Sohn des spanischen Vizekönigs, treffen Heiratsvorbereitungen. Die stumme Fenella erkennt ihn als ihren Verführer. Dies provoziert ihren Bruder, den Fischer Masaniello, einen Aufstand gegen die verhaßte spanische Besatzung anzuführen. Gerade als Masaniello die Kontrolle über den Aufstand zu verlieren droht, suchen Alphonse und Elvire Schutz bei ihm, der nun den Zorn seiner rebellischen Freunde fürchten muß. Sein Freund Pietro sieht in ihm einen Verräter und potentiellen Tyrannen und vergiftet ihn. Alphonse ist es zwischenzeitlich gelungen, Truppen gegen die Revolte zu mobilisieren. Sterbend gelingt es Masaniello, Elvire vor den Rebellen zu retten, Fenella tötet sich verzweifelt selbst. Zum Schluß bricht der Vesuv aus.

Aufführung
Wir befinden uns im Neapel der Gegenwart. Nicht die Spanier haben die Stadt im Würgegriff, sondern die Camorra. Die Anhänger Masaniellos sind schwarz gekleidet und sonnenbebrillt. Die Kämpfe mit dem Gegner erfolgen mit dem Maschinengewehr. Kinder hasten eifrig spielend durch die Kulissen. All das geschieht zwischen Containerhafen und Werft, selbst die Hochzeit zwischen Alphonse und Elvire findet auf der Rückseite eines Schiff-Rohbaus statt - der Vesuvausbruch fällt aus.

Sänger und Orchester
Das Duett zwischen Masaniello und Pietro Die heilige Liebe zum Vaterland und Masaniellos Arie im dritten Akt Laufet zur Rache! Die Waffen, das Feuer! sind nicht nur sehr effektvoll geschrieben, sondern auch eine gewaltige Herausforderung für jeden Tenor. Beides stellte Diego Torre (Masaniello) unter Beweis. Allerdings hatte er damit keinerlei Schwierigkeiten. Leicht und schwerelos, aber mit viel französischer Verve und hoher Durchschlagskraft sang er diese beiden Stücke. Gleiches kann man für den zweiten Tenor Eric Laporte sagen. Seine Auftritte als Alphonse im ersten Akt sind völlig an der Gesangslinie orientiert. Der dritte Tenor Angus Wood als Lorenzo hat zwar nur einige kurze Auftritte, kann aber mit eher dramatischen Ausbrüchen glänzen. Angelina Ruzzafante ist der Koloratursopran des Hauses und gewinnt das Publikum mit ebendiesen Koloraturen als Elvire mit Szenenapplaus - so als wären diese Koloraturen eine ganz einfache Sache. Ulf Paulsen in der leider viel zu kurzen Rolle des Selva kann auch in einer etwas tiefer liegenden Partie mit Ausdruck und kluger Gestaltung überzeugen - als echter Opernbösewicht mit Ausstrahlung. Antony Hermus führt die Anhaltische Philharmonie und diese Produktion auf eine musikalische Entdeckungsreise, die Auber als einen Mitbegründer der Grand Opera mehr als würdigt. Diese musikalische Fülle, die den Zuhörer fast drei Stunden mit französischem Wohlklang und Klangwolken mitreißt, führt hoffentlich zu einer Auber-Wiedergeburt.

Fazit
Ohne Zweifel eine aufsehenerregende Produktion und eine Wiederentdeckung eines wichtigen Beitrages zur Musikgeschichte. Musikalisch mit drei herausragenden Sängern besetzt. Szenisch hat man sich sehr bemüht, hat sehr viel Bewegung auf die Bühne gebracht. Atemberaubend, in welchem Tempo die Bühnen-Arbeiter die Kulissen immer wieder neu zusammenschieben. Eine Revolution entfiel an diesem Abend: auch wenn der Chor zur Pause durch den Zuschauerraum faustschwingend abgezogen ist, so ist das Publikum nicht hinterhergezogen, wie es das bei der Aufführung in Brüssel 1830 gewesen ist. Das Publikum feierte die Produktion lange und stürmisch. Den Besuch einer Vorstellung kann man auf jeden Fall sehr empfehlen.

Herbert Henning, Orpheus, Juli/August 2010

Sehnsucht nach Freiheit

Die Zeit der Grand Opéra ist vorbei. Vielleicht ist dies ja ein Grund dafür, dass die Oper La Muette de Portici von Auber von den Spielplänen nahezu ganz verschwunden ist obwohl sie einst zu den berühmtesten Opern des 19. Jahrhunderts zählte. Vor 52 Jahren war sie das letzte Mal in Dessau zu sehen. Für André Bücker wurde seine emotionsgeladene Inszenierung unter der musikalischen Leitung von Antony Hermus und Chordirektor Helmut Sonne zu einem nicht nur musikalischen Triumph mit einem erstklassigen Sängerensemble, das keinen Vergleich mit großen Opernhäusern zu scheuen braucht. Packendes Musiktheater, das ungemein fesselt und die Geschichte um den Aufstand der Fischer in einem neapolitanischen Fischerort am Fuße des Vesuvs neu erzählt und auf ganz besondere Weise jene politische Dimension des Stückes freilegt, die bei einer Aufführung 1830 in Brüssel eine Revolution einleitete. In dieser monumentalen Inszenierung mit der phänomenal eingesetzten und präzise funktionierenden Bühnenmaschinerie sind Menschen und Maschinen in einer Container-“Landschaft" eines Hafendocks allgegenwärtig. In unaufhörlicher, wie von Geisterhand gesteuerte Verwandlung mit dem auf Videowänden immer präsenten Meer und einer Werftszenerie, die fernab jeglicher Idylle ist, wird in starken Bildern voller Dramatik und Leidenschaft das Geschehen erzählt. Dabei leistet der durch den Coruso-Chor e.V. verstärkte Opernchor mit einer großen Statisterie vereint, musikalisch und darstellerisch Herausragendes. André Bücker gelingt die Gratwanderung zwischen eindrucksvollen, der Grand Opéra ähnlichen Massenszenen und sehr genau gezeichneten individuellen Charakteren der Figuren. Das stumme Mädchen Fenella wird von Gabriella Gilardi mit einer ausdrucksstarken und expressiven Körpersprache getanzt und emotionalisiert die Inszenierung ganz besonders. Es sind vor allem aber die Sänger im Ensemble, die diese Aufführung dominieren und zu einem musikalischen Triumph werden lassen. Allen voran der junge mexikanische Tenor Diego Torre, der mit unglaublicher Energie und sängerischer Präsenz nahezu mühelos die heikle Höhe der Partie das Masaniello meistert. Makellos der Gesang von Eric Laporte als Alphonse und Angelina Ruzzafante als Elvire. Ulf Paulsen und Angus Wood sind die gewalttätigen Handlanger der Camorra. Vor allem Wiard Witholt als nach Rache dürstender Pietro, ungestümer Gefährte des Masaniello, hat sängerisch und darstellerisch Format. Jan Steigert (Bühne) und Christian Schrills (Video) lassen zum Finale den Vesuv flammende Lava speien - Metapher für die unbändige Kraft und Leidenschaft des Volkes, das das Schicksal der Stummen von Portici zum Fanal wider Terror und Gewalt nimmt. Das Leben jenseits von Wohlstand und Freiheit hat nicht zuletzt durch die leidenschaftliche und packende Musizierweise der Anhaltischen Philharmonie in dieser umjubelten Inszenierung ein Gesicht.

Christoph Suhre, Der neue Merker, Juni 2010

Dessau: "LA MUETTE DE PORTICI"

Unter Aubers Vornamen findet sich auch dieser: Esprit. Nur wenige seiner ca. 50 Bühnenwerke sind heute noch bekannt, aber die, die heute hauptsächlich durch CD-Angebote zugänglich sind, eint eines: Diese Musik besitzt Esprit. Der 1782 geborene Komponist galt zunächst als repräsentativer Vertreter der Opéra Comique, die er mit nicht weniger als 34 Stücken belieferte. Ab 1840 etwa war dann seine Annäherung an die ernste Oper zu erkennen. Auffällig ist, dass dabei Aubers Stil keinem größeren Wandel unterworfen war. »La Muette de Portici" wurde 1828 in der Opéra Paris uraufgeführt.

Das Libretto von Eugène Scribe greift einen historischen Vorgang aus dem Jahre 1647 auf Ein Fischer, Masaniello genannt, entfacht in Neapel einen Aufstand gegen die Steuerpolitik der spanischen Besatzungsmacht. Auch wenn die Fischer und Obsthändler Teilerfolge erzielen, scheitert der Aufstand. Zudem bricht auch noch der Vesuv aus. Bühnenwirksamer geht’s nimmer.

Regisseur André Bücker belässt die Handlung am Ort des historischen Geschehens, zeigt uns aber das Neapel der Gegenwart, in dem es bekanntermaßen genügend Zündstoff gibt. Der Camorra obliegt die totale wirtschaftliche Kontrolle der Region. Sie hat kriminelle Strukturen aufgebaut, die über die Bevölkerung und deren Leben bestimmen. Insofern sind die Vorgänge aus dem Jahre 1647 nach wie vor aktuell und brisant.

Das opulente Bühnenbild von Jan Steigert spiegelt Hafenatmosphäre wider, die Kostüme, die Suse Tobisch entwarf, sind zeitgemäß. Videoclips, für die Christian Schrills verantwortlich zeichnet, werden nicht ausgespart. Das Geschehen spielt sich im Wesentlichen in einer Containerlandschaft ab – die Bühnenmaschinerie ist im Totaleinsatz und bis ins Letzte gefordert. In Aubers Oper gibt es große Chortableaus, die André Bücker bühnenwirksam arrangiert, es gibt Ensembles, die orchestersprachliche Feinheiten erfordern, sowie Arien und Duette, die von den Solisten Gesangstechnik, Kantabilität und Emotionalität erfordern. Die Dessauer Aufführung bleibt nichts davon schuldig. Zu lesen ist, dass von dieser Produktion eine DVD erstellt wird. Interessierte Opernbesucher werden dann Gelegenheit haben, ein Werk kennen zu lernen, dass zu Unrecht ein Schattendasein führt. Sie werden aber auch Gelegenheit haben, sich von der großartigen Leistungsfähigkeit des Dessauer Ensembles ein Bild zu machen.

Kurios ist, dass die Vertreterin der Titelpartie zwar permanent präsent ist, aber nichts zu singen hat. André Bücker entschied sich bei der Besetzung dieser Rolle für eine Tänzerin. Gabriella Gilardi verfügt über ein hohes Maß an Körperbeherrschung und Körpersprache und kann dadurch die Befindlichkeiten der stummen Fenella sehr gut zum Ausdruck bringen. Mitunter wirkt sie in ihren Bewegungen etwas abstrakt, aber das muss kein Nachteil sein, denn das Mädchen stößt aufgrund ihres Handicaps an Grenzen. Eine Tenorpartie ersten Ranges ist die des Masaniello. In einer Studioeinspielung drückt immerhin Alfredo Kraus dieser exponierten Partie sein Gütesiegel auf. In Dessau erlebten wir den mexikanischen Tenor Diego Torre als Masaniello. Am Anhaltischen Theater gab er zugleich sein Europadebüt. In den großen Ensembles ist er absolut präsent und wenn er zu Beginn des 4. Aktes seine Kavatine Spectacle affreux singt, dürfte auch der letzte Zuschauer zu der Erkenntnis gelangt sein, dass wir es hier mit einer Tenorstimme zu tun haben, die zu ganz großen Hoffnungen berechtigt. Der sympathische Sänger verfügt über eine Stimme, die über Glanz und Elastizität, Expressivität und Innigkeit, Klang und Volumen verfügt.

Mit Oscar de la Torre hatte man für die Partie des Alphonse einen weiteren mexikanischen Tenor verpflichtet. Alphonse ist in der Vorlage der Sohn des spanischen Vizekönigs, in der Lesart von André Bücker Capo eines Clans. Auch dieser Sänger weiß zu begeistern, erleben wir doch in seinem Gesangspart viele Verzierungen, die an Rossini erinnern und Leichtigkeit, Höhe und Atem erfordern. Oscar de la Torre stellt sich souverän diesen Anforderungen.

Neben der Fenella ist die Elvire eine weitere zentrale Frauengestalt der Oper. Sie ist Alphonses Braut und wird durch dessen skrupelloses Tun und Lassen in unterschiedlichste Konfliktsituationen gestoßen. Das alles wird natürlich auch musikalisch untersetzt und erfordert von der Rollenvertreterin entsprechende gesangliche und darstellerische Mittel. Bei Angelina Ruzzafante ist diese Partie bestens aufgehoben. Einerseits setzt sie zarte, berührende Piani in den Raum, anderseits trumpft sie in den großen Ensembles eindrucksvoll auf, ohne dabei schrill zu klingen oder zu forcieren.

Wiard Witholt beeindruckt mit gut geführter und kerniger Stimme als Pietro. Zunächst begegnen wir ihm als wahrem Freund Masaniellos. Später wendet er sich von ihm ab und vergiftet ihn gar. Wiard Witholt gestaltet diesen Wechsel absolut überzeugend.

Obwohl Ulf Paulsen in dieser Oper eine relativ kleine Rolle zu gestalten hat, kann man sich ihm weder vokal noch darstellerisch entziehen. Er ist ein Verbündeter Alpbonses und damit Drahtzieher düsterer Machenschaften. Kostadin Aguirov als Borella, Angus Wood als Vertraute Alfonses und Stephan Biener als Moreno runden ein absolut intaktes Ensemble ab.

Mit Umsicht und Esprit wurde das Ensemble von Antony Hermus am Pult der engagiert spielenden Anhaltischen Philharmonie trefflich unterstützt. Der Dirigent weiß um die Schönheiten der packenden Musik und lässt sie deshalb entsprechend nuanciert und facettenreich erklingen. Ein Genuss! Der Opernchor des Anhaltischen Theaters wurde durch Mitglieder des Coruso Chores aus Berlin klangvoll unterstützt. Die Chorleitung oblag Helmut Sonne. Das konnte sich hören und sehen lassen. Ein Extralob verdienen auch die Mitglieder des Kinderballetts des Theaters, die in der Choreografie von Gabriella Gilardi die Intentionen des Regieteams wirkungsvoll unterstützten. Das Beispiel Dessau in Bezug auf Auber sollte Schule machen. Es lohnt sich!

Stefan Mauß, Opernglas, Juni2010

La Muette de Portici

Wenn ein privater Fernsehsender eine Show mit dem Titel "Die verrücktesten Opern" ausstrahlen würde, hätte Daniel Francois-Esprit Aubers »Die Stumme von Portici« ohne Zweifel Chancen auf den Gesamtsieg. Das 1828 in Paris uraufgeführte Stück hat eine Titelheldin, die überhaupt nicht singt und zudem den ungewöhnlichsten Opern-Tod sterben muss: Sie stürzt sich in die Lavamassen des ausbrechenden Vesuvs. Bekannt ist es aber bis heute durch einen anderen Umstand: Es löste im Jahr 1830 in Brüssel die Revolution aus und führte damit zur Gründung Belgiens. So dürfte »Die Stumme« wohl auch die einzige Oper sein, die nachhaltig Weltpolitik gemacht hat.

In den letzten Jahrzehnten ist es allerdings ruhig um dieses unruhige Werk geworden, das über 100 Jahre lang ein verlässlicher Publikumsknüller in den Spielplänen der großen europäischen Opernhäuser gewesen ist und das Genre der "Grand Opera" begründet hatte. Allerdings fordert es als solche auch einen enormen musikalischen und szenischen Aufwand und ist aus heutiger Sicht sicher nur beschränkt "regietheaterkompatibel", wenngleich der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull einige Tage vor der Premiere dem Stoff zumindest eine überraschende Aktualität verliehen hat.

Eugene Scribe ließ sein Original-Libretto im spanisch besetzten Neapel von 1647 spielen. Dort liebt Alphonse, Sohn des Vize-Königs, Fenella, die stumme Schwester des Fischers Masaniello, muss aber aus Gründen der Staatsräson Elvire heiraten. Masaniello will die Ehre seiner Schwester rächen und gleichzeitig einen Aufstand gegen die verhassten Spanier organisieren, der zunächst erfolgreich beginnt. Als Masaniello dem Morden aber doch ein Ende bereiten will, wird er vergiftet. Leider etwas zu früh, denn das Volk will sich nur von ihm in die letzte Schlacht gegen die Spanier führen lassen. Masaniello kann vor seinem Tod aber noch Alphonse und Elvire retten, seine stumme Schwester stürzt sich jedoch verzweifelt in den Tod.

In Dessau hatte man seit der dortigen Erstaufführung 1830 nie Angst vor diesem gewaltigen und gewalttätigen Stoff, was die insgesamt sechs (!) Neuinszenierungen der Oper zeigen. Die letzte fand zu DDR-Zeiten 1958 statt und wurde politisch etwas frisiert: Weil eine scheiternde Revolution schlecht passte, wurden kurzerhand Tod und Vesuv gestrichen, und Fenella zog mit Masaniello mit fliegenden Fahnen in die Revolution. Derartig entstellende Eingriffe hatte Dessaus regieführender Intendant André Bücker nicht nötig, vor allem weil eine sehr tragfähige Idee das Werk in unsere Zeit transferierte. Dabei musste er lediglich die Camorra zu den Besatzern der Stadt Neapel machen. Und dieser Kunstgriff funktionierte fantastisch. Schon der Beginn zeigte mit Containern voll Schmuggelware und Bergen von Müllsäcken gleich sehr bildlich, dass es heute in Süditalien nicht mehr die friedlichen Fischer sind, denen die Häfen gehören. Eine Camorra-Jacht im Rohbau sowie geschickt eingebaute Video-Projektionen komplettieren das flexible Bühnenbild von Jan Steigert. Suse Tobischs in jeder Hinsicht farbigen Kostüme fügten sich perfekt in diese Szene, wenngleich manches doch etwas zu schrillbunt wirkte. Wenn eine Fischmarktfrau etwa keine Waffe, sondern einen Plastikhummer revolutionär in den Himmel streckt, wirkt das doch etwas zu billig. Aber auch in dieser Inszenierung ist die Revolution letztendlich eine Utopie: Nach dem Vulkanausbruch bleibt in seinem Rollstuhl satanisch lachend der Pate zurück. Gewalt und Unterdrückung überleben selbst Naturkatastrophen. Dem Regisseur gelingt es ausgezeichnet, die Handlungsstränge des Stückes sichtbar zu machen, ohne den untauglichen Versuch gestartet zu haben, der Oper einen ideologischen Überbau zu verpassen, den diese schlichtweg nicht besitzt. Auber hat sehr professionell und geschickt ein Werk geschrieben, das Opernunterhaltung auf hohem Niveau bietet - nicht mehr aber eben auch nicht weniger. Und diese Mischung aus Sex and Crime funktioniert auch beim heutigen Publikum noch.

Die Partitur zielt dabei musikalisch nicht auf Experimentelles ab, da waren Aubers Zeitgenossen schon viel weiter, wenn man sich vor Augen führt, dass Webers »Freischütz« sieben Jahre vor der »Stummen« das Licht der Opernbühne erblickt hat. Dennoch ist die Partitur sehr geschickt konzipiert und darin musikalische Formen wie Tarantella, Guarache, Barcarole oder Bolero verarbeitet, um der durch und durch französischen Tonsprache italienische und spanische Exotizismen einzuflechten. Die Ensemblekunst Aubers vermag auch heute noch restlos zu begeistern, während manche Arien doch eher wie Meterware daher kommen. Man kann nachvollziehen, dass diese Oper im 19. Jahrhundert einer der Blockbuster der europäischen Spielpläne war.

Bei GMD Antony Hermus lag die Musik in den allerbesten Händen. Schon im Vorspiel entfachte er ein musikalisches Feuer, nicht zuletzt durch die sehr sicher spielende und rhythmisch sehr präzise agierende Anhaltische Philharmonie am Lodern halten wurde. Hermus gelang es grandios, die Klangmassen im Graben und auf der Bühne zu koordinieren, dabei war er nicht nur dem gut einstudierten Chor (Helmut Sonne) eine große Stütze, sondern er nahm die Orchesterfluten auch augenblicklich zurück, sobald er merkte, dass einer der Solisten in dynamische Nöte geriet. Das Solistenensemble war allerdings nicht nur sehr gut ausgewählt, es harmonierte, beziehungsweise kontrastierte (Tenorpartien) hervorragend miteinander. Primus inter Pares war der mexikanische Tenor Diego Torre als Masaniello. Der Domingo-Zögling war in Los Angeles schon als Don José und Bacchus zu hören und steht bereits für kleinere Partien auch in der Met auf der Bühne. Für sein Europadebüt hatte er sich eine sehr fordernde Partie ausgesucht, die er mit Bravour bewältigte. Torres Tenor verfügt über nahezu endlose Kraftreserven und spricht in der Höhe tadellos an - und die Höhe ist hier sehr häufig oberhalb des hohen "A" gefordert. Der Registerwechsel ist manchmal noch etwas ruppig und die Mittellage etwas ungleichmäßig in der Klangqualität, unterm Strich aber ist das ein Tenor, der ohne jeden Zweifel bald an größeren Häusern auch in Europa seinen Platz finden wird.

Mit Angelina Ruzzafante hatte er eine EIvire zur Seite, die sängerisch durchaus mithalten konnte. Ihr warmer Sopran sprach in allen Lagen gut an und stellte sich auch den sehr anspruchsvollen Koloraturen und Septsprüngen der Auftrittsarie erfolgreich. Eric Laportes eleganter, nicht sehr großer, aber sicher und kontrolliert geführter Tenor passte perfekt zum Sohn des Vizekönigs und kontrastierte damit hervorragend mit dem schweren Tenor seines Gegenspielers.

Auch die kleineren Rollen waren sehr gut besetzt. Wiard Witholt als Masaniellos Freund und späterer Mörder Pietro blieb dabei besonders im Ohr. Witholt verfügte nicht nur über die benötigte dunkle Klangfarbe für diesen Charakter, sondern zudem auch über eine bombensichere Höhe, die es ihm ermöglichte, auch noch die Barcarole im 5. Akt zu bewältigen, die dem Sänger einiges an Fiorituren und großen Intervallsprüngen abverlangt. Den größten Applaus des Abends erhielt aber jemand, der gar nicht gesungen hatte: Gabriella Gilardi als stumme Fenella hatte mit bewegendem tänzerischen Ausdruck die Seelenqualen der betrogenen (und zum Schluss auch noch schwangeren) Fischerstochter auch ohne jeden Ton berührend dargestellt.

Renate Freyeisen, Radiobeitrag für Radio Opera, 04.05.2010

Was für eine mitreißende Musik, Aubers „Die Stumme von Portici“! Aber warum erklingt sie heute so selten auf der Opernbühne? Diese Frage stellte sich mancher begeisterte Besucher nach der umjubelten Premiere im Anhaltischen Theater in Dessau. Dass „Die Stumme von Portici“ im 19. Jahrhundert eines der am meisten gespielten Musikdramen war, dass die Melodien und Chöre geradezu in die Beine fahren, fast zum Mitsingen auffordern, wurde dem Publikum an diesem rundum geglückten Abend deutlich.

Doch der Komponist ist heutzutage nahezu vergessen. Dabei war Daniel Francois Esprit Auber (1782-1871) einer der erfolgreichsten und produktivsten Komponisten zu seiner Zeit in Paris; er schrieb bis ins hohe Alter über 50 Opern, er prägte die Grand Opéra und die Opéra comique. Wagner bewunderte ihn, pries ihn in den höchsten Tönen. Doch warum wird dieser Auber, Nachfolger von Cherubini am Pariser Konservatorium, heute so wenig aufgeführt, warum ist er einigen wenigen nur durch die schmissige Ouvertüre zu eben jener „Stummen“ oder durch die komische Oper „Frau Diavolo“ bekannt? Möglicherweise war ein Grund, dass in Zeiten der Schallplatte und Tonträger diese durchkomponierte Musik für die gefeierten Sänger-Stars weniger Gelegenheit bot, sich in glanzvollen Arien zu präsentieren. Möglicherweise waren aber auch die vielen Chöre und Volksszenen für manche Häuser nicht so leicht zu realisieren. Immerhin sollte man sich an die Wirkungsgeschichte der „Stummen von Portici“ erinnern: nach ihrer triumphalen Uraufführung in Paris 1828 war die Oper im August 1830 der zündende Funke in Brüssel, sich von den Niederlanden loszusagen; sie war für die Revolution der Belgier von ausschlaggebender Bedeutung.

Vor allem das Duett Masaniello-Pietro , der Aufruf zum Umsturz im Finale des 2. Akts schufen eine aufwiegelnde Stimmung. Auch 1848 bei einer Aufführung in Frankfurt forderte das Publikum, dass nach dem Tod der Fenella die „Marseillaise“ gespielt wurde. Diese Oper besitzt also eine innere Dramatik, einen am Schluss geradezu explodierenden Spannungsbogen, der sich auch bildlich im Ausbruch des Vesuv entlädt. Eine psychologische Entwicklung der Personen findet nicht statt, der tragische Konflikt verschärft sich vielmehr drastisch bis zur Katastrophe. Auch die lebendige Handlung mit den vielen Volksszenen unterstützt diese packende Wirkung. Der Stoff selbst bietet auch alle Voraussetzungen für hochdramatische Effekte. Er fußt, wie viele Werke der Grand Opéra, auf einem historischen Ereignis, auf dem Aufstand der Fischer von Neapel 1647 gegen die spanische Fremdherrschaft. Unter der unerträglichen Belastung durch allzu hohe Steuern stöhnte das Volk; Tommaso Aniello, genannt Masaniello, rief die Bevölkerung zum Widerstand auf, der spanische Herzog wurde vertrieben, Masaniello zum Generalkapitän ernennt; er saß Gericht, und bei den vielen Todesurteilen rollten auch die Köpfe einfacher Leute. Doch am 6. Tag des Aufstands kam auf Vermittlung des Erzbischofs eine Art Friedensvertrag zustande. Masaniello wurde wahnsinnig, das Volk stellte sich gegen ihn, Beauftragte der Spanier töteten ihn. Zwar wurde er in allen Ehren beigesetzt, doch Neapels Unabhängigkeitsbewegung war gescheitert. So weit der geschichtliche Hintergrund.

Aubers Librettist Eugène Scribe schuf daraus zusammen mit Germain Delavigne ein unterhaltsames, spannendes Historiendrama. Doch die Inszenierung des Dessauer Intendanten André Bücker versetzte die Handlung in das Neapel der Gegenwart, machte daraus einen Konflikt zwischen den ausgebeuteten Dockarbeitern und der Mafia. Ein geschickter Schachzug. Also sah man auf der Bühne von Jan Steigert immer wieder Container, Videos vom Meer, von Müllbergen, von Hebekränen, von Schiffszeichen, hörte Möwengeschrei, Wellenrauschen und vermeinte die Hafenatmosphäre hautnah zu spüren. Suse Tobisch hatte das Volk in bunte, heutige Kleidung gesteckt, die Mafiosi natürlich in schwarzes Leder, dekoriert mit Sonnenbrillen, öfter schussbereit mit Pistolen und Kalaschnikoff; der Padrone saß als stumme Drohung im Rollstuhl. Manchmal aber ging die Detailverliebtheit der Ausstattung zu weit: Da bewaffneten sich die wehrlosen Arbeiter mit Äxten, Motorsägen und allerlei Werkzeug; ein Plastik-Hummer mit seinen Scheren wirkt dabei aber lächerlich. Auch die Marktszene mit dem aufgehängten Schwertfisch zeugt nicht unbedingt von Kenntnis heutiger Fangergebnisse im Golf von Neapel. Dass eine Schwangere sich unters Volk mischt, die später mit Kinderwagen und Babytrage erscheint, zeigt Freude am Lokalkolorit und soll die lebensechte Handlung unterstreichen, ebenso wie Pizza-Essen oder Fotografieren mit dem Handy. Auch der ganze kitschige Pomp einer süditalienischen Hochzeit passt. Ob allerdings beim andächtigen Gebet an Gott unbedingt eine Heiligenfigur per Kran herabgelassen werden muss, ist fraglich. Störend auch, dass schon in der Ouvertüre die Kinder, die später bei der Hochzeit Blumen streuen, herumhopsen müssen.

Dieses einzig bekannte, mitreißende Eröffnungsstück der Oper Aubers ließ Antony Hermus mit der nötigen dramatischen Wucht, kraftvoll, aber auch mit federnder Leichtigkeit von der Anhaltischen Philharmonie musizieren. Sein Dirigat ging gut auf die Sänger ein und auf die Chöre, die durch Textverständlichkeit – immerhin wurde auf Französisch gesungen -, durch die nötige Durchsichtigkeit, feinste Piani, strahlende Steigerungsmöglichkeiten und rund geschliffenen Klang aufhorchen ließen. Und dazu waren sie ständig in Bewegung.

Wie in der Uraufführung war die Stumme, die unglückliche, von Alfonso – hier Spross eines Mafiabosses – geschwängerte Fenella, einer Tänzerin anvertraut. Gabriella Gilardi gestaltete sie ausdrucksstark, geschmeidig, mit abstrakten, ästhetischen Bewegungen zur orchestralen Thematik; leider aber waren viele ihrer Tanz-Aussagen dadurch wenig verständlich, denn es fehlte hier ein wenig an der pantomimischen Verdeutlichung, auch wenn ihre Verzweiflung am Schluss spürbar wird. Dass sie sich in Alfonso verliebt haben soll, wird eigentlich nicht so ganz einsichtig. Denn Eric Laporte agierte eher unbeweglich, konnte kaum vermitteln, dass er eine starke Zuneigung zu Fenella gefasst hat. Aber er sang sehr sicher, wenn auch nicht allzu strahlkräftig. Ebenso ordentlich Angus Wood als sein Vertrauter Lorenzo. Dagegen konnte Ulf Paulsen als Ober-Mafioso Selva stimmlich wie darstellerisch als düstere Macht überzeugen.

Glänzend und viel bejubelt als Masaniello der mexikanische Tenor Diego Torre; von seiner kompakten Gestalt her und im Trikot ganz Mann des Volkes, schmetterte er dynamisch strahlend mit seiner hellen, in den Höhen tragfähigen Stimme seine Barcarolen und Duette. Sein Freund und späterer Gegenspieler Pietro, Wiard Witholt, verfügte über einen angenehmen, nicht allzu dunklen Bariton. Ein Glanzstück der beiden war unbestritten das Rache-Duett. Star des Abends aber war Angelika Ruzzafante als Elvira: Einerseits spielte sie die gekränkte Braut von Alfonfo, versöhnt sich aber notgedrungen mit ihm, sichtbar daran, dass sie ihm ein Glas Sekt über den Kopf schüttet, um dann in die arrangierte Ehe einzuwilligen. Vor allem sängerisch bot die Sopranistin aus den Niederlanden eine Glanzleistung: Schon in der Arie des 1. Aktes leuchtete ihre Stimme ohne jegliche Härten, bewältigte Höhen und Verzierungen leicht, locker und sicher, ließ später auch ergreifende Traurigkeit spüren und unternahm mit einschmeichelnden Färbungen den Versuch, die arme Fenella zu unterstützen. Alles aber war umsonst: Der Vesuv bricht aus (per Video), der Aufstand los, Masaniello wird vergiftet und stirbt, Fenella bringt sich um, die Revolution ist gescheitert und das Volk fleht am Schluss, es vor der Rache der Sieger zu bewahren. Ein mitreißender, überzeugender Opernabend und ein Plädoyer dafür, Auber bitteschön öfter aufzuführen!

Udo Pacolt, der-neue-merker.eu, 3.5.2010

http://www.der-neue-merker.eu
Revolutionsoper in Dessau: „Die Stumme von Portici“ von Auber (Vorstellung: 2. 5.2010)
Im Anhaltischen Theater Dessau steht zurzeit die selten gespielte Revolutionsoper „Die Stumme von Portici“ von Daniel-François-Esprit Auber in französischer Sprache (mit deutschen Übertiteln) auf dem Programm, die nach einer Aufführung in Brüssel am 25. August 1830 so starke revolutionäre Impulse gegen die Fremdherrschaft der Niederländer setzte, dass es zur Gründung des Staates Belgien kam. Als während der Einführung zur Oper am 2. Mai auf diese historisch belegte Tatsache hingewiesen wurde, winkte ein Zuhörer mit einer belgischen Flagge und nach dem „Revolutionsduett“ von Masaniello und Pietro im 2. Akt schwenkten auf dem Rang sogar einige Zuschauer kleine belgische Fahnen!
„La muette de Portici“ („Die Stumme von Portici“) wurde 1828 in Paris uraufgeführt – der Text stammt von Eugène Scribe und Germain Delavigne – und war damals nicht zuletzt wegen der aufwendigen Inszenierung und der historisch getreuen Kostüme und Kulissen eine Sensation. In Deutschland war das Werk vor allem an der Berliner Hofoper sehr erfolgreich, wo es ab 1829 bis zum Jahrhundertende 285 Mal gespielt wurde!
Die Handlung der fünfaktigen Oper, die 1647 in Neapel und Portici spielt, in geraffter Form: Alphonse, Sohn des Vizekönigs von Neapel, quält vor seiner Hochzeit mit Elvire Gewissensbisse, weil er einst das stumme Fischermädchen Fenella verführt hat, das dann von seinem Vater in den Kerker geworfen wurde. Unmittelbar vor der Hochzeitszeremonie gelingt es Fenella, aus dem Gefängnis zu fliehen und bei Elvira Schutz zu suchen. Als sie in dem Bräutigam ihren einstigen Geliebten erkennt und ihn mit beredten Gesten als ihren Verführer vor aller Augen anklagt, kann sie im Schutz der Neapolitaner vor den Soldaten fliehen. – Am Strand von Portici erfährt Masaniello von seinem Freund Pietro, dass die spanischen Soldaten des Vizekönigs seine Schwester Fenella verschleppt haben. Beide schwören Rache. Da erblickt Masaniello Fenella, die sich aus Gram über Alphonses Verrat ins Meer stürzen will. Was sie ihm nach ihrer Rettung stumm zu verstehen gibt, schürt Masaniellos Hass. Er ruft die Fischer zur Revolte gegen die Willkür und Tyrannei des Vizekönigs auf. – Elvire und Alphonse versöhnen sich. Als Selva, der Offizier der Leibwache, Fenella erneut zu verhaften versucht, gibt Masaniello das lang erwartete Zeichen zum Aufstand und bittet Gott um Beistand für die Aufständischen. – Masaniello ist über die blutigen Ausschreitungen gegen die Spanier erschüttert. Alphonse und Elvire verschlägt es auf ihrer Flucht aus Neapel in Masaniellos Fischerhütte. Im Zwiespalt ihrer Gefühle entscheiden sich Masaniello und Fenella, den Flüchtigen zu helfen. In den Augen der Fischer wird dadurch Masaniello zum Verräter. Während eine Delegation Neapels Masaniello huldigt, beschließt Pietro mit den Seinen Masaniellos Tod. – Pietro hat Masaniello ein langsam wirkendes Gift verabreicht, das zum Wahnsinn führt. Als Masaniello die Neapolitaner im Kampf gegen den zurückgekehrten Alphonse anführt, wird das offensichtlich. Fenellas drastische Schilderung der Schrecken, die von den Spaniern angerichtet werden, lässt ihn dennoch an der Spitze seiner Leute in den Kampf ziehen, wobei ein Ausbruch des Vesuvs den schaurigen Hintergrund bildet. Die auf der Flucht befindliche Elvire versucht Fenella zu überzeugen, ihr zu folgen. Von Alphonse erfährt Fenella, dass Masaniello bei dem Versuch, Elvire zu schützen, von seinen eigenen Gefolgsleuten umgebracht wurde, worauf sich Fenella aus Verzweiflung tötet.
Alphonse, Elvire und Fenella sind erfundene Figuren, wobei das literarische Vorbild für sie in Walter Scotts Peveril of the Peak aus dem Jahr 1823 zu finden ist. Die pantomimisch dargestellte Titelfigur, die einst von berühmten Primaballerinen wie Maria Taglioni und Fanny Elßler dargestellt wurde, ähnelt der Silvana aus Webers gleichnamiger Oper. Masaniello, 1620 in Neapel geboren, hieß in Wirklichkeit Tommaso Aniello. Als Anführer des Aufstandes 1647 gegen die spanische Regierung in Neapel ging er in die Geschichte ein.
André Bücker verlegte die Handlung der Oper in die heutige Zeit, wobei die Fischer ihrem Tagewerk auf der Werft nachgehen, die Besetzer Neapels Mafiosi sind und der Vizekönig ein Pate der Camorra ist, der im Rollstuhl sitzt. Dass die Mafiosi allesamt mit Gewehren bewaffnet sind und Alphonse mit einem Revolver, passt in diese Inszenierung. Als sich die „Verschwörer“ auf dem Markt von Portici versammeln, kommen deren Frauen gerade vom Shopping und zeigen einander ihre Einkäufe. In jeder Szene stolpern die Darsteller über nicht geleerte Müllsäcke – wohl eine Anspielung auf die hygienischen Zustände vor einigen Monaten in Neapel, wo es durch die wirtschaftliche Kontrolle der Camorra keine demokratische Rechtsordnung gibt, sondern eher besatzungsähnliche Zustände herrschen. Das Bühnenbild von Jan Steigert vermittelte mit den Containern, die für die jeweilige Szene umgestellt werden konnten, die Atmosphäre einer Werft in einer Stadt am Meer ebenso wie die dazu passenden Videos von Christian Schrills und die über Lautsprecher tönenden Möwenlaute. Die auf die jetzige Zeit abgestimmten Kostüme stammen von Suse Tobisch. Mit mächtiger metallischer Tenorstimme sang der Mexikaner Diego Torre, der in Dessau sein Europadebüt gibt, den Masaniello. Leider legte er zu viel Kraft in seine Stimme, wodurch er zwar manchmal sogar den stimmgewaltigen Chor übertönte, aber auch an seine Grenzen stieß. Der Tenor Eric Laporte als Alphonse und die Sopranistin Angelina Ruzzafante als Elvire gaben stimmlich und darstellerisch ein ideales Paar. Von den Gefährten Masaniellos überzeugten der Bass Wiard Witholt als Pietro und der Bariton Kostadin Aguirov als Borella sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch. Die Titelrolle wurde von der Solotänzerin Gabriella Gilardi mit ausdrucksstarken Gesten, Sprüngen und Bewegungen blendend gespielt. Als Leiterin des kürzlich gegründeten Kinderballetts am Anhaltischen Theater gelang es ihr auch, immer wieder ihre Schützlinge in verschiedenen Szenen zu präsentieren. Der Opernchor des Anhaltischen Theaters (Leitung: Helmut Sonne) erfüllte seine in dieser Oper tragende Funktion voll und ganz und agierte sowohl als neapolitanisches Volk und als Werftarbeiter wie auch als Revolutionäre auf beeindruckende Weise. An Stimmkraft fehlte es ihm keinesfalls, nur schien die Personenführung in manchen Szenen zu kurz gekommen zu sein. Die mit südländischem Kolorit, dramatischen Ensembles und Chorszenen versehene Partitur Aubers wurde von der Anhaltischen Philharmonie unter der Leitung von Antony Hermus – er ist seit 2009 Generalmusikdirektor des Anhaltischen Theaters – packend und mitreißend wiedergegeben. Wenn auch manches an der Inszenierung missfiel, an der musikalischen Qualität des Abends konnte man seine Freude haben! Die unkonventionelle musikalische Gestaltung der Oper „La muette de Portici“ bezeichnete übrigens Richard Wagner als „heiß bis zum Brennen, unterhaltend bis zum Hineinbeißen“. Und in seinen Erinnerungen an Auber schrieb er u. a.: „Wie dem Sujet am Schrecklichsten, aber auch am Zartesten nichts fehlte, so ließ Auber seine Musik jeden Kontrast, jede Mischung in Konturen und in einem Kolorit von so drastischer Deutlichkeit ausführen, dass man sich nicht entsinnen konnte, eben diese Deutlichkeit je so greifbar wahrgenommen zu haben.“
Das Publikum in Dessau, das schon nach dem 2. Akt in frenetischen Beifall verfallen war, feierte am Schluss der Vorstellung das gesamte Ensemble, den Chor, den Dirigenten und das Orchester mit minutenlangem, nicht enden wollendem Applaus! Bravorufe gab es für Diego Torre, die Tänzerin Gabriella Gilardi und die Anhaltische Philharmonie, die unter Antony Hermus groß aufgespielt hatte.

Manuel Brug, welt online, 26. April 2010

Der Theatertrotz von Dessau
Jetzt erst Recht. Im Dessauer Theater kontert die neue, mit Intendant André Bücker angetretene Mannschaft durch Qualität. Schließlich gilt es, sich gegen die Streichliste des Bürgermeisters zu stellen, der der verschuldeten, zudem schrumpfenden Stadt weitere Kürzungen zumutet. Um 3,5 Millionen sollen kommunale Zuschüsse für die Anhaltische Bühne verringert werden. Sie gibt es seit 215 Jahren, momentan bekommt sie 15 Millionen Euro Subvention.
Und spielt jetzt - eindrucksvoll - Aubers Grand Opéra "Die Stumme von Portici". Das war eine der berühmtesten Opern des 19. Jahrhunderts, selbst in Dessau liegt Auber bis heute - nach Wagner, Verdi, Mozart, Lortzing, und Puccini- auf Platz sechs der Aufführungsstatistik. Obwohl das Werk um einen Prinzen, der ein stummes Fischermädchen schändet und damit einen Aufstand auslöst, seit dem Krieg erst zum fünften Mal in Deutschland gegeben wird. Aus der ganzen Republik haben sich zu dieser Rarität Opernfreaks angesagt, sogar aus Brüssel, wo diese Oper 1830 die Revolution einleitete, kommt ein Bus.
Sie alle werden nicht enttäuscht werden. Bücker hat bei seiner ersten Opernregie wenig für Personenführung übrig, setzt auf den Trashfaktor von Werftcontainern, die die "Stumme" nicht ungeschickt in eine Mafia-Geschichte umdeuten. Musikalisch muss sich Dessau nicht hinter Stuttgart oder Hamburg verstecken. Die Sänger sind exzellent, angeführt vom mexikanischen Tenor Diego Torre (30). Der gibt sein Europadebüt, eine größere Karriere deutet sich an. Wenn es solche Häuser nicht mehr gibt, wenn sich Sänger nicht ausprobieren können, dann stirbt die Oper. Langsam, aber sicher.

Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung, 26.04.2010

Menschen in der Maschine
Das Fischer-Idyll mit den kleinen Holzbooten und den handgeknüpften Netzen ist längst verschwunden, am Fuße des Vulkans hat sich ein moderner Container-Hafen angesiedelt. Wie von Geisterhand werden hier gigantische Metallkisten bewegt, die Choreografie dieses globalisierten Umschlagplatzes bleibt dem Außenstehenden ein Rätsel.
Und auch die Menschen sind ihrer Arbeit und sich selbst entfremdet - ein Haufen von Tagelöhnern, der sich dem Diktat einer mafiösen Macht beugt. Eine Revolution muss her! Und Masaniello soll sie führen...
Fesselndes Musiktheater
Man darf sich nach der umjubelten Premiere von Daniel Francois Esprit Aubers "La Muette di Portici" am Anhaltischen Theater fragen, warum seit der letzten Dessauer Aufführung dieser Oper 52 Jahre vergehen mussten. Dass die Gründe nicht in der musikalischen Qualität zu suchen sind, steht nach diesem großen Abend jedenfalls fest. Denn was die Anhaltische Philharmonie unter ihrem Generalmusikdirektor Antony Hermus hier präsentiert, ist ein ungemein suggestives und fesselndes Musiktheater, das die Inszenierung von André Bücker in jedem Augenblick beglaubigt: Wenn diese gewaltige Maschinerie einmal angelaufen ist, lässt sie sich bis zum bitteren Ende nicht mehr stoppen. Und dass das Schöne dabei dicht beim Schrecklichen liegt, dass das Gebet unmittelbar in den Schlachtruf mündet, steigert die Faszination dieses Werkes zusätzlich.
Mit seinem Bühnenbildner Jan Steigert und mit seiner Kostümbildnerin Suse Tobisch verdichtet Bücker die Milieus und verwischt so die historischen Standesgrenzen: Wenn sich die Hochzeitsgesellschaft am Hofe des Vizekönigs von Neapel aus denselben Unterdrückten rekrutiert, die wenig später gegen diesen Herrscher aufbegehren, dann ist deren Not nicht mehr gänzlich unverschuldet.
Man blickt vielmehr auf das System der Camorra, deren Macht sich auch der schweigenden Duldung durch ihre Opfer verdankt. Dass sie sich freilich mit Vorliebe an den Schwächsten vergreift, zeigt sich bereits in der Ouvertüre, in der Selva und seine Schergen ein Kind als Geisel nehmen, um Fenella in ihre Gewalt zu bekommen. Diese Rolle ist der Geniestreich des Autors - eine stumme Titelheldin in einer Oper, die ansonsten von Chören und Tenören dominiert wird. Gabriella Gilardi tanzt die Partie mit großer Expressivität, ihre Körpersprache ist so beredt und beseelt wie der Gesang ihrer Partner und Gegner. Dass ihr mit dem jungen Mexikaner Diego Torre ein Bruder zur Seite steht, dessen schier unerschöpfliche Kraft mit einer wunderbar klaren Höhe korrespondiert, bildet den besten Kontrast - hier ist ein Tenor zu bewundern, der schon bald in den Metropolen für Furore sorgen dürfte. Ensemble auf höchstem Niveau Und weil sich alle anderen Solisten an dieser Norm orientieren, erlebt man eine Besetzung im Superlativ: Eric Laporte ist als Alphonse so souverän wie Angelina Ruzzafante als seine Braut Elvire, Ulf Paulsen und Angus Wood komplettieren die Partei der Mächtigen kongenial. An Masaniellos Seite singen und kämpfen Wiard Witholt, Kostadin Aguirov und Stephan Biener - ein auf höchstem Niveau ausgeglichenes Ensemble, wie man es vor Ort selten zu hören bekam. Der eigentliche Star aber ist der erneut um Gäste des Coruso-Ensembles verstärkte Chor - von Helmut Sonne perfekt einstudiert und von Antony Hermus zu akribisch kontrollierter Höchstleistung geführt.
Dieser individuell geführten Masse verdankt Bückers Inszenierung ihre Sinnlichkeit, ihr aus Blut, Schweiß und Tränen gemischtes Odeur. Es ist gewiss kein reines Wohlgefallen, mit dem man dieser im französischen Original präsentierten Tragödie folgt. Aber ihre Faszination verdankt sich eben auch und gerade der konsequenten Erzählweise, die ein religiös verbrämtes und vom Elend entwertetes Leben zeigt - in einer Wirklichkeit, die als Kehrseite des europäischen Wohlstands reale Bezüge hat.

Helmut Rohm, Volksstimme, 26.04.2010

Publikum schenkt bewegender Inszenierung langen Beifall
Anhaltisches Theater Dessau führt "Die Stumme von Portici" auf
Dessau-Roßlau. Die Premiere der Oper "Die Stumme von Portici" im Großen Haus des Anhaltischen Theaters Dessau am Samstagabend war nicht nur schlechthin beeindruckend - sie war begeisternd. Es wäre, bei gebotenem sparsamem Umgang mit Superlativen, sicher selbst der französische Komponist Daniel Francois Esprit Auber (1782-1871) bei dieser Inszenierung tief bewegt gewesen. Auch oder gerade weil Generalintendant André Bücker in seiner ersten Dessauer Operninszenierung die originale Handlung aus der Mitte des 17. Jahrhunderts ins Heute, am gleichen historischem Ort um Portici und Neapel angesiedelt hat.
Apropos Ort. Bühnenbildner Jan Steigert nutzte die wahrlich vielfältigen technischen Ressourcen der schier unendlich großen Dessauer Bühne, um ein dem Spannungsbogen zwischen den Hafenarbeitern und der im Untergrund – weitab von jeder Demokratie – machtbesessen kriminell agierenden Camorra einen realistisch nahen Handlungshintergrund zu bieten. Die wahrlich räumlich hoch projizierten Übertitel halfen gut, der durchweg in der französischen Originalsprache aufgeführten Oper – der ersten in Dessau – inhaltlich leichter folgen zu können.
Jedoch nicht nur deshalb trifft die Bezeichnung "Grand Opera" als aufführungscharakterisierende Klassifizierung zu. Die Anhaltische Philharmonie unter Stabführung des GMD Antony Hermus präsentierte die facettenreiche Musik Aubers mit strahlendem Esprit wie ebenso bewegender Emotionalität - ganz eng, kongenial zu den Darstellern - alles wie aus einem Stück.
Und - die Darsteller haben es an Dramatik, Tragik, Gefühlsfülle in aller menschlichen Bandbreite, in ihren Entwicklungen, auch Ausuferung, nicht fehlen lassen. Macht und Freiheit, Liebe, Rache, Mord und Vergebung, ebenso das letztendliche Scheitern erfahren in der Bücker-Inszenierung erlebbare Nähe.
Der Gast-Tenor Diego Torre als Anführer der Hafenarbeiter Masaniello und Bruder der stummen Fenella, dargestellt von der Dessauer Ballettsolistin Gabriella Gilardi, standen mit ihren bewegenden Darstellungen ganz besonders in der Gunst des Premierenpublikums.
Das - jedoch verdientermaßen - ausnahmslos dem gesamten Ensemble mit langanhaltendem Beifall für das Gezeigte dankte. Dennoch gebührt noch ein besonderes Lob dem Chor, für seine umfangreiche sowohl gesangliche wie ebenso aktionsreiche darstellerische Mitwirkung unter Helmut Sonne.
Diese gelungene Dessauer Inszenierung wird sicher in der Theatergeschichte einen geachteten Platz finden. Umso mehr sollte sie schon im Jetzt und Heute viele Besucher haben.

Ute van der Sanden, Mitteldeutsche Zeitung, 22.04.2010

Vorbericht: Stück mit Leidenschaft und Revolte

Generalintendant André Bücker inszeniert „Die Stumme von Portici“. Zum nunmehr sechsten Mal kommt die Revolutionsoper von Daniel-François-Esprit Auber am Sonnabend in Dessau auf die Bühne.

Der Mann hat gründlich recherchiert. Auber, sagt André Bücker, sei Tradition in Dessau und daselbst der meistgespielte Opernkomponist: nach Wagner, Mozart, Verdi, Puccini und Lortzing, versteht sich. „Die Stumme von Portici“ komme nun bereits zum vierten Mal am Haus heraus. An die jüngste Einstudierung von 1958/59 könnten sich „einige Theaterfreunde noch gut erinnern“, weiß der Generalintendant.
„La Muette de Portici“ besitzt alle Eigenschaften eines ebenso sonderbaren wie schlagkräftigen Revolutionsstücks. Schon die Besetzung: Stumm auf der Opernbühne, wo gibt´s denn so was! Daniel-François-Esprit Auber sah für die Titelfigur der Fenella eine Tänzerin vor – in Dessau getanzt von Gabriella Gilardi. Die tragende Tenorpartie ist Masaniello zugedacht, dem Anführer der gegen die spanischen Besatzer revoltierenden Neapolitaner. Mit ihm gibt Diego Torre, einer der vielversprechendsten dramatischen Tenöre, sein Europadebüt. Soeben gastierte der 30-jährige Mexikaner in New York.
Aubers Musik ist dem italienischen Belcanto abgelauscht – es wird, sobald sich der Vorhang hebt, folglich weder an großen Gesangspartien noch an imposanten Stimmen mangeln. Neben Angelina Ruzzafante, Eric Laporte, Wiard Witholt, Angus Wood und Ulf Paulsen in den Solorollen sind Statisterie, Extrachor Coruso und Kinderballett besetzt. Die Handlung datiert im 17. Jahrhundert, es geht um Tyrannei, Solidarität und hoffnungslose Liebe. In der Dessauer Strichfassung, die vor allem auf Da-capo-Teile verzichtet, dauert es etwa zweieinhalb Stunden, bis am Ende der Vesuv ausbricht und Fenella in die glühende Lava stürzt.
Nicht weniger spektakulär ist die Aufführungsgeschichte der Oper: Nach einer Vorstellung in Brüssel 1830 geriet das belgische Volk derartig in Wallung, dass es sich von der Herrschaft der Niederländer befreite. Warum also wird der Fünfakter, mit dem die Epoche der französischen Grand opéra begann und der einst ein Bühnenschlager war, heute derartig ignoriert? Das „unglaublich schlechte“ Aufführungsmaterial führt der Regisseur als erste Ursache an. Als weitere die Scheu vor Stücken jenseits des gängigen Repertoires.
Umso entschlossener wählte der Generalintendant ausgerechnet dieses Werk für seine erste Musiktheaterinszenierung am Anhaltischen Theater. „Sein Plot ist toll“, schwärmt Bücker, „die Musik ist toll, es passte gut in den Spielplan.“ Und zum Spielzeitmotto. „Utopie und Wahnsinn“ ist eben auch das Scheitern der Revolution an ihrer eigenen Blutrünstigkeit. Mafia und Müllskandal, Korruption und Gewalt, Menschen wie Fenella und ihr Bruder Masaniello, die ob der Aussichtslosigkeit ihres Kampfes dem Wahnsinn verfallen, gebe es schließlich auch im Europa des 21. Jahrhunderts. Der Vorverkauf stimmt optimistisch: Die Premierengäste kommen, logisch, aus Brüssel, Großbritannien und ganz Deutschland.
Ausstatter Jan Steigert hat für die große Dessauer Bühne ein imposantes Schiff bauen lassen. Auf dem Mitschnitt, der in zwei Vorstellungen entstehen und als DVD erscheinen soll, werden zudem bunte Container im Baukastenprinzip zu sehen sein: Portici ist mithin ein Küstenort, die Oper spielt im Hafen. „Wir setzen ein, was wir haben“, verspricht Bücker: Seiten-, Vorder- und Hinterbühne, Portal, Drehscheibe, Schnürböden. Die neue Übertitelungsanlage.
Himmel und Meer, Vulkan und Horizont werden in aufwändigen Videoprojektionen eingespielt.
Endprobenwoche. An diesem Nachmittag werden Ensembleszenen musikalisch probiert. Der Regisseur ist nicht dabei, lobt im Gespräch gleichwohl die erfreuliche erste Zusammenarbeit mit dem „sehr konzentrierten, spielfreudigen“ Opernchor. Für den ist die Produktion eine Herausforderung: Viele Auftritte, viel Fortissimo, viele Takt- und Tempowechsel. Noch dazu in der französischen Originalsprache, zum ersten Mal. Chordirektor Helmut Sonne gibt aus der ersten Zuschauerreihe Achtungszeichen und Einsätze. Im Saal prüft Kapellmeister Wolfgang Kluge die Akustik, bespricht sich mit Generalmusikdirektor Antony Hermus.
An seiner musikalischen Leitung macht Bücker – er inszenierte schon den „Freischütz“, den „Wildschütz“ und „Rusalka“, drei Händelopern und, sogar, das „Weiße Rössl“ – den für ihn maßgeblichen Unterschied zum Sprechtheater fest. Der Musik sei die Emotion eingeschrieben, Schauspiel „erst einmal nur Papier“. Und schließlich habe die „Stumme von Portici“ doch alles, was eine gute Oper ausmache: Kurzweil und Ohrwürmer. Anrührende Momente, große „Up-tempo-Nummern“, eine Liebesgeschichte – Leidenschaft und Revolte also. Nur ein Happy End hat sie nicht.

Alexander Hauer, Der Opernfreund, 28.4.2010

André Bückers Einstand als Opernregisseur an seinem Hause muss man als großen Wurf bezeichnen. Die Grand opéra wird zwar in gekürzter Form, ohne Ballett, gegeben, zeichnet sich aber durch eine kluge Neudeutung auf höchstem musikalischen Niveau aus. Bücker verlegt die Handlung aus dem frühen 17. Jahrhundert in die Jetztzeit, aus den spanischen Besatzern werden Mafiaangehörige, aus den revoltierenden Fischern Werftarbeiter. Der Verlust pittoresker Bilder machen aber das Bühnenbild Jan Steigerts und die stimmigen Kostüme von Suse Tobisch wieder wett. Jene Oper um Macht und Ohnmacht, um die Kraft der Schwächeren, wenn sie sich zusammenschließen, wurde bei der Uraufführung eher delektiert, hatte einen sensationellen Erfolg weltweit, und führte, der Legende nach zur Ablösung Belgiens von den Niederlanden. Dieser revolutionäre Gedanke ging in der heutigen Zeit verloren, Bücker schafft aber einen stimmigen Einblick in das System Camorra, in deren Machtstrukturen, die unter anderem auch auf der stillschweigenden Duldung und der Angst der Bürger, basiert. Schon in der Ouvertüre zeigt Bücker die Unbarmherzigkeit dieses Systems auf, wenn die Mafiaschergen um Selva ein Kind entführen, um Fenella in ihre Fänge zu bekommen. Fenella, diese Einmaligkeit in der Operngeschichte, in der die Titelfigur nicht singt, wird von Gabriella Gilardi mit größter Expressivität getanzt. Ihr Ausdruck und ihre beseelte Körpersprache korrespondiert auf dem gleichen, höchsten Niveau ihrer Sängerkollegen. Antony Hermus zaubert mit der Anhaltischen Philharmonie feinsten französischen Klang aus dem Graben. Das Ensemble um die beiden Tenöre Diego Torre als Fanellas Bruder Masaniello, schafft es den hohen Ansprüchen seiner Partie das Beste herauszuholen. Sein Gegenspieler, ebenfalls Tenor, Alphonse, Eric Laporte ist ihm ebenbürtig. Alphonse Braut Elvira, jenes naive, weltfremde Mädchen, das die Beziehungen zwischen ihrem Bräutigam und Fanella nicht kennt oder wissentlich verdrängt, wird von Angelina Ruzzafante mit scheinbarer Mühelosigkeit interpretiert. Angus Wood gestaltet seine kleine Rolle als Lorenzo spannend und konzentriert. Der Star unter den Bösen ist aber Ulf Paulsen der aus Selva einen Furcht erregenden, mit eiskaltem Bariton ausgestatteten, Mafioso macht. Auf der Seite der „Guten“ kämpfen Kostadin Arguirov, Stephan Biener und Wiard Witholt mit Masaniello gegen das System. Dieses geschlossen gute Ensemble singt auf einem Niveau, dass man nicht alle Tage zu hören bekommt. Neben den erstklassischen Solisten sei aber auch noch der von Helmut Sonne perfekt einstudierte Chor der Anhaltischen Oper erwähnt. Verstärkt durch Gäste des Coruso Chores, Berlin, unterstreicht er den mehr als perfekten Gesamteindruck des Abends.


Die Premiere endete unter frenetischem Applaus, sowohl für das Regieteam als auch für die musikalischen und tänzerischen Leistungen. Auf die DVD-Veröffentlichung sollte man sich freuen.

zu „Das Tagebuch der Anne Frank“

Helmut Rohm, Zerbster Volksstimme, 6.11.2009

Bewegendes Schicksal im Damals und Heute

Auf dem Blatt eines großen Abreißkalenders steht: „12. Juni 1942“. Zwischen großformatigen Bildern über die Nazidiktatur und den Holocaust an den Ausstellungswänden fallen Fotos auf, die ein junges, dunkelhaariges Mädchen zeigen. Ein Bild, das weltweit bekannt ist: Anne Frank. Ihr Schicksal und das ihrer jüdischen Familie kennt die Welt. Ihr Tagebuch aus den Jahren des Verstecks vor den Nazis bewegt die Menschen. Generalintendant André Bücker hat die Monooper „Das Tagebuch der Anne Frank“ am Anhaltischen Theater Dessau inszeniert.

Es gibt über Anne Frank zahlreiche Literaturveröffentlichungen, Bühnenwerke und andere Ver- und Bearbeitungen. In engster Anlehnung an den Originaltext komponierte der russische Komponist Grigori Frid (geb. 1915) die 1969 uraufgeführte Monooper. Das Dessauer Publikum erlebt die Klavierfassung mit der Sopranistin Cornelia Marschall und Stefan Neubert am Flügel.

André Bücker spannt einen dramatischen Bogen vom Damals zum Heute. Ins Zentrum stellt er das Tagebuch selbst. Symbolisch als Objekt in einer Art Schrein. Die „Handlung“ manifestiert sich in Anne Frank, deren Gedanken, ihren Erlebnissen.

Eine Betrachterin von Heute schaut sich die Bilder und Dokumente an, liest im veröffentlichten Tagebuch. Beeindruckt und gefesselt versetzt sie sich in die junge, 13-jährige Anne, lebt und fühlt wie sie, wird selbst zu Anne Frank.

Der Zuschauer ist mittendrin. Cornelia Marschalls variabler Gesang mit stets bestem Textverständnis und vor allem ihr situativ stimmiges Spiel lässt den Zuschauer nachdrücklich teilhaben am Wechselspiel der Hoffnungen und Ängste, an Freude und Verzweiflung, an Träumen und Konflikten der jungen Anne Frank. Die Musik von Frid in einer bewegenden Bandbreite von stiller Epik bis aufrüttelnder Dramatik wird von Stefan Neubert gefühlvoll und hochkonzentriert in bewundernswerter Übereinstimmung mit der Darstellerin ausdrucksstark interpretiert.

In 21 Episoden – knappen Bildern und kurzen, prägenden Augenblicken des Lebens dieser kurzen Zeit – wird die Tragik des Erlebten der Anne Frank zwischen Kindsein und Erwachsenwerden für den Zuschauer selbst erlebbar, geht nahe. Die Darstellerin wird am Ende der einstündigen Oper wieder zur Betrachterin, ist im Heute. In einer Zeit, in der die Realität des Rechtsradikalismus, des Rassismus, der Gewalt gegenwärtig ist. Bückers Inszenierung macht darauf nachdrücklich aufmerksam – fordert geradezu auf zum Nachdenken und zum Handeln gegen diese reale Gefahr. Mitten unter uns. Als der leise Schlusston im Studio des Anhaltischen Theaters Dessau im Kulturzentrum „Altes Theater“ verklungen ist, dauert es bei der Premiere eine geraume Zeit des Betroffen-, wohl auch Ergriffenseins, ehe diese denkwürdige Inszenierung mit viel Beifall bedacht wurde.

Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung Halle, 28.10.09

Ein Mädchen im Erinnerungsraum

André Bücker inszeniert im Alten Theater die Mono-Oper «Das Leben der Anne Frank»

DESSAU/MZ. Rechts zeigt ein Abreißkalender den Tag ihres 13. Geburtstages, an allen Wänden hängen Fotos und Plakate, in der Mitte aber ruht in einer blau glühenden Vitrine ihr Vermächtnis - das Tagebuch der Anne Frank. Wäre da nicht ein Fenster, das an den Dachboden im Hinterhaus der Prinsengracht Nummer 263 gemahnt - man könnte meinen, man wäre in einem Museum für die Amsterdamer Jüdin gefangen, deren Schicksal längst zum Synonym für den Holocaust geworden ist. Und tatsächlich ist die junge Frau, die hier noch einmal die berühmten Texte memoriert, nicht nur eine historische Gestalt, sondern auch ein Mensch der Gegenwart. Alles andere, das weiß man nach diesem Abend, wäre pietätlose Anmaßung.

Wie konnte man "Das Tagebuch der Anne Frank" nur all die Jahre im Gestus einer nachträglich betroffenen Schreckstarre darstellen, der ein politisch korrektes Kritik-Verbot eingeschrieben war? Was Generalintendant André Bücker mit der ideal besetzten Cornelia Marschall und dem kongenialen Pianisten Stefan Neubert jetzt aus Grigori Frids Mono-Oper herausgelesen hat, straft all diese Interpretationen Lügen. Denn die Inszenierung im Alten Theater denkt die Rezeptionsgeschichte immer mit: Anne Frank geht hier durch einen Erinnerungsraum, der nationalsozialistische Propaganda unmittelbar mit den Zeugnissen der Shoa konfrontiert. Da hängen Werbeplakate von Gestapo und Hitlerjugend neben den Bildern des Mädchens mit dem schwarzen Haar, das so fröhlich und offen in die Kamera blickt. Und da hängt eine Textpassage aus dem Tagebuch neben den Fotos von Massengräbern und vom Schienenstrang zur Gaskammer, während sich auf dem Boden Exemplare des millionenfach vervielfältigten Tagebuchs finden.

Das ist die unterschwellig mitlaufende Botschaft dieses kleinen, großen Abends in der Ausstattung von Katja Schröpfer: Anne Franks Leben, das sich nur von ihrem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen her begreifen lässt, ist unwiederbringlich seiner Privatheit beraubt worden. Dass das junge Mädchen dies mitgedacht hat, als es seine Memoiren für eine Veröffentlichung nach dem Krieg vorbereitete, ändert nichts an diesem Befund: Die Kinder der Täter haben ihre Reue an einem exemplarischen Opfer abgearbeitet, das Dilemma der Besinnung auf die Schuld bleibt unauflöslich. Das zeigt auch die subtile Collage aus Licht, Toneinspielungen und Video, die den Zuschauer nicht in die Anonymität eines abgedunkelten Auditoriums entlässt.

Über dieser ambivalenten Grundierung aber erlebt man eine Sängerin, die viele Farben und Gesichter in sich vereint: Cornelia Marschall kann übermütiges Kind und erwachende Liebende sein, sie parodiert und karikiert ihre Mitmenschen oder träumt gedankenverloren unter dem Fensterhimmel. Dass Stefan Neubert sie beruhigend und alarmierend, aber nie nur illustrierend durch diesen stimmlich wie darstellerisch bravourös gemeisterten Kraftakt begleitet, ohne dass sie Sichtkontakt hätten, ist bewundernswert. Am Ende aber, nachdem der Abreißkalender unabänderlich auf den 1. August 1944 - den Tag der letzten Eintragung - fixiert ist, nimmt Anne im Publikum Platz. Und es dauert eine gefühlte Ewigkeit der Stille, ehe begeisterter Applaus aufbrandet.

zu „Nathan der Weise“

Andreas Hillger, Die Deutsche Bühne, 11 | 2009

Raus aus der Vergangenheit

André Bücker vollbringt am Anhaltischen Theater in Dessau einen auf ganzer Linie überzeugenden Neustart als Nachfolger von Johannes Felsenstein

Eine Putzfrau, ausgerechnet eine Putzfrau ist es, die zur Augenzeugin der Verschwörung wird: Im verwüsteten Plenarsaal, wo Luftballons zwischen umgeworfenen Stühlen liegen, blickt sie schweigend auf den abgesetzten Herrscher und seine First Lady herab. Und während sich die Anhänger des Gewesenen spätestens in diesem Augenblick auf radikale Ablehnung einigen, sehen all jene, die auf das Kommende gehofft haben: Hier findet tatsächlich ein Akt der Reinigung statt, ein Kehraus jener Tradition, die auf dem Anhaltischen Theater zuletzt bleischwer lastete.

Nichts weniger hatte André Bücker für seine erste Dessauer Spielzeit angekündigt, nichts weniger hat sein Team mit dem ersten Premierenwochenende gehalten: Der Premieren-Hattrick aus Einar Schleefs „Abschlussfeier“, Richard Wagners „Lohengrin“ und Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ war eine politische und poetische Ansage, die in ihrer programmatischen Geschlossenheit wie in ihren ästhetischen Differenzen zu schönsten Hoffnungen für die Zukunft berechtigte. Dass sich der neue Generalintendant dabei in nobler Zurückhaltung übte und seine eigene Inszenierung an den Schluss des großen Theater-Festes stellte, durfte nach den Tagen des Patriarchen Johannes Felsenstein als Bekenntnis zum demokratischen Miteinander verstanden werden.

Die Fallhöhe seines „Nathan“ aber ist gleichwohl himmlisch: Rechas Vision, die einen Engel statt des Tempelherrn für ihre Rettung aus dem Feuer verantwortlich macht, wird als Prolog auf der großen Showtreppe zwischen Erde und Wasser, Feuer und Luft sichtbar beglaubigt. Im elementaren Bühnenbild von Suse Tobisch, die auch für die sakrale Haute Couture der Kostüme verantwortlich zeichnet, liest das neue Ensemble fortan einen alten Text, als wäre er ein Stück von heute. Uwe Fischers Nathan ist kein statuarischer Weiser, sondern ein von Kleinmut und Zweifeln getriebener Mensch, der sich seine Güte mühsam erarbeiten muss – und eigentlich lieber sein Gärtchen bestellen würde. Doch seitdem der selbstbewusste, kraftstrotzende Tempelherr (Sebastian Müller-Stahl) seine traumverlorene Adoptivtochter Recha (Ines Schiller) aus den Flammen getragen hat, bleibt ihm weder Zeit für seinen skurrilen Derwisch-Freund (Thorsten Köhler) noch für die Glaubensnöte seiner Dienerin Daja (Eva-Marianne Berger), die unter der Last ihrer Kruzifixe zusammenzubrechen droht und vom vielen Beten schon Pflaster an den Knien hat. Zwischen dem bigotten Patriarchen (Gerald Fiedler) und dem leichtsinnig toleranten Kampfsportler Saladin (Stephan Korves) muss der Jude sein höchstes Gut verteidigen – und gleichzeitig die Begehrlichkeiten von Sittah (Antje Weber) abwehren. Wie gut, dass wenigstens der Klosterbruder (Henning Kober) als Deus ex machina hält, was sein mit Heiligenbildchen bestickter Kittel verspricht …

André Bücker glückt es auf überraschende Weise, den Humor des Lessing-Textes als Geschmacksverstärker für die Bitterkeit freizulegen, er schlägt in der überwältigenden Körperlichkeit seines Ensembles einen gleichermaßen natürlichen wie hohen Ton an – und läuft am Ende in einhellige Begeisterung, nachdem sich am Vorabend ein Sturm aus Buh- und Bravo-Rufen über seine neue Chefregisseurin ergossen hatte. Dabei war auch Andrea Moses mit ihrem „Lohengrin“ ein großer Wurf gelungen: Sie hatte nicht nur den schimmernden Helden als Demagogen entzaubert, der mit seinem Frageverbot einen esoterischen Faschismus etabliert. Sie hatte zugleich den Hochbunker aus dem Jahr 1938 in all seinen gigantischen Möglichkeiten ausgeschöpft – und mit dem Haus auch die Menschen bewegt.

Denn dies war die frappierendste Neuerung ihres Abends, der in Christian Wiehles Ausstattung Schnürboden und Versenkung, Hinter- und Seitenbühne beansprucht: Ihre individuelle und präzise Figurenführung löste endlich jene musiktheatralische Qualität ein, die in den letzten Jahren vor Ort meist zur bloßen Behauptung verkommen war. Der Chor, verstärkt um Mitglieder des Extrachores und des freien Coruso-Ensembles, zeigte sich unter der Leitung von Helmut Sonne sängerisch wie darstellerisch in der Form seines Lebens, die Anhaltische Philharmonie spielte unter Antony Hermus gar weit über ihren bisherigen Möglichkeiten. Wie hier die Szene aus dem Klang geschöpft und in den Ton zurückgeführt wurde – das hatte Charme und Kraft, das war eine Verführung zum Denken und ein Bekenntnis zum „Bayreuth des Nordens“.

Dass sich neben den verlässlichen Konstanten Ulf Paulsen (Telramund) und Iordanka Derilova (Ortrud) ein neues Sängerensemble behauptete, von dem man sich künftig viel erwarten darf, rundete den positiven Eindruck: Pavel Shmulevich ist ein viriler König Heinrich, neben dem auch sein Heerrufer Wiard Witholt glänzende Figur macht. Und während Bettine Kampp als zunächst narkotisiertes Opfer Elsa allmählich zur selbstbewussten Frau reift, die als Einzige dem militanten Sog der New-Age-Gemeinde entrinnt, muss Andrew Sritheran in seinem Rollendebüt als Lohengrin zwar Lehrgeld zahlen. Er rettet sich – von Antony Hermus treulich geführt – aber mit Bravour über den Abend und wird an dieser Rolle gewiss weiter wachsen. Dass das gesamte Ensemble am Ende zudem wie ein Mann applaudierend hinter seiner Regisseurin stand, die drei Tage nach ihrem Dessauer Einstand mit der Berufung an die Staatsoper Stuttgart bereits die nächste Karriere-Stufe nahm, war ein Beweis für den neuen Geist, der auf dieser großen Bühne weht – und der Andrea Moses auch darin bestärkt, ihren Dessauer Vertrag bis 2011 zu erfüllen.

Dass Armin Petras schließlich ein besonderes Geschenk zum Einstand mitbringen würde, hatte man angesichts seiner Affinität zum Werk von Einar Schleef vermuten dürfen. Und tatsächlich geriet die „Abschlussfeier“, die vom Clash der Kulturen in einer DDR-Jugendherberge erzählt, zu einem Schauspielerfest voll überdrehter, traurig grundierter Heiterkeit: Ursula Werner und Hilke Altefrohne, Julischka Eichel und Sabine Weibel gaben als Gorki-Gäste hier das Niveau vor, zu dem sich auch die Ensemblemitglieder Regula Steiner-Tomic und Christel Ortmann sowie der Jugendklub des Anhaltischen Theaters streckten. Aus der kleinen Spielstätte wuchs und öffnete sich dieser so kluge wie sentimentale Abend in die Stadt hinein. Und am Ende der großen Party in einem kleinen Land konnte man wissen, dass dort vielleicht nicht alles schlecht – aber ganz gewiss gar nichts gut war.

Dass bereits in der ersten „Lohengrin“-Pause das neue Gästebuch mit dem Eintrag „André Bücker absetzen“ eröffnet worden war, erzählte viel über die Aufnahmebereitschaft der Alten für das Neue. Das letzte Wort aber hatte der Hausherr selbst: Nachdem ein Kinderchor die drakonische Strafe für Menschlichkeit zunächst noch mit „Hallelujah“ bejubelt hatte, schwebte am Ende eine bunte Leuchtschrift über der Szene: Ein roter Halbmond bildete das „C“, ein Davidsstern das „X“ und ein Kreuz das „T“ in dieser Aufforderung, die sich insgesamt als „Coexist“ lesen ließ. Und Nathan, dieser Mensch von Hier und Heute, pflanzte endlich seinen Baum. Was für ein Bild, welch ein Versprechen!

Helmut Rohm, Volksstimme Magdeburg, 6.10.2009

Lessing in der Gegenwart: Ein Happy End bleibt weiter Vision

Generalintendant André Bücker hatte mit „Nathan der Weise“ bejubeltes Regiedebüt in Dessau

Vier Premieren am vergangenen Wochenende als Auftakt für die 215. Spielzeit vermittelten den Zuschauern des Anhaltischen Theaters Dessau erste Eindrücke von der " neuen " Lesart Theater unter neuer Leitung und mit überwiegend neuem Ensemble. Am Sonntagabend hatte Gotthold Ephraim Lessings " Nathan der Weise " in der Regie des Generalintendanten André Bücker seine durchweg bejubelte Premiere.

Dessau-Roßlau. Und am Ende pflanzt Nathan einen Baum. Auf der gefallenen Grenze. In der geteilten Stadt Jerusalem, zwischen den Religionen. Das Happy End ist eine Vision. Lessings 230 Jahre alter Text ist voller Aktualität und Brisanz. In der Premiere, nicht ausverkauft, doch von erfreulich viel jüngerem Publikum besucht, war – wie an diesem ganzen Dessauer Auftaktwochenende – viel Spannung und Neugier zu spüren, wie denn inszeniert wird.

Was der Aufklärer Lessing bewusst historisch weit zurückverlegt, bringt André Bücker in die Heutezeit. Er findet für seinen " Nathan " eine Bühnensprache, die ebenso nachdrücklich und deutlich wie zugleich auch dezent und gar nicht aufgesetzt ist.

Raum- und bühnenbildbestimmend und wesentliche Handlungsfläche ist eine große Treppe ( Ausstattung Suse Tobisch ). Die Grenze ( n ) symbolisiert ein leuchtendes Absperrband. Überhaupt arbeiten André Bücker und sein Team viel mit Symbolik und buntem Licht. Genauso gibt es im Hintergrund eingespielte großflächige Videosequenzen, die Bil-Bücker die Personen agieren. Es gefällt, dass er insbesondere Menschen mit klar gezeichneten Charakteren darstellt, die auch ihre kleinen und meist liebenswerten Macken haben.

Ein Mann voller Klugheit und Witz

So würzt auch Humor die Geschichte und das Handeln einiger Personen und der von ihnen dargestellten " Instanzen " wohldosiert, doch deutlich, ohne sie ins platte Lächerliche abgleiten zu lassen. Und ohne je den Ernst und die heutige Realität des Themas zu vernachlässigen. Etwa wenn der Moslem Sultan Saladin ( Stephan Korves ), meist eher schrill gekleidet und nicht nur das Boxen liebend, mit dem Gewehr im Anschlag der Ringparabel des Juden Nathan folgt.

Der " weise " Nathan ist hier keine Übergestalt. Viel mehr ein " normaler " Mann, reich und um Reichtum bemüht, mit Klugheit und Witz gleichermaßen ausgestattet – und einer ganz großen Liebe zu " meiner Recha ", seiner Pflegetochter. Uwe Fischer verleiht dieser Figur der literarischen Weltgeschichte tiefe Wahrhaftigkeit. Die von einem Tempelritter aus den Flammen gerettete Recha wird von Ines Schiller in ihrer Offenheit, Unbekümmertheit und Gefühlsfülle ungemein authentisch verkörpert. Viele Gefühle, wechselnde, sich entwickelnde und auch spontan ausbrechende, bewegen den jungen Tempelritter. Die nimmt man dem Schauspieler Sebastian Müller-Stahl vollkommen ab. Auch mit der übrigen Besetzung aus dem neuen Ensemble des Anhaltischen Theaters hat André Bücker eine gute Wahl getroffen. Genannt seien etwa Eva Marianne Berger als Daja, Antje Weber als Sittah und Thorsten Köhler als schräger Derwisch. Ebenso gelungen ist die Einbeziehung des Kinderchores ( Leitung Dorislava Kuntschewa ).

Es sind spannende dreieinhalb Theater-Stunden in Dessau, die sicher auch für Diskussion sorgen. Es ist ein gelungener Regie-Einstieg des neuen Generalintendanten.

In Lessings großem Märchen besiegt Toleranz den Hass

Der neue Generalintendant André Bücker inszeniert den deutschen Schauspiel-Klassiker «Nathan der Weise»
VON ANDREAS MONTAG, 05.10.09

DESSAU-ROSSLAU/MZ. An diesem Stück kommt keiner vorbei: Ist Johann Wolfgang von Goethes "Faust" das Herz- und Denkstück der Deutschen, so besetzt Gotthold Ephraim Lessings dramatisches Gedicht "Nathan der Weise" die Position der moralischen Instanz. Der große Aufruf zur Toleranz ist ein Solitär. Aus diesem Grunde hat man das Werk gleich nach dem letzten großen Krieg als erste Premiere im zerstörten Berlin und an vielen anderen Häusern gezeigt.

Viel Applaus und Bravo-Rufe

Nun hat André Bücker, der neue Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, sein erfolgreiches Eröffnungswochenende just mit dem "Nathan" abgeschlossen. Reichlich dreieinhalb Stunden dauert das Spiel, bei einer Pause. Viel Holz in Zeiten, da der Schauspiel-Trend eher in Richtung knackiger Kürze zu weisen scheint. Doch Bücker, der diese Inszenierung selbst besorgt hat, wollte wohl dem großen Text die Ehre erweisen und zugleich seinem grundlegend erneuerten Ensemble und den Abonnementen die Gelegenheit geben, sich gegenseitig kennenzulernen. Das Ergebnis fiel mehr als zufriedenstellend aus, für beide Seiten: Im Saal wurde begeistert applaudiert, am Ende schallten sogar Bravo-Rufe. Und die Künstler waren froh, für ihre Arbeit derart freundlich belohnt zu werden. So soll es, idealerweise, sein an einem Stadttheater, das seinen Bürgern verpflichtet ist - Anregung und Provokation selbstverständlich inklusive. "Wie es euch gefällt" wäre als übergreifendes Motto zu wenig, um sich dem Publikum als unverzichtbar zu empfehlen.
Von etwaiger Beliebigkeit kann bei Bückers "Nathan" auch gar nicht die Rede sein. Behutsame Bezüge zur Gegenwart im Nahen Osten werden durch Videoeinspielungen hergestellt, Aktualisierung um jeden Preis hingegen findet nicht statt. Lessings Ton ist das Maß, das den Akteuren ihre Rollen auf der symbolträchtigen Baustelle (Ausstattung; Suse Tobisch) zuweist, ohne sie von ihrer Verantwortung des Gestaltens zu entbinden. Unübersehbar das Bemühen der Regie, Pathos und historisierende Bilder in Grenzen zu halten, ganz kann dies angesichts des Stoffes und seiner Wirkungsgeschichte freilich nicht gelingen - es sei denn, man wollte Lessing komplett gegen den edelmütigen Strich bürsten.
Das wollte Bücker nicht, seinem Publikum wäre es mutmaßlich auch nicht recht gewesen. So gibt es in Jerusalem, wo die Handlung ja angesiedelt ist, einen herzensgebildeten reichen Juden namens Nathan (Uwe Fischer) zu sehen, der seiner angenommenen Tochter Recha (betont mädchenhaft: Ines Schiller) ein rührend besorgter, gütiger Vater ist. Sultan Saladin (Stephan Korves) zeigt den machtbewussten, auch unberechenbaren und eitlen, im Grunde aber gütigen muslimischen Herrscher. Gleichwertigkeit des Glaubens

Vielleicht lenkt er ein bisschen zu schnell ein, nachdem Nathan ihm die berühmte Ringparabel erzählt hat - die zentrale Geschichte von den drei ununterscheidbaren Kleinoden, die für die Gleichwertigkeit des christlichen, islamischen und jüdischen Glaubens stehen.
Beste, indes auch etwas selbstgewisse Figur macht Sebastian Müller-Stahl als junger Tempelherr, der Recha aus dem Feuer gerettet hat und sich schließlich als ihr Bruder und Neffe Saladins entpuppen wird. Müller-Stahl zeigt jugendliche Kraft und Trotz, auch Ironie blitzt auf. Lob gilt dem übrigen Ensemble; schön der Regieeinfall, den pompösen christlichen Patriarchen (Gerald Fiedler) als bösen, kleinen Mann aus einem Kleiderpanzer steigen zu lassen.
Auch die glitzernde Showtreppe im Bühnenhintergrund, auf der die Machtfrage im Sinne der Aufklärung entschieden wird und der Kinderchor (Leitung: Dorislava Kuntscheva) einmal Platz nehmen darf, passt gut in dieses große Märchen vom Sieg der Vernunft.
Allein, weshalb das eingangs brennende Haus des Juden Nathan noch über dieser Treppe stehen muss und dort auch bleiben soll, ist so ungewiss wie die schrille Travestie des Derwischs (Thorsten Köhler), der Nathans Freund und Saladins Geldbeschaffer ist. Gleichwohl hat der Dessauer Abend die Kraft, seine Botschaft über die Zeit zu tragen. Und darum ist es ja gegangen.

zu „Weltzeit Wittenberg“

Fiktive Szenen mit realen Figuren

Supersonntag; 18.7.2009
Uraufführung von “Weltzeit Wittenberg“: Anspruchsvoll und unterhaltsam

Wittenberg (wg). Einmal mehr blieb die “Bühne Wittenberg" ihrer Maxime treu, die Altstadt zu bespielen: Gleich sieben Spielorte zwischen Schloss und Lutherhaus standen auf dem Programm, vor allem auswärtige Gäste zeigten sich von den reizvollen Schauplätzen begeistert, nicht zuletzt dank der effektvollen Illumination in der hereinbrechenden Nacht. Mehr als drei Stunden dauerte die Uraufführung am Donnerstagabend, lediglich die Mückenplage störte den kurzweiligen Kulturgenuss. Auch wenn sich das Projektteam von seiner ursprünglichen Idee unter dem Arbeitstitel “Luther-Schach" verabschiedet hat, war “Weltzeit Wittenberg" alles andere als ein provisorischer Ersatz, vielmehr der stimmige Prolog zu einer Serie von Inszenierungen im Rahmen der Lutherdekade bis hin zum Höhepunkt 2017.

Und dies aus mehreren Gründen: Mit “Weltzeit Wittenberg" wird erstens an jene hohe ästhetische Qualität angeknüpft, die Peter Ries in den 90er Jahren mit “Luther Rufen" vorgab. Dies auch ein Verdienst des “Weltzeit"-Autors Frank Wallis, der ein großes Talent besitzt, in historisierender Sprache spannungsreiche und bühnenfähige Dialoge zu schreiben. Dass dazu ein enormes Wissen erforderlich ist, versteht sich bei einem jungen Autor keineswegs von selbst.

Zweitens ist es Regisseur André Bücker, dem künftigen Generalintendanten des Anhaltischen Theaters, gelungen, den Stoff so umzusetzen, dass er dem Anspruch an ein zeitgemäßes Theater-Spektakel gerecht wird. Obwohl das Stück in der Tendenz ein ernstes ist, gelingt es dem Regisseur durch viele gute Spielideen für komödiantische Momente zu sorgen, auch mit dem Mittel der wohl dosierten Übertreibung.

Drittens bewies der Regisseur mit der Auswahl der acht Schauspielerinnen und Schauspielern eine glückliche Hand. Vor allem Frank Roder, schon oft zu Gast beim Wittenberger Sommertheater, überzeugte in allen drei Rollen nicht zuletzt dank seiner sonoren Stimme und Bühnenpräsenz, so vor allem als Wiedertäufer Jan van Leiden, aber auch als Kurfürst Friedrich von Sachsen. Auch die einmal mehr mitwirkenden Laiendarsteller vom Theaterjugendclub konnten überzeugen. Ein besonderes Kompliment gebührt den vier Stadtführern, welche die einzelnen Gruppen von Spielort zu Spielort begleiteten und das Publikum mit interessanten Informationen und Details zu unterhalten wussten. Außerdem sorgten gerade sie für den reibungslosen Ablauf der Übergänge und sicherten somit einen wesentlichen Teil der Inszenierungslogistik.

Ganz auf die Faszination des königlichen Schachspiels verzichten Autor und Regisseur indes nicht. Es spielt sowohl in der ersten wie letzten Spielszene eine Rolle - je nachdem, wo das Publikum seine Theatertour startete. Der Bogen spannt sich von 1493 beim “Schach der Königin" in Barcelona auf der Freitreppe am Schlossplatz bis “Im Hafen zur See" 1552 in Basel auf dem Lutherhof. Auf dem Lutherhof spielen der Pfarrer und der Arzt Schach. Sebastian Münzer, Verfasser der “Cosmographia", eines der meist gelesenen Werke über die damals bekannte Welt, erleidet den Pesttod. Es ist Gott, der den Menschen seine Schritte auf den schwarzen und weißen Feldern des Schachbretts zuweist. Nach dem Tod des Sebastian Münster stellt Gott die Figuren neu auf ...

In Barcelona hingegen, wo das Königspaar und Christoph Kolumbus selbst die Figuren auf dem Schachbrett darstellen, werden die Regeln des königlichen Spiels neu festgelegt. Die politischen Machtverhältnisse verändern sich durch die Entdeckung der Neuen Welt, neue Erkenntnisse gewinnen Raum: Die Erde ist nicht länger eine Scheibe, sie ist eine Kugel. Zwischen Basel und Barcelona liegen weitere Stationen der Theatertour, überall begegnen dem Publikum reale historische Figuren der Umbruchzeit, die Dialoge indes sind fiktiv. Da sind Dürer, Fugger und die Geldordnung des Kaiserreiches, Leonardo da Vinci und der Elefant des Papstes, der Wiedertäufer und sein Himmelreich auf Erden.

Am eindrucksvollsten ist die mittlere der sieben Spielszenen in der Stadtkirche, wo sich alle vier Zuschauergruppen treffen. Hofkaplan Spalatin und ein Schreiber inventarisieren die Reliquien des Kurfürsten am Vorabend des Thesenanschlags in Wittenberg im Oktober 1517. Luther selbst ist nur durch eine Auswahl seiner 95 Thesen präsent, die ein Chor rezitiert. Der Reliquienbetrug ist offenkundig, schon bald werden Luthers Thesen zur Spaltung der Kirche führen ...

Fazit:

Mit “Weltzeit Wittenberg" ist es gelungen, im Rahmen der Lutherdekade ein Theater-Highlight zu entwickeln. Man darf gespannt sein, wie das Projekt fortgeführt wird. “In Wittenberg als Kristallisationspunkt des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit ist genug Stoff für die Zukunft vorhanden", lässt Regisseur Bücker keinen Zweifel aufkommen. Und über reizvolle Spielorte mit authentischem Flair verfügt die Altstadt allemal.

Innenstadt von Wittenberg wird zur Theaterbühne

Ein Audio- und ein Video-Beitrag sind auf der Internetpräsenz des MDR zu sehen.

Große Geister spuken durch die kleine Stadt

Mitteldeutsche Zeitung, 17.07.09
VON CHRISTINA ONNASCH

Die «Weltzeit Wittenberg» bittet zu einer Reise durch die Renaissance - und die Höfe der Lutherstadt

WITTENBERG/MZ. Auf einmal liegt Barcelona in Wittenberg. Oder Augsburg in Wittenberg. Oder Rom oder Münster. Ein heilloses Durcheinander, auf den ersten Blick jedenfalls. Und wenn es doch so wäre? Es ist eine schöne Spekulation, der sich das Theaterstück "Weltzeit Wittenberg", das am Donnerstagabend in der Lutherstadt uraufgeführt wurde, hingibt. Unter der Regie von André Bücker, designierter Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, führen acht Schauspieler und ein spielfreudiger Chor von Laien in die Zeit um das Jahr 1500. Es ist der Beginn einer neuen Epoche in Europa. Es ist die Zeit der Reformation.

Gleich zu Beginn ist klar, das wird ein Theater in Bewegung. Mit der Eintrittskarte gibt es für jeden Zuschauer einen Angelhocker, denn die Tour führt über sieben Spielorte. Das Publikum wird in zwei Gruppen aufgeteilt; die eine beginnt im Hof des Lutherhauses und endet am Schlossplatz, die andere geht in umgekehrte Richtung.

Damit das Zuschauervolk die Orientierung bewahrt, ist jeder Gruppe eine freundliche "Begleiterin zwischen Raum und Zeit" zugeteilt. Die vier Laiendarsteller - sie sind im wirklichen Leben Stadtführer - bringen das Publikum von Ort zu Ort und das mit jener Mischung aus Kenntnis, Witz und Anekdotensinn, wie sie die besten Vertreter ihres Standes auszeichnet.

"Wir haben grade die Alpen überquert", erklärt Bettina Brett. Aha, denkt man, während man eben noch die Collegienstraße entlanglief und nun vor dem Haus der Geschichte in der Wallstraße steht. Hier geht es in den Museumshof, vorbei an einem ausrangierten Trabi, direkt in die freie Reichsstadt Augsburg des Jahres 1512.

Es treten auf: Albrecht Dürer und die Frau des Kaufmanns Jakob Fugger, Sybille. So erlebt man unter dem Fenster der Fuggerin den Künstler angesichts einer Auftragsarbeit für den Kaiser in einer Schaffensblockade, aus der sie ihm heraushilft. Allmählich entsteht daraus ein verbalerotischer Schlagabtausch, zu dem sich die Schauspieler Silke Wallstein und Haye Graf gegenseitig wunderbar hochheizen. Dürer: "Ja, bester Fugger, rette du die Welt - ich will derweil dein Heim vermessen. Was nützt der Weitblick, wenn man seinen größten Schatz im eig'nen Haus nicht kennt." Da hat er Pech gehabt, der abwesende Herr Fugger.

Leonardo da Vinci, Sebastian Münster, Hans Sachs und Jan van Leiden treten in weiteren Spielszenen auf - allesamt historisch verbürgte Personen, die fiktive Dialoge sprechen. Es geht um Glaubensgewissheiten und -zweifel, ein verändertes Verhältnis zur Zeit, die Eroberung fremder Weltgegenden und die Erforschung des menschlichen Körpers. Diese Themen spiegeln sich in den Freuden und Ängsten, die anregend, zupackend und humorvoll serviert werden. In einer der glänzendsten Szenen dieses Abends, "Die Erfindung der Reklame", treten Mathias Kusche und Dirk Böhme als der Schuhmacher Hans Sachs und der Uhrmacher Peter Henlein auf und liefern sich einen derb-witzigen Dialog mit und ohne Reim, dass es eine Freude ist. Daran liegt es, dass dieses Sommertheaterstück so lehrreich wie vergnüglich daherkommt. Nichts hat es mit der volkstümlichen Behäbigkeit, die Historienspektakeln meist eigen ist, gemein.

Dabei kann sich Bücker als Regisseur auf ein homogenes und vielseitiges Ensemble verlassen, zu dem neben den bereits Genannten auch Frank Roder, Tina Rottensteiner, Georg Herberger und Thomas Kornmann zählen - allesamt ebenso perfekt als Teamplayer wie in der Paraderolle.

Weiter geht die Tour in den Schlosshof hinein, über die Stadtkirche zur Leucorea. Unter jedem Quadratzentimeter Straßenpflaster liegt Reformationsgeschichte. Nebenbei wird die Bedeutung des Titels "Weltzeit Wittenberg" sinnfällig, spiegelt sich doch in den Gebäuden auch der Aufstieg der Stadt zu einem der wichtigsten europäischen Zentren politischer, kulturgeschichtlicher und künstlerischer Bestrebungen im 16. Jahrhundert. Das "Rom der Protestanten", Wittenberg als Geburtsort der Reformation, die in die Welt strahlt - und die Welt strahlt zurück. Nach drei Stunden Zeitreise über Gebirge, Flüsse und Länder hinweg steht fest: Augsburg, Nürnberg und so weiter liegen doch in Wittenberg - zumindest auf dem Theaterglobus.

zu „Serse“

Überraschend intensive Seelenqualen

Main-Post, 14.1.2010
Wie ein Kreisel in voller Fahrt – Händel-Oper „Serse“ im Theater Schweinfurt
von Mathias Wiedemann
So muss Oper sein: bunt, schnell, spannend, anrührend, sexy. André Bücker, seit kurzem Generalintendant in Dessau, hat Händels „Serse“ (Xerxes) inszeniert, ganz nah am Plot, ganz nah an der barocken Pose, und doch voller Leben, Witz und Spontaneität. Die Koproduktion des Goethe-Theaters Bad Lauchstädt und der Händel-Festspiele Halle gastiert noch bis Sonntag im Theater Schweinfurt.
Für die höchst verwickelte Geschichte um Liebe, Macht, Verrat und Versöhnung reicht ein Bühnenbild: Imme Kachel hat mit goldfarbenen Polsterhockern und einer kreisrunden Projektionsscheibe eine luxuriöse Versuchsanordnung geschaffen, in der gelackte Gecken und affektierte Püppchen überraschend intensiven Seelenqualen ausgesetzt werden.
Die Besetzung ist brillant, die Sänger verkörpern ihre Rollen, als seien sie für einen Film gecastet worden. Susanne Kreusch gibt mit maskuliner Körpersprache einen Serse, dessen Erotik der Macht zusehends an Glanz verliert. Und so mutiert das Kämmen seiner Lackfrisur immer mehr von der lustvollen Selbstvergewisserung zur zwanghaften Übersprunghandlung.
Der fabelhafte Countertenor Jean-Michel Fumas als Serses Bruder Arsamene ist der linkische Zweitgeborene, den aber Romilda (kurioserweise) liebt, auf die Serse ein Auge geworfen hat, was wiederum der koketten Atalanta (Heidi Maria Taubert) gut in den Kram passt, weil sie auf Arsamene scharf ist. Romilda (Paula Turcas) wehrt sich zunächst mit barbiehafter Steifheit gegen Serses Avancen, bis bei einem Vergewaltigungsversuch mit einem Schlag deutlich wird, dass das Spiel längst keines mehr ist. Und dann ist da noch Amastre, Serses Braut, die als Mann getarnt für weitere Verwicklungen und schließlich für die Auflösung sorgt. Luciana Mancinis Stimme hat das vielleicht interessanteste Timbre dieses durchweg großartig singenden Ensembles.
Bewegte Bilder des Video-Künstlers Frank Vetter kommentieren, persiflieren, konterkarieren die Handlung. Zu „Ombra mai fu“ wehen Blätter im Wind, zu Serses Wut stapft Godzilla durchs Bild, und zum Beziehungskrach von Romilda und Arsamene gleiten Haifische vorüber.
Interessanterweise verbindet sich dieses Stakkato aus Bildern, Gesten und Gags mit der beseelten und knackigen Begleitung der Berliner Lautten Compagney unter Wolfgang Katschner zu einem eigentümlich ruhigen Gesamtbild – wie ein Kreisel, den nur sein hohes Tempo im Gleichgewicht hält. Wunderbar.

Ein goldenes Königsgeschenk

Nordbayerischer Kurier, 21.9.2009

Händels Oper „Serse“ zur Eröffnung des „Bayreuther Barock“ im Opernhaus Bayreuth

Von Frank Piontek

Teddybären sind einfach in, selbst auf der Opernbühne. Den vorletzten konnte man hier in Glucks „Pilger von Mekka“ anschauen, er hieß Bruno, nun folgten ihm zwei kleinere Kollegen: ein knuddeliger – er gehörte der mondsüchtig herumwandelnden Heldin der Oper – und ein goldener, im Videofilm sogar ein Dritter: Natürlich läuft auch ein Bär vor der Katastrophe einer einstürzenden Brücke davon. Der goldene war ein Königsgeschenk – so wie das Gastspiel des Goethe-Theaters Bad Lauchstädt, das in einer Coproduktion in Zusammenarbeit unter anderem mit dem Festival Bayreuther Barock Händels Oper „Serse“ ins glücklich ausverkaufte Markgräfliche Opernhaus brachte: wieder mit der samt pfiffig agierenden Holzbläsern wunderbar aufspielenden Lautten-Compagney unter ihrem Leiter Wolfgang Katschner.

Schneidig und farbig

Glücklicherweise kann man heute einen Geniestreich wie Händels Oper über die Liebeskonfusionen um den persischen König Xerxes wieder annähernd so hören, wie er wohl zu Händels Zeiten geklungen haben wird: schneidig, farbig, um Nuancen nicht verlegen. Jubel über Jubel, auch und gerade für die Sänger: für Susanne Kreusch, die einen sehr „männlichen“, drahtigen jungen Mann Serse mit äußerst ansprechendem Ton gab („nicht ohne meinen Kamm“), für Jean-Michel Fumas als leidender Arsamene – was für ein butterweicher Counter! – , für Luciana Mancini, deren dunkler Alt nicht nur (wenn auch nur am Ende) den König betörte, für Paula Turcas als quecksilbrige Romilda, für Heidi Maria Taubert, deren Atalante – ein blondes Gift als Goldpüppchen à la Marilyn Monroe – der Romilda an vokaler Sopranbeweglichkeit nicht nachstand, für Florian Götz, den komischen Diener des Abends (der leider in einer dramaturgisch wichtigen Enthüllungsszene, aber das war in dem modernen Konzept wohl nicht zu machen, nicht als Charleys Tante auftrat), und für Matthias Vieweg, dessen Spiel-Baß, falls es so etwas im Händel-Barock gibt, erfreute wie beeindruckte.

Irritierende Videos

André Bückers Inszenierung aber, die er zusammen mit der Ausstatterin Imme Kachel und dem Videomacher Frank Vetter gemacht hat, sie kam bei fast allen, aber doch nicht bei jedem Zuschauer an. Vielleicht waren es die Videoeinspielungen, die manch älteren Herren irritierten – doch boten die nicht nur ironischen Einspielungen des rückseitigen Videoauges nur jene Ablenkungen, denen man bequem aus dem Wege gehen konnte, wenn man sich auf das Wesentliche konzentrierte: den singenden Menschen, wie man pathetisch sagen könnte – und spielen konnten sie alle an diesem musikdramatisch erfüllten Abend. Nicht nur ironisch – denn Händels „Serse“ ist eine Komödie mit doppeltem Boden, der mitunter das authentische Pathos „echter“ Gefühle durch die Komödie durchblitzen lässt. Die Videobilder haben dabei ihren gewichtigen Anteil: Wenn die Flugzeuge der Iranischen Luftwaffe und die am iranischen Präsidenten vorbei marschierenden Soldaten taktgenau eine Arie begleiten, ist das so dekorativ lustig wie letzten Endes erschütternd martialisch.

Natürlich ist es witzig, wenn nach „Ombra mai fù“, jenem zur Hochzeits- und Begräbnisschmonzette herabgekommenen Larghetto, ein Ausschnitt aus Disneys „Alice-in- Wonderland“-Verfilmung – mit eingebautem Kindchenschema – abläuft.

Singt Arsamene eine Eifersuchtsarie, so sehen wir auf poetisch wogende Weizenfelder, die eine Hand streift. Ein Gockel und ein ein Staatsmännerkaleidoskop charakterisieren, nicht sinnlos, den Serse, Lavaströme die Glut der Gefühle, Wikinger Wicky den Elviro. Geheimnisvoll poetisch wird es, wenn eine seltsame, wie von Jean Cocteau erfundene Gestalt in einem schwarz-weißen Traumgarten umherwandelt: Die Verwirrung der Gefühle zwischen Furcht und Hoffnung scheint vollkommen, und wie anders als durch grotesk übersteigerte Bilder könnte man besser die wahrhaft furiosen Vernichtungsfantasien eines Mannes bebildern, der sich gerade im Irrgarten seiner Gefühle verlaufen hat? Dafür genügen allein Godzilla, King Kong und grauenerregende Aliens, die Furien des 20. Jahrhunderts. Man muss „nur“ den gesungen Text und die kongeniale Vertonung ernst nehmen.
Die Musik beglaubigt den Bilderrausch mit jenem Tempo und jener Poesie, die Händel in seine Meisterpartitur hineinlegte. Wer sich konzentrierte, konnte das Wesentliche mitbekommen, wozu auch jene Grenzsituation gehörte, in der der König die Frau, die er mit seiner Verliebtheit verfolgte, mit einem Kissen zu ersticken drohte. Was aber bleibt, stiftete auch in dieser Inszenierung, dem „lieto fine“, also dem glücklichen, der Gattungskonvention gehorchenden Ende, die Liebe: mit einem Atompilz auf der Mattscheibe, der wohl weniger die Katastrophe als das explodierende Kraftwerk der Gefühle zu versinnbildlichen hatte. Ein schönes Bild – und das musikgetreue Finale einer Inszenierung, in der Musik und Moderne, Schauspiel und Oper außerordentlich kurzweilig zusammenkamen.

Die zwei Gesichter der Perser

Thüringische Landeszeitung, 8.6.2009

Halle/Bad Lauchstädt. (tlz) "Crisis! What Crisis?" würde Mr. Handel aus London verwundert fragen, triebe es ihn - oder seinen Geist - dieser Tage zurück in die alte Heimat, nach Halle. Dortselbst feiert man ihn, den größten Sohn der Saalestadt, mit Pomp and Circumstances wie einen Pop-Star. Den Anlass stiftet sein 250. Todestag - so ist 2009 unstrittig ein Händel-Jahr. Die Granden der Alten Musik geben sich ein Stelldichein, im Oktober erweist sogar la Diva divina, Cecilia Bartoli, den Hallensern ihre Gunst. Am Programm wurde trotz Finanzkrise nicht gespart; die anhaltende Händel-Hausse zeitigt soeben ihren Kulminationspunkt. 50 000 Besucher werden mit dem Abschlusskonzert am kommenden Sonntag allein die diesjährigen Händelfestspiele erlebt haben. Da herrscht Andrang wie nie zuvor; binnen fünf Jahren wurde die Zuhörerzahl um 40 Prozent gesteigert. Nur für einige der insgesamt 59 Veranstaltungen gibt es, wie eine Sprecherin gestern mitteilte, noch wenige Restkarten.

Dabei war Georg Friedrich Händel zu Lebzeiten anderes gewohnt. Zweimal hat er als Opernunternehmer in London Pleite gemacht und 1741 sogar vor den Gläubigern Reißaus nehmen müssen, um in Irland dem "Messias" zu huldigen. Und 1721, als der krisengestählte Tonsetzer den "Floridante" am King´s Theatre uraufführte, herrschte in der Weltmetropole an der Themse noch Depression. Im Jahr zuvor war eine Spekulationsblase mit Übersee-Anleihen geplatzt und manch betuchter Subskribent der Academy of Musick - auch Händel selbst - davon betroffen.

Inzest in "Floridante" ist kein Skandal mehr

Trotzdem besetzte man die Titelpartie mit dem Star-Kastraten Senesino, und die neue Oper brachte es auf 15 Aufführungen - ein mittelprächtiger Erfolg, immerhin. Denn in London galt Händel zu dieser Zeit nurmehr als zweite Wahl, lieber goutierte man Bühnenwerke von dessen großem Konkurrenten Giovanni Bononcini. - Tempi passati. Zumal in Halle ist heuer alles anders.

Dass ein finster-perverser Perserkönig namens Oronte seiner Ziehtochter Elmira erotische Avancen macht, gilt in unserer genetisch aufgeklärten Epoche, im Gegensatz zum Barock, nicht mehr als Inzest-Skandal. Eher erregen wir uns über den despotischen Machtgebrauch des antiken Orientalen, wie er seinen Feldherrn Floridante, Elmiras Verlobten, ohne Angabe jeglicher Gründe - schon gar der wahren - in die Wüste schicken und aus politischer Opportunität seiner leiblichen Tochter Rossane die Ehe mit dem Tyrerkönig Timante verbieten will. Da sind wir von den Royals heutzutage liberalere Verhaltensformen gewohnt.

Auch den durchaus renommierten Regisseur Vincent Boussard haben derlei familiäre Verstrickungen augenscheinlich nicht interessiert. Steif stellt er sein Personal in barockisierten Kostümen auf die leere Bühne vor eine Spiegelwand, als gelte es, durch ästhemierte Zurücknahme jeglicher Aktion bloß den Gesang nicht zu stören. Elmira und Floridante sind derart heiß aufeinander, dass im innigsten Moment des ersten Akts sich - ach! - ihre Nasenspitzen berühren. Zweimal indes schreckt Boussard die Zuschauer auf, indem ein Stuhl umfallen darf: als Floridante den Befehl zur Demission entgegennimmt und als Oronte Elmira seine perfiden Hochzeitspläne eröffnet.

Dass zum lieto fine, nachdem die wirklich sich Liebenden zueinander gefunden und den üblen Autokraten vom Thron verjagt haben, vom Schnürboden rote Papierschnipsel regnen, mag jeder Romantiker als banalen Effekt ignorieren. Nur einmal an diesem dreistündigen, drögen Abend entspinnt sich ein magischer Augenblick im Liebesduett zwischen Rossane und Timante: deren Stimmen sich wunderbar zärtlich umschlingen, als sie in wollüstiger Turtelei wie die Tauben zu sein geloben, aber just, als ihre von glutvollem Singen befeuerten Extremitäten sich gleichermaßen innig verstricken, ins Straucheln geraten. Wie schade.

Von den sechs Seria-Solisten, die aus dem Mozartfach stammen, vermochte keiner zu überzeugen. Nicht Mariselle Martinez in der Titelpartie, die trotz enormer Registerspannweite eher bescheidene intonatorische Qualität offenbarte, und schon gar nicht Virpi Räisänen mit ihren brüchigen Koloraturen als Elmira. Am ehesten akzeptierte der Barockfreund den stabilen Bass des Hallenser Lokalhelden Raimund Nolte als Oronte und den mädchenhaften Sopran Sonya Yonchevas als Rossane. Dirigent Christopher Moulds traktierte das Händelfestspielorchester, das sich aus Spezialisten der örtlichen Philharmonie zusammensetzt, mit akademischer Sprödigkeit und übermäßigen Tempi, so dass die bekannte Klangseligkeit dieses Ensembles selten zum Tragen kam. Für eine solche "Floridante"-Produktion würde man jedem Stadttheater gern Respekt zollen. Nur festspieladäquat ist sie nicht.

Katschner-"Swing" im Goethe-Theater

Im diametralen Gegensatz zum Wüterich Oronte steht dessen Amtskollege Serse: So verträumt und so verliebt, so schüchtern und so geschmeidig gebildet, zeigt dieser antike Regent bei Händel das andere, ungleich charmantere Antlitz der persischen Hochkultur. Über dem Liebeswerben um die holde Romilda gerät ihm sogar der Kriegszug gegen die Griechen aus dem Sinn. Während wir aber heutzutage die "Serse"-Komödie nicht zuletzt wegen ihres das Krisengetöse mild überdeckenden, morgenländischen Exotismus zu schätzen wissen, fiel ihr Schöpfer in London damit 1738 beim Publikum durch. Ein Flop! Händels Stern als Opernkomponist stand kurz vorm Erlöschen, schon machten Kollegen sich mit Parodien über ihn lustig. Povero, caro Sassone! Im kleinen Bad Lauchstädt indes wurde ihm nun späte Genugtuung zuteil.

Unter regelmäßigen Besuchern der Händelfestspiele werden Wolfgang Katschner und seine Lautten Compagney längst nicht mehr als Geheimtipp gehandelt. Aber wie herrlich animiert, mit welch grandiosem Witz und Geschmack die Berliner im Verein mit Regisseur André Bücker ihren "Serse" auf die Bühne des kleinen Goethe-Theaters zauberten: Das hatte kaum jemand erwartet. Schon bei den ersten Takten der Ouvertüre - äußerste Transparenz, klug differenzierte Dynamik, federndes B.c.-Fundamant - stellte sich der bei Fans berühmte, tänzerisch inspirierte Katschner-"Swing" ein. Das trug durch drei Stunden - wie im Rausch.

Und dann, in der Titelpartie: Susanne Kreusch. Nachträglich niederknien möchte man vor diesem anmutig schlanken Mezzosopran, der mit der gläsernen Auftrittsarie "Ombra mai fu" den Hörern den Atem stocken ließ. Der Kastrat Caffarelli, der seinerzeit mit Händel über die affektarme Schlichtheit zankte, muss dagegen ein Dilettant gewesen sein.

Sternstunde der Barock-Amüsierlust

Dazu bot Katschner ein in jeder Hinsicht bravouröses Solisten-Ensemble auf: Paula Turcas als Romilda, ein aufreizendes Luxusweib, deren Stimmbänder alle Koloraturakrobatik mit leichter Behendigkeit absolvierten; Heidi Maria Taubert als Atalanta, ein mondänes Geschöpf, so kokett wie gerissen; Jean-Michel Fumas als sehrender Altus-Nebenbuhler des Königs; schließlich die feurige Luciana Macini als von Serse verschmähte Amastre, der bewährte Sonneberger Matthias Vieweg in der Partie Ariodates und Florian Götz als Diener Elviro, der bei Bedarf auf der Bühne auch mal die Clarintrompete zu spielen weiß. Und so famos im Gesang, so herzhaft spielfreudig gaben die Akteure sich auch.

André Bücker, seines Zeichens Intendant in Dessau, genügt als Interieur auf der kaum wandelbaren, historischen Bühne eine dekadent-orientalische Kissenlandschaft. Dazu kredenzt er mit assoziativen Videobildern eine zweite Kommentarebene zur Musik. So geriet diese tosend beklatschte "Serse"-Aufführung zu einer Sternstunde wahrhaft barocker Amüsierlust. - Krise? Welche Krise. Davon spürt man bei der Lautten Compagney schier gar nichts: Qualität, wie man weiß, setzt sich durch.

Vom sterilen Spiegelland zum persischen Polster-Palast

«Serse» und «Floridante» konkurrieren in Bad Lauchstädt und Halle
Mitteldeutsche Zeitung Halle, 07.06.09
VON ANDREAS HILLGER

HALLE/MZ. Persien ist ein fernes Land - geografisch ebenso wie moralisch. Wenn man Händels Librettisten glauben darf, dann ist die Verbannung eines Nebenbuhlers dort ein übliches Mittel zur Liebes-Werbung in höchsten Kreisen. So sieht man es nun in der halleschen Opern-Produktion "Floridante", so erlebt man es im Goethe-Theater Bad Lauchstädt beim "Serse". Doch in dieser Grundkonstellation erschöpfen sich die Parallelen zwischen beiden Inszenierungen. Denn was Vincent Boussard in der Oper arrangiert hat, gefällt sich über weite Strecken in delikaten Standbildern und Reflexionen. Schon vor der Ouvertüre ist in Vincent Lemaires Einheitsraum eine festliche Tafel gedeckt, die später zum Spiegel und zur Schlachtbank werden soll. Dass dieser offene Beginn später durch exzessiven Gebrauch des Vorhangs gekontert wird, legt freilich auch die Grenzen des Konzepts offen: Die klaustrophobische Stimmung, die der schwarze Glanz der Wände steigern soll, wird durch die filmisch gemeinten Cuts beschädigt. Die scheinbar in der Szene gefangenen Figuren werden samt der Konflikte ausgeblendet. Auch der minimalistische Einsatz von Requisiten, die gelegentlich einen Hauch von Rot in das Schwarz-Weiß mischen, erschöpft sich. Und so bleibt es bei einer sterilen Versuchsanordnung, in der bloße Anwesenheit zur tieferen Bedeutung erhoben wird.

Barfuß gegen Schuhe

Dass sich die Haltung der Akteure über das Schuhwerk definiert - Zivilisten gehen barfuß, Soldaten sind besohlt - ist bezeichnend für diesen Ansatz, in dem ein stürzender Stuhl schon zu den drastischsten Effekten zählt. Da nimmt es kaum wunder, dass auch die Protagonisten lange mit einer Grundhaltung auskommen: Mariselle Martinez verstärkt die Indifferenz ihrer Titelpartie durch ein seltsam kehliges Timbre, Virpi Räisänens Elmira hat das Lamento verinnerlicht - und Elin Rombo als Timante sowie Sonya Yoncheva als Rossane sind auch stimmlich das glücklichere Paar. Dass Raimund Noltes Oronte das Kraft-Zentrum in dieser lyrischen Versammlung bildet, sichert dem Bösen die Sympathien. Das Leben aber findet im Graben statt - dort, wo Christopher Moulds das Händel-Festspielorchester mit nicht nachlassender Energie motiviert. Hier werden große Emotionen und starke Affekte behauptet, die den blutarmen Bildern widersprechen - eine Diskrepanz, die dem Ensemble am Ende Jubel und dem Regie-Team eine Melange aus Buh und Bravo einträgt.

Einhelliger fällt die Reaktion am nächsten Nachmittag in Bad Lauchstädt aus, als die Lautten-Compagney mit einem wunderbar spiel- und gesangsfreudigen Ensemble den "Serse" präsentiert. Wo Boussard den künstlichen Mangel verwaltet, inszeniert André Bücker den Überfluss: Seine Figurenführung strotzt von übermütiger Komik - und die Affekte des MTV-Zeitalters laufen als Videoclip permanent mit. Schon die ersten Bilder klären hier das Ziel der Reise: Da verwandelt sich der Barockkomponist in den Metallica-Meister James Hatfield, bevor koloniale Orient-Phantasien auftauchen. Heavy Händel also ist angesagt!

Illustrativ und assoziativ, arabesk und kommentierend begleiten diese bewegten Emoticons fortan die Szene - und rücken das in einem orientalischen Polster-Palast (Ausstattung: Imme Kachel) versammelte Personal in ein sehr hiesiges und heutiges Persien. Zwischen Neuronengewittern und Lavströmen blitzen immer wieder Politiker-Köpfe samt der dazugehörigen Großmachts-Phantasien auf, Serses "Ombra mai fu" besingt am Anfang einen Baum, der am Ende einem Atompilz gleicht. Und dass die Brücke über den Hellespont - dieses Monument der Hybris - der Dresdner Waldschlösschenbrücke gleicht, ist ebenfalls kein Zufall.

Öl in Haaren und Stimme

Selten wurde in einem "Serse" mehr gelacht als hier: Susanne Kreusch trägt das Öl nicht nur in ihrer wunderbaren Stimme, sondern auch in den Haaren, Paula Turcas und Heidi Maria Taubert liefern sich einen schwesterlichen Zickenkrieg auf Topmodel-Niveau und Jean-Michel Fumas balanciert als Arsamene gekonnt auf den Gender-Grenzen. Dass Luciana Mancini unter ihrem Kampfanzug die Selbstverletzungen einer ungeliebten Frau versteckt, ist ebenso stimmig wie die Figur des Profi-Kriegers Ariodate, den Matthias Vieweg unter wechselnden Helmen vorstellt. Florian Götz darf als Elviro schließlich sogar zwischen den Stilen switchen und macht seinen stotternden und trompetenden Diener so zum Publikums-Liebling.

Wolfgang Katschner aber spielt mit seiner Lautten-Compagney wie entfesselt: Da sitzt und passt alles, da werden rasante Tempi gewagt und gewonnen, da zeigt sich der ganze Klangkörper athletisch und austrainiert. Die Traurigkeit aber schwingt als Leere im knallbunten Entertainment immer mit - und wird nicht nur durch die zeitgemäßen Übertitel, sondern auch durch den finalen Glattstrich verstärkt. Denn während die Paare dem Flower-Power-Leitsatz "Make Love, not War" huldigen, fängt hinter ihnen schon der nächste Krieg an ...

zu „Waffenwetter“

Drei Claudias in Alaska

FAZ, 20. April 2009
Von Martin Halter

Wie andere Teenager trägt Claudia schrille Anoraks und coole Pelzmützen, giggelt mit ihrer Freundin Steffi, hat Sex mit ihrem Lehrer und kennt alle Viva-Klingeltöne. Aber weil sie eine superkluge Abiturientin und Adoptivtochter aus linkem Hause ist, interessiert sie sich doch mehr für Technik und Dialektik der spätkapitalistischen Kulturindustrie als für Dieter Bohlen. „Im mündlichen Kommunismus bin ich spitze“, sagt die angehende Physikstudentin stolz, und das gilt auch für die Psychophysik von Betastrahlen und Schumann-Resonanz. Noch altklüger als Claudia ist nur ihr Großvater Konstantin, der Millionär und Hardcore-Kommunist. Der Generationenvertrag funktioniert perfekt: Die Enkelin erledigt den Behörden- und Computerkram, der Opa unterrichtet sie dafür in schriftlichem Kommunismus. Was Lenin, Stalin und die Bibel noch wussten (und die „tageszeitung“ leider nicht mehr): Bildungs- und Klimakatastrophen gehen aufs Konto von Staat und Kapital; Kritik und Widerstand von Intellektuellen sind so zwecklos wie unprofessionell. Bürgerinitiativen, Anarchisten, Autonome und das ganze linksliberale Gesocks spielen dem Klassenfeind in die Hände: Ohne Partei, Plan und Berufsrevolutionäre kann man nichts gegen den militärisch-industriellen Komplex ausrichten. Soweit Dietmar Daths Roman „Waffenwetter“, im Studio des Mannheimer Nationaltheaters auf die Bühne gebracht von André Bücker. Der Äquivalententausch von altkommunistischem Erfahrungswissen und jugendfrischer Gören-Energie funktioniert umso besser, als es keine Realität außerhalb von Claudias Kopf gibt: Der bolschewistische Almöhi ist in Mannheim nur das Hirngespinst einer Heidi auf dem Drogen- oder Emanzipationstrip. Zum Abitur schenkt er ihr eine Bildungs- und „Spionagereise zur derzeit wahrscheinlich größten Schweinerei auf Erden“, und das ist keine so gute Idee. Das Ziel ist HAARP, ein gut gesicherter Antennenwald in Alaska, wo Militär, Geheimdienste und andere Teufel die ahnungslose Welt aushorchen, Wetter und Bewusstsein mit Mikrowellen und Verblödungsstrahlen manipulieren. Die negativen Schwingungen der Riesenwindmühle verrücken auch die Identität und ideologischen Gewissheiten von Don Quichotte und seiner Knäppin.

Furiose konspirative Performance im Mädchenzimmer

Ines Schiller, Isabelle Barth und Dascha Trautwein als die drei Claudias Auf der Drehbühne, die ein Mädchenzimmer verbirgt, geht es bald so hochfrequent rund wie bei einem Strahlenkrieg zwischen Captain Kirk und Perry Rhodan. Auf den Wänden flimmern Videos mit Explosionen und Feuerbällen, grüne Linien und weißes Rauschen, die verwackelten Köpfe von Petra Kelly und Lenin. Irgendwann ist der Großvater verschwunden und mit ihm jede Ordnung und bürgerliche Logik: Claudia ist plötzlich Cordelia, die Lieblingstochter von King Lear, eine Undercover-Agentin aus dem sowjetischen Klonlabor oder auch eine Art Lara Croft, die mehr „Waisenkinder der Verschwörung“ adoptiert als Angelina Jolie. Dass die hyperaktive, schizophrene Claudia sich in drei Figuren aufspaltet und dabei - mit doppelter Kassenbrille und einem Stapel Bücher unterm Arm - auch die Rolle ihres Lear-Opas übernimmt, ist kein schlechter Schachzug. Die Stimmen in ihrem Kopf überlagern und fügen sich trotz mancher Durststrecken immer wieder zu einer kakophonischen Sphärenharmonie. Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein schaffen solo und im Chor nicht nur riesige Textmassen weg (und stolpern nur ganz selten über Wörter wie „Phasensimulation durch externe Stimuli“): Rote Fähnchen schwenkend und Fäustchen ballend, beamen sie mit ekstatisch leuchtenden Augen, wissendem Kichern und rhythmischer Punk-Gymnastik einen kopflastigen Text in eine andere Dimension - die furiose konspirative Performance im Mädchenzimmer. Weil auf der Bühne, erklärt der Materialist Dath im Programmheft, Praxis mehr als idealistische Theorie zählt, sei das Theater „ausnehmend gut geeignet“ für die Erfahrbarmachung seines Romans. Bückers Experiment bestätigt das bis zu einem gewissen Grad. Die HAARP-Festung wird in Mannheim zwar nicht gestürmt, aber der rote Großvater kann zufrieden sein. Seine herumalbernden Enkelinnen fechten den Kampf um die Köpfe vielleicht nicht besser, aber lebendiger aus als auf dem Papier.

Walküren im Sprachnebel

Süddeutsche Zeitung, 20.4.2009
Verschwommen: Dietmar Daths Roman „Waffenwetter“ am Nationaltheater Mannheim
von Jürgen Berger
So alt ist er nun wirklich nicht, dass Dietmar Dath es unbedingt nötig gehabt hätte, dem Mädchen auch noch einen Hang zu älteren Männern mit auf die Reise zu geben. Claudia hat Sex mit einem Englischlehrer und macht es mit ihm gerne auch im Auto. Und sie beschäftigt sich intensiv mit dem basissozialistischen Gedankengut ihres Großvaters, diesem "vergreisten Bolschewiken" und Millionär, der sich von allen Seiten bespitzelt fühlt und vermutet, das sogenannte HAARP in den Bergen Alaskas sei eine Hochfrequenzkanone, mit dem das Pentagon das Wetter und das Denken der Menschen verwirrt. Da muss er mit seiner Enkelin hin und für Aufklärung sorgen. Dass der Großvater ein paranoider Rentner-James-Bond ist, hat man schnell kapiert. Claudia dagegen ist eine Ich-Erzählerin, die enthemmt quasselt, sich aber trotzdem einige geheimnisvolle Seelenwinkel bewahrt hat.
Die beiden Figuren aus Dietmar Daths Roman "Waffenwetter" transportieren groß angelegte Gedankenspiele im Format der Kleinschreibung. In der ersten Hälfte des Buches, das um die rebellische Claudia und ihre Expedition ins Herz einer nordpolaren Verschwörung kreist, funktioniert das insofern prima, als Dath atemlos in heutige Girliewelten eintaucht. Man versteht, warum deutschsprachige Theater derzeit so nach den Texten des ehemaligen Spex-Chefredakteurs und Ex-Redakteurs der FAZ greifen. Dath schreibt schnell, und die Bühnen eignen sich das Geschriebene im Moment genauso schnell an. In Mannheim kam am Wochenende eine Bühnenadaption von "Waffenwetter" (2007) zur Uraufführung; Leipzig war etwas schneller und dramatisierte bereits im Februar den essayistischen "Maschinenwinter" (2008). In der nächsten Spielzeit kommt "Die Abschaffung der Arten" (2008) zuerst in Mainz und dann am Deutschen Theater in Berlin auf die Bühne.

Das ist gut für Dath - ob die Theater sich über den Umweg seiner Epik mehr Welthaltigkeit einverleiben können, wird sich weisen. In Mannheim allerdings ist das im ersten Moment gar nicht die Frage. Dass man einfach nur da sitzt und staunt, hat mit drei Schauspielerinnen zu tun, die als dreifaltige Claudia derart durchs kleine Reich des hochintelligenten, sensiblen Mädchens wirbeln, dass man sich fühlt, als werde man mit ihrer Lebenswelt angefüttert. Dass das so ist, liegt an Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein, die sich in Daths Sprache so wohl fühlen wie lebenshungrige Mädels im Chatroom. Es hängt aber auch mit der Bühnenfassung von André Bücker und Ingoh Brux zusammen, was eigentlich paradox ist, da die beiden sich auf der nach oben offenen Bearbeitungsskala eher im Erdgeschoss bewegen.
Verschwurbelte Apokalypse
Der Regisseur und sein Dramaturg haben lediglich gekürzt und den Text auf die dreifache Claudia verteilt. Das freut den Verleger, wirft aber doch die Frage auf, wann eine Adaption als solche durchgehen kann und ob die kluge Verteilung der Sprechparts nicht die eigentliche dramaturgische Leistung der Mannheimer Dath-Session ist. Zuerst einmal stellt sich diese Frage allerdings nicht. Immerhin ist das so fein gemacht, dass die in und um Claudia herumwirbelnden Figuren im runden und mit Videoprojektionen angereicherten Phantasiereich der Bühne kaleidoskopisch auftauchen und verschwinden.
Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein wechseln Haltungen, Temperamente und Sprechweisen. Claudias Freundin Steffi etwa ist ein im Drogennebel ruderndes Mädchen, bevor Opa Konstantin wie ein grantelndes Faktotum über die Bühne geistert oder die multiple Claudia ihrem Englischlehrer nebst dessen ahnungsloser Gattin bei einer Vernissage begegnet und das Mädchen sich krümmt und windet, als verbiege die Lüge ihr den Leib. 19-jährige Sinnsucherinnen können halt noch nicht so gut die Wahrheit verbergen wie erwachsene Lügenkünstler.
Das hätte so weiter gehen können, wäre Daths Roman nicht ein hybrides Wesen. Aus dem mit sozialistischen und physikalischen Theoremen unterfütterten Bildungsroman wird ein Politthriller mit surrealem Einschlag. Diese Gratwanderung hält schon der epische Text kaum aus. In Mannheim inszeniert André Bücker, der designierte Intendant des Dessauer Theaters, bis zur Alaska-Episode eine wundersam changierende Bühnenerzählung. Sobald aber das tatsächlich existierende HAARP zum Brandbeschleuniger einer ausufernden Story wird, verschwimmt die Aufführung in Daths Sprachnebel.
Eigentlich müsste Claudia, wenn es in Alaska zur Sache geht, eine Lara Croft sein, die ganz nebenbei auch etwas erwachsener wird. Auf der Bühne umsetzbar wäre das wohl nur gewesen, hätte die Inszenierung sich vom Roman entfernt. Da dies nicht geschieht, bleibt nur die von Dath konzipierte verschwurbelte Apokalypse. Wir lernen, dass Claudia nicht von ungefähr einen altkommunistischen Großvater hat, sondern in einer sowjetischen Zuchtanstalt mit einem ganzen Bündel von Schwestern für den Spionageeinsatz im feindlichen Westen gezeugt wurde. Zwei ihrer Schwestern trifft sie in Alaska wieder; die Inszenierung deutet dies dadurch an, dass plötzlich Walküren am Nordpol herumtoben. Der Rest allerdings ist schierer Dath-Vollzug. Da flimmern die HAARP-Strahlungen, die zuvor noch so schön wie eine Matrix über dem Schauspiel geisterten, nur noch wie ein aufgesetztes Bild, während Inszenierung und Roman doch etwas durchhängen.

Trügerische Spiele

Stuttgarter Nachrichten, 20.04.09
von Nicole Golombek
Drei junge Frauen in Daunenjäckchen und Reifröcken bewegen sich ekstatisch künstlich und treten vor ein labyrinthisches Gebilde mit Flimmerbildern wie einst nächtens im Fernsehen nach Sendeschluss. Sie stehen nebeneinander und ihre Rede ist bedeutungsschwer.
Dies ist der Beginn der Uraufführung von Dietmar Daths gefeiertem Roman "Waffenwetter" am Freitag, den Regisseur André Bücker und sein Dramaturg Ingoh Brux für das Mannheimer Nationaltheater bearbeitet haben. Es ist ein trügerischer Beginn, denn so schülertheaterhaft bleibt der Abend keineswegs. Und so mag man fast an eine gewollte Irreführung glauben, denn auch Daths Roman aus dem Jahr 2007 wartet mit jeder Menge falscher Fährten, Spiegelungen, Figurenverdopplungen und -spaltungen auf. Dath sampelt Teeniesex mit Verschwörungstheorien, Zitaten aus der Bibel und aus Shakespeares "Lear". Der komplexe Text handelt von den Pubertäts- und Liebesproblemen eines Mädchens namens Claudia, die mit ihrem kommunistischen Großvater Konstantin zusammenlebt. Der schenkt ihr zum Abitur eine Reise nach Alaska - Fahrt ins Eis, ins Chaos, ins Nichts, so viel Metaphorik muss sein.
Dort gibt es einen Antennenwald, ein Geheimprojekt, von dem Konstantin glaubt, dass er Wetter macht, Gehirnströme manipuliert oder dass dessen Besitzer auf andere Weise das Leben von Menschen beeinflussen. Wie sind Kontrolleure der Welt zu kontrollieren?, auch das fragt der Abend, der im Reiseteil immer mehr fantastische Wendungen nimmt.
Der Regisseur versucht nicht, den Text zu vereinheitlichen. Alle Fragen sind auch nach dem zweistündigen Theaterabend nicht beantwortet. Auch die Entscheidung, Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein Claudia verkörpern zu lassen, erweist sich als plausibel, da das Mädchen sich selbst begegnet und die Möglichkeit angespielt wird, dass Claudia als Teil eines Klonprogrammes mit 16 Schwestern gesegnet sein könnte. Da Identitäten brüchig sind, übernehmen sie außerdem die Rolle des Großvaters (mit Hornbrille und leicht besserwisserischem Ton) und die der Freundin, die definitiv zu viele Drogen schluckt.
Spielfreudigst verwandeln sich die Akteurinnen mit wenigen Requisiten und mit vollem Körpereinsatz auf der multifunktionalen Bühne von Jan Steigert, die sich durch Projektionen auf dem Rondell vom Kinderzimmer zum Hotel, vom Wald zum Bunker verändern lässt. Trotz mancher dramaturgischen Schwächen in Szenen, in denen die notwendig abstrakten Abhandlungen über Hochfrequenzwellen und militärische Geheimprojekte in Monologen prätentiös aufgesagt werden, überzeugen die drei Schauspielerinnen in einer fabelhaften Ensembleleistung, wenn sie über Liebe, Hass, Politik räsonieren.

Die Claudia als Wille und Vorstellung

Nachtkritik.de, 17. April 2009
von Tomo Mirko Pavlovic
Claudia ist ein Mensch, der nicht erzählt werden kann. Weder im Roman noch auf der Bühne. Denn Claudia ist eine einzige Vorstellung von sich selbst, von ihren Möglichkeiten, von fremden Träumen, von unseren Sehnsüchten. Will man die eine Claudia verstehen oder gar spielen, erklingt sofort eine zweite oder dritte Stimme, welche die erste übertönt, überlagert. Es kommt zu ungeahnten Verstärkungen, reizvollen Interferenzen, und man meint dann, etwas Bedeutendes herausgehört zu haben, vielleicht diesen einen klaren, dominanten Ton – so etwas wie eine Geschichte.
Zum Beispiel jene von einer jungen, hoch begabten Claudia, die bald Abitur macht, mittelguten Sex mit ihrem Lehrer im Auto hat und dabei oben liegen möchte. Oder die Story von einer Claudia, die einen stalinistischen, paranoiden und äußerst reichen Großvater namens Konstantin hat, der sich einbildet, in Alaska existiere eine monströse Antennenanlage der Amis, die mit ihren Hochfrequenzwellen unser Wetter, die BBC, die Ionosphäre sowie unser kapitalistisches Bewusstsein erforscht und manipuliert.
Ein Stimmenteppich. Eine Phantasmagorie
Oder die Vermutung, unsere Hobby-Physikerin Claudia sei gar das fehlgeschlagene Ergebnis eines geheimen sowjetischen Menschenzüchtungsprojekts und von ihren 16 Klonschwestern könnten noch mindestens zwei Ableger jederzeit an der Tür klopfen, im Badezimmer aus dem Spiegel lächeln oder mit Konstantin als sabotierendem Racheengel Lara Croft nach Alaska reisen. Mit anderen Worten: Claudia ist alles und nichts zugleich. Ein Trauma. Ein Schulmädchenreport. Eine Phantasmagorie. Ein Stimmenteppich. Ein poetologisches Programm.
Und sicherlich eines der bemerkenswertesten Hirngespinste von Dietmar Dath. Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Spex" und FAZ-Feuilleton-Mitarbeiter veröffentlichte 2007 den Roman "Waffenwetter", in dem er mittels eines fragmentarischen Tagebuchs den oszillierenden Gedankenkosmos dieser multiplen Persönlichkeit Claudia ausbreitet. Die einzelnen Erzählstränge münden am Ende in einen höchst amüsanten Sci-Fi- und Spionageroman mit apokalyptischen Anklängen.
Sternschnuppen im Schacht
"Waffenwetter" ist auch ein wundervolles literarisches Blendwerk, das sich immer wieder liest wie das Exposé eines hysterischen "Jugend-forscht"-Teilnehmers, der mit seinen physikalisch-rhetorischen Exerzitien vor allem Leute beglückt, die bei Dath'schen Satzfetzen wie "der niederstfrequente schwingungsmodus der schumannresonanz liegt bei etwa 7,83 hertz" oder "wie sieht es aus mit phasenmanipulation durch externe stimuli" eines dieser verloren geglaubten Perry-Rhodan-Hochgefühle an einem Sonntagmorgen bekommen: Man schaut in eine Mikrowelle und sieht im dunklen Schacht plötzlich Sternschnuppen. Nicht anders erging es einem bei der Uraufführung von "Waffenwetter" im Werkhaus des Mannheimer Nationaltheaters.
Aus der Nacht einer kleinen Studiobühne erscheinen drei Schauspielerinnen, die das Unmöglich scheinende hinbekommen: Daths Text nicht nur aufzusagen, sondern mit Ausnahme einiger schwacher Momente auch zu verkörpern. Und das Personal ist ja nicht ohne: da gibt es Opa Konstantin und gefühlte zwei Dutzend Claudias, nicht zu vergessen ein verferkelter Lehrer mit Verantwortungsscheu und Ehefrau; und schließlich einen Fummelfreund namens Ralf, der nach dem Lehrer dran ist, gut küsst, auch auf dem Rücksitz, aber leider zu früh kommt.
Der legitime Erbe von Rainald Goetz
Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein fühlen sich am wohlsten, wenn sie gemeinsam genau in diesen Bewusstseinstrom der jugendlichen, noch pubertierenden, altklugen Claudia tauchen und das scheinbar Alltägliche auskundschaften. Sie nehmen Drogen, streicheln ihre Körper, krümmen sich wie Embryos. Als Claudia Nr. 1 ihrem Geliebten, dem Lehrer, und seiner unwissenden Ehefrau im Kunstmuseum zufällig begegnet, heuchelt sie Desinteresse, fühlt aber den Schmerz, den Claudia Nr. 2 und 3 im Hintergrund mit ziemlich witzigen Kampf- und Prügelgesten verdeutlichen.
Und noch etwas geschieht in solchen Szenen mit "Waffenwetter": Man darf auch mal lachen. Humor also. Und das bei einem Autor, den nicht wenige Rezensenten als legitimen Erben von Rainald Goetz betrachten. Was dem Romanautor nicht gelingen will und darf, weil er seiner Skepsis gegenüber jeder psychologischen Aneignung der Figuren Tribut zollen muss, wird in den Gesten und Reden der drei Schauspielerinnen im Werkhaus zu einem echten Stück im "Stück", einer Erzählung.
Einblick in die Zeit
Die gelungene Bühnenfassung destillierten André Bücker (Regie) und Ingoh Brux (Dramaturgie) aus dem Roman. Ansonsten vertrauen die beiden dem ambivalenten Text, der jede Schlussfolgerung gleichermaßen zulässt. Am Anfang jeder diskursiven Expedition steht allerdings ein simples Bett inmitten eines Jugendzimmers (Bühne: Jan Steigert), das auf einer Drehbühne mit Projektionsparavans Einblicke gewährt: in die Seele, in die Zeit.
Auf den Leinwänden flackern Amplituden, Winterlandschaften, Rudi Dutschke und Benno Ohnesorg, Assoziationsbeschleuniger, die den drei Damen vor allem dann helfen, wenn es wieder mal eine ausgiebige Mauerschau gibt, irgendwo im Publikum die Sendemasten explodieren und die Gefühle implodieren und sich der Text mal wieder nicht so geschmeidig gibt, die physikalischen Fachtermini wie eine halb erinnerte Fremdsprache aus den Mündern plumpst.
Alles andere aber wirkt unerwartet ionosphärenleicht, ein wenig elliptisch-feministisch und absolut betawellentauglich.

Die letzten Weisen sind Waisen

Mannheimer Morgen, 20. April 2009
Von unserem Redaktionsmitglied Ralf-Carl Langhals
Komplex und vielseitig ist sie, die Welt, in der wir leben, und sie lässt daher zwangsläufig verschiedene Sichtweisen zu. Was für die einen Wunder der Technik, sind für andere kosmopolitische Verschwörungen der übelsten Art. "Naiv" schilt man die Position der einen, "Verschwörungstheoretiker!" höhnen jene zurück. Zunächst aber herrscht für Claudia Starik der normale Wahnsinn einer 19-Jährigen: Nervige Eltern, ein anstrengender Großvater, anstehende Abiturprüfungen, erotische Abenteuer und wilde Partys im Schatten der Klimaerwärmung. Folgerichtig und feinfühlig hat Bühnenbildner Jan Steigert im Studio Werkhaus, Ort der Uraufführung von Dietmar Daths "Waffenwetter", nichts weiter als ein Jugendzimmer auf die Drehbühne gestellt. Als Karussell wird es zum Dreh- und Angelpunkt jugendlicher Geheimnisse und Befindlichkeiten, später auch kurioser Geschehnisse und Phantasmen. Science-Fiction und Paranoia In der Bearbeitung von Chefdramaturg Ingoh Brux und Regisseur André Bücker hat Dietmar Daths hybrider Roman aus fragmentarischem Tagebuch, Science-Fiction, Politthriller und spinnertem Paranoiakosmos am Nationaltheater unter großem Jubel auf die Bühne gefunden. Claudias Großvater Konstantin ist eine krude Mischung aus Witwer, Kommunist und Millionär. Im Kampf gegen die Tücken der modernen Technik muss die Enkelin ihm beistehen. Dafür hilft er ihr überambitioniert, wenn es um die Zumutungen des Imperialismus, Bildungsmisere und den Mut zum Alltäglichen geht. Geschichte, weiß der salbadernde 68er, geschieht nicht, sie wird gemacht, und so schenkt er Claudia zum Abitur eine ungewöhnliche Reise: Als Forscher und Spione brechen sie zu einer Expedition zum magnetischen Nordpol auf, wo die größte Hochfrequenz-Antennenanlage der Welt steht: HAARP, Stolz amerikanischer Technokraten und nach Opas Dafürhalten ein Geheimprojekt des Militärs zur Manipulation von Wetter und globaler Kommunikation. Neben einer dichten Bühnensituation und den besten Videos der Saison (Christian Schrills/Tobias Morell) hat André Bücker noch einen weiteren Coup gelandet: Auf kluge Weise hat der Regisseur den hochanstrengenden und komplexen Text auf drei Schauspielerinnen verteilt. Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein kämpfen nur am Anfang und Ende des über zweistündigen Abends mit den physikalischen Termini, Genrewechseln, den Überlappungen und Personenverschränkungen, hauchen dem unwirtlichen Textbrocken aber mit furioser Spielfreude und Humor wahrlich theatralisches Leben ein. Freilich ist das besonders dann von szenischer Dichte, wenn die Damen statt Opas marxistisch-leninistischer Bibliothek, lieber Shakiras Hüftschwung studieren wollen, zeigt es doch, dass begreinte verlorene jugendliche Radikalität, weder ein Intelligenz- noch ein Bildungs-, sondern ein Motivationsproblem ist. Dass die Gegenwart so müde ist, gefällt Dietmar Dath, Antipode popliterarischer Nabelschau, nicht, weshalb er die Mädchen zuletzt multipel auf eine futuristische Geisterjagd der Verschwörungstheorien schickt. Im Schatten der Antenne orakeln die drei Weisen aus dem Morgenland als Vollwaisen politisch motivierter Intelligenzversuche bis zum großen Weltenbrand - tragisch. Ihnen dabei zuzusehen, ist dennoch von großem Vergnügen.

zu „Orlando“

Ein rasender Ritter kämpft sich durch die Welt seines Wahnsinns

Mitteldeutsche Zeitung, 2.12.2008
Intendant André Bücker verabschiedet sich mit Händels «Orlando» vom Nordharzer Städtebundtheater
von Andreas Hillger

HALBERSTADT/MZ. Die ganze Welt ist zum Greifen nah, im Inneren des künstlichen Erdballs aber bewahrt der Global Player hochprozentige Stimmungsaufheller und Entscheidungsbeschleuniger auf. Dass er den Schnaps freilich auch noch mit Tabletten kombiniert, während sich vor seinen Augen Nachrichtenbilder und Gewaltphantasien mischen, ist keine gute Idee: Allmählich driftet dieser Jünger von Nasdaq und Dow Jones so in den Wahn, der wie der Wald hinter den Wänden des Büros lauert.
Schwergewicht gestemmt
Mit Georg Friedrich Händels "Orlando" hat André Bücker seine Intendanz im Nordharzer Städtebundtheater so beendet, wie er dort seine erste komplett eigenständig verantwortete Spielzeit begann: Mit einem Schwergewicht des Barock, an dem sich auch größere Häuser verheben können - und das dieses kleine Dreispartenhaus in Halberstadt und Quedlinburg dennoch mit Kraft und Eleganz auf die Bühne stemmt. Imme Kachels Bühnenraum bietet dafür einen perfekten Rahmen: Vier hohe Türen führen in das Office, auf der Stirnseite lässt sich die Projektionsfläche zu einer erhöhten Galerie hin öffnen - und neben dem Schreibtisch als modernem Feldherrenhügel lockt das Ledersofa als Fluchtpunkt in den Müßiggang.
Fünf vereinzelte Menschen sind es, die Bücker hier zum Reigen von Liebeslust und -leid treibt: der coole Spin-Doctor Zoroastro (Gijs Nijkamp) und sein zögerlicher Zögling Orlando (Steve Wächter), die beiden liebenden Frauen Angelica (Marie Friederike Schöder) und Dorinda (Kerstin Pettersson) sowie Medoro (Gerlind Schröder) als ihr gemeinsames Objekt der Begierde. Dass die Inszenierung auf die übliche Travestie verzichtet und den fremden Fürsten deutlich als weibliches Wesen zu erkennen gibt, steigert die emotionale Verwirrung ebenso wie die unübersehbare Schwangerschaft von Dorinda. Die pastorale Schwärmerei des Original-Librettos wird so in handfeste Folgen einer erwachsenen Erotik übersetzt. In den deutschen Rezitativen fallen sogar derbe Vokabeln wie "Schlampe" oder "Flittchen", während die italienischen Arien unangetastet bleiben.
Dass der rasende Ritter im übrigen eher mit Zahlen als mit Waffen kämpft und sich als Helm einen Papierkorb über den Kopf stülpt, während er mit seinem Golfschläger in die Schlacht zieht, ist folgerichtig. Denn der Bühnenzauber, bei dem sich Haine in Höhlen verwandeln und wolkige Genien die verfolgte Unschuld schützen, wird schließlich auch als mediale Reizüberflutung der Gegenwart inszeniert - wobei die Martial-Arts-Szenen und Börsenbilder aus der Souffleurmuschel flimmern, was für eine reizvolle Einbindung der Silhouetten in die fremden Welten und für ein wahrhaft platonisches Schattenspiel sorgt. So entsteht eine klar strukturierte Erzählweise, deren Einfachheit nicht mit Simplizität zu verwechseln ist.
Erstaunliches Niveau
Gesungen wird erneut auf einem Niveau, das Bückers Nachfolger Johannes Rieger am Dirigentenpult mit Stolz erfüllen darf: Der Altist Wächter, der dem Solisten-Ensemble als einziger Gast eine exotische Farbe beimischt, setzt sich mit seiner kraftvollen Höhe mühelos durch und hält die Balance zwischen Kraft und Anmut. Nijkamp ist auch vokal der dominierende Spielmacher, den er formvollendet darstellt. Und mit den beiden Sopran-Partien werben zwei bestens disponierte Sängerinnen um den dunkler timbrierten Prinzen, die in gleicher Lage sehr unterschiedliche Qualitäten entfalten: Die gereifte Schönheit der Kerstin Pettersson steht neben der glockenklaren, bis in wahrhaft himmlische Sphären reichenden Jugend der Marie Friederike Schöder, die sicher auch bald bei Halles Händel-Festspielen von sich hören lassen wird.
Von solchen Spezialisten-Qualitäten ist das Orchester des Städtebundtheaters zwar weit entfernt, die abermals von der Berliner Lautten-Compagney gestellte Continuo-Gruppe aber hält das Barockschiff souverän auf Kurs und setzt immer wieder vitale Impulse gegen die Graben-Routine. So verdient und bekommt man am Ende Standing Ovations - und drei leise Buh-Rufe, die bei einer so umjubelten Premiere zutiefst demokratisch wirken.

Barockoper, grandios

Opernnetz.de, 1.12.2008
Orlando Furioso, der „rasende Roland“, ein Ritter im Dienste Karls des Großen, zentrale Figur mittelalterlicher Epen, als Roland-Figur rund um Halberstadt vor vielen Kirchen und Rathäusern präsent – voila: der regionale Bezug existiert. Und André Bücker setzt noch einen drauf, verlegt Händels undurchsichtiges quid pro quo in die knallharte Welt der Investoren-Heuschrecken – dezent, soweit das möglich ist, ohne dezidierten Anspruch auf aktuelle Welt-Erklärung, aber – thematisch angemessen – mit unmissverständlichen Verweisen auf die hysterische Immanenz der Herrschenden. Dieser „Überbau“ wird in unterhaltsam-aufklärerisches Bühnenhandeln umgesetzt, präsentiert getriebene Figuren in absurden Konstellationen – lustvoll karikierend, aber nicht diffamierend.
Mit Steve Wächter ist ein renitent-emotionalisierter Orlando zu erleben - ein Altus mit wunderbarem Timbre, ausdrucksvoll in einer ungemein klangschön-variablen Mittellage, enorm nachhaltig in den sicher-unangestrengten Höhen und mit frappierendem Durchhaltevermögen in den außergewöhnlichen sängerischen Anforderungen! Marie Friederike Schöder – ausgezeichnet mit dem Leipziger Bach-Preis – ist eine exzentrisch zickige Angelica, sublimiert ihre parodierende Soubretten-Attitüde durch abrupt-verstörende Stops und immer wieder überraschende Gesten der Zuneigung, Erwartung und Ablehnung. Aber vor allem: Sie singt die barocken Vorgaben mit hinreißendem Ausdruck, beherrscht die kunstvollen Variationen par excellence, scheut nicht die gnadenlosen Anforderungen stimmlicher Modulation, verzaubert in fast gehauchten Piani und leidenschaftlichen Forte-Passagen, ist dabei permanent stimmlich kontrolliert und vermittelt die „Affekte“ mit solcher Intensität, dass Händel wohl davon geträumt hätte! Gijs Nijkamp verleiht dem alleswissenden Zoroastro überlegene Statur, frappiert mit einem sonoren Bariton, dem auch die subtilen Verzierungen ohne Schnörkel vortrefflich gelingen. Kerstin Pettersson gibt eine irritierte Dorinda, stimmlich in den Koloraturen und differenzierten Gefühlswallungen intonationssicher und ausdrucksstark. Gerlind Schröder ist darstellerisch ein(e) geheimnisvoll-werbende(r) Medoro im Stil der Bergschen Gräfin Geschwitz mit überzeugender Adaption des variantenreichen Barock-Gesangs.
Für dieses hochengagierte Sänger-Ensemble baut Imme Kachel ein feudal-ästhimierendes „Büro“ mit voluminösem Schreibtisch und Ruheliege, erweitert die kleine Bühne mit Seitenwänden bis an den Rand des Orchestergrabens, schafft damit Raum für das turbulente Geschehen und zugleich – im Hintergrund – eine Projektionsfläche für zeitkritische Videos und zugleich einen zweiten imaginativen Spielort für Verweise auf die mittelalterlichen „Traum-Darstellungen“.
Johannes Rieger ist mit dem erfrischend selbstbewusst aufspielenden Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters der Garant für eine gelingende Händel-Interpretation - und wird stimulierend unterstützt durch die Continuo-Gruppe (Cembalo, Theorbe, Laute, Cello) der Berliner Lautten Compagney mit historischen Instrumenten: eine Kombination, die sich gegenseitig animiert und zu einem authentisch-vitalen Orchesterklang führt – und die Solisten permanent antreibt und zugleich hilfreich unterstützt.
Beim Halberstädter Publikum gibt es offensichtlich Vorbehalte gegenüber einer nicht gerade gängigen Oper: das Haus ist nicht voll besetzt. Doch die Erschienenen sind, je länger die zweieinhalb Stunden faszinierenden dramatisch-musikalischen Theaters dauern, desto mehr enthusiasmiert - standing ovations am Schluss! Vielleicht spricht sich die begeisternde Atmosphäre im Harzvorland herum - aber auf alle Fälle wird das kregle Nordharzer Theater Erfolge bei möglichen „Abstechern“ in der Republik einheimsen. Good luck! (frs)

Zwischen Börsencrash und Liebeswahn

Volksstimme Halberstadt, 1.12.2008
Als erstes Theater Sachsen-Anhalts ehrte das Nordharzer Städtebundtheater den mitteldeutschen Komponisten Georg Friedrich Händel aus Anlass seines 250. Todestages im nächsten Jahr am Sonnabend mit der Premiere der Oper „Orlando“. Eine bemerkenswerte Aufführung, die vor allem im Musikalischen Maßstäbe setzte.
Von Herbert Henning

Halberstadt. In Händels 1733 in London uraufgeführter Zauberoper „Orlando“ durchlebt der Held auf eine ganz besondere Art Himmel und (seelische) Hölle, Freuden und Qualen der Liebe, Wahnsinn und wundersame Genesung. Der Zauber, der eine unsichtbare, starke Bande zwischen den vier Menschen um Orlando knüpft, hat in der Inszenierung von André Bücker immer etwas ganz Reales, ist erklärbar durch das Wunder und das Wesen der Liebe, vor allem aber durch die Musik Händels.
Die musikalische Kooperation zwischen dem Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters und dem Basso Continuo der Berliner Lautten Compagney, die auf historischen Instrumenten spielt, ist deutschlandweit in dieser Form ein Unikat. Sie garantiert unter der musikalischen Leitung von Johannes Rieger eine in jeder Beziehung überragende, ungemein musikalisch-sensible und dem Melos barocker Klangkultur ganz verp pflichtete Musizierweise, die jedem Vergleich mit anderen Opernhäusern standhält.
André Bücker findet für die in italienisch gesungenen Arien, vor allem aber für die langen Rezitative, szenische Aufsungen, die das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen Orlando und Angelica, der Königin von Cathay, dem afrikanischen Prinzen Medoro, der Schäferin Dorinda und dem Zauberer Zoroastro nachvollziehbar machen.
In einer zweiten Erzählebene stellt ein „virtueller Raum“ die zwanghaften Wahnvorstellungen Orlandos filmisch dar – durch Bildcollagen querbeet durch die Historie von Krieg und Schlachten, Börsencrash und immer wieder (fiktive) Begegnungen des wahnsinnigen Orlando mit jenen Frauen, die sein Schicksal sind. Realität und Fiktion (unterstützt durch ein raffiniertes Lichtdesign) wird auf wundersame Weise in der Schwebe gehalten. Das macht dies Aufführung so interessant und spannend, auch wenn André Bücker und Imme Kachel (Ausstattung) allem Zauberhaften (Palmenhain, Schäferhütte, Wald und Felsenhöhle) gänzlich entsagen.
Orlando als erfolgsverwöhnter Bankmanager, der sich in eine gefährliche Abhängigkeit von Tabletten und Alkohol begeben hat und zusehends in einen Burn-out-Zustand abdriftet, beherrscht ein Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch als Zentrum der Macht. Eine hintere Wand öffnet sich immer wieder als Blick in die „andere“ Welt in seinem Kopf. Dieses Refugium ist Schauplatz des Seelendramas von Menschen, die durch die Bande von Liebe und Hoffnung, Macht und Gewalt, Tod und Entsagung miteinander verbunden sind.
Der Zauber hat allerdings hier immer etwas Reales und vielleicht ist diese Abkehr des Regisseurs von dem Unwirklich-Zauberhaften dieser Händel-Oper der Grund für die wenigen Buh-Rufe für den Regisseur am Ende eines musikalisch spannenden Opernabends auf hohem Niveau.
Atemberaubende Koloraturen
Dieses Niveau wird bestimmt durch Marie Friederike Schöder als Angelica mit atemberaubenden Koloraturen und einer wunderbaren Phrasierung in den Bravourarien. Gerlind Schröder als Medoro überzeugt einmal mehr durch artikulierten Mezzo-Gesang, ausdrucksvoll in den Rezitativen, leidenschaftlich im Spiel wie auch Kerstin Pettersson als unglückliche Dorinda, geistvoll und stupend-virtuos im Gesang.
Gijs Nijkamp als eine Art „deux machina“, ein „Strippenzieher“ im Hintergrund der Macht überrascht stimmlich als Zoroastro. Der junge Altus Steve Wächter singt und spielt überzeugend mit Leidenschaft und stimmlicher Bravour den Orlando. Er macht die berühmte Wahnsinnszene „Ah! Stigie larve!“ zum musikalischen und emotionalen Höhepunkt dieser Aufführung, die mit Orlandos leidenschaftlichem „Vinse in canti“ und dem jubelnden Quintett „Trionfa oggi`l mio cor“ ihr vom Publikum umjubeltes Finale mit vielen Bravo-Rufen hat.
Keine Frage: Die Händelfestspiele in Halle und Göttingen sollten sich unbedingt diese Aufführung für ihr Festspielprogramm im Händel-Jahr 2009 sichern.

zu „Der Freischütz“

Gesetz des Berges

Mitteldeutsche Zeitung Halle, 17.6.2008
Von Andreas Hillger

Im Parkett eines normalen Theaters würde man über diese Frage vielleicht nachdenken, hier oben aber wirkt sie rein rhetorisch: "Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen", singt der Chor, während ihn "Wälder und Felsen" buchstäblich "hallend umfangen" - und der Blick dem Klang hinab in das Tal folgt. Das Harzer Bergtheater ist fraglos der maßgeschneiderte Ort für Carl Maria von Webers "Freischütz". Und eben darin liegt unterschwellig Gefahr. Denn der Berg hat seine eigenen Gesetze, die er jedem Regisseur diktiert: gemauerte Kulissen im Panoramaformat, eine heikle Akustik und natürliche Lichtverhältnisse. Wie schwer es ist, einem Amphitheater im Abendschein die Atmosphäre einer mitternächtlichen Wolfsschlucht einzuhauchen, zeigt nun auch die Inszenierung des Nordharzer Städtebundtheaters. Aber Regisseur André Bücker gelingt es dennoch, dem Grusel-Stück weit über romantische Illustration hinaus Bedeutung zu geben. Dabei kommt ihm der Triptychon der simultan wahrnehmbaren Spielebenen sogar zupass: Während links das bedrohte Idyll des Erbförsterhauses wartet und rechts der diabolische Verführer Samiel lockt, bleibt das Zentrum dem Volk vorbehalten. Hier treffen sich die Kriegs-Invaliden und ihre ausgehungerten Frauen, hier wird gehurt und gesoffen - und zu Ännchens Lied "Kommt ein schlanker Bursch gegangen" fallen die Krüppel über die Vetteln her. Bücker malt mit breitem Pinsel, weil die schier übermächtige Kulisse drastische Farben fordert. Und im Kontrast gelingen ihm stimmige Szenen, die den psychologischen Urgrund des Aberglaubens freilegen. Dass im launischen Bergtheater jede Minute zählt, weiß natürlich auch der als Bückers Intendanz-Nachfolger designierte Dirigent Johannes Rieger. Darum verzichtet er nicht nur auf die Ouvertüre, sondern treibt das elektronisch verstärkte Orchester und die Sänger auch sonst zu zügiger Leistung, die freilich nicht auf Kosten lyrischer oder verzagter Momente geht. Der überraschende Star zwischen so verlässlichen Solisten wie Ünüsan Kuloglu (Max) und Kerstin Petterson (Agathe), Hans Arthur Falkenrad (Eremit) und Marie Friederike Schöder (Ännchen) aber bleibt stumm: Ballett-Tänzer Timo-Felix Bartels gibt den bösen Spielmacher Samiel als monströs missgebildete Laune der Natur, die am Ende nur scheinbar bezwungen ist. Was den Figuren hier jedoch nachgeht, ist nicht dieses fremde Wesen - sondern ihr eigenes Unterbewusstsein, das unerfüllte Wünsche und geheime Ängste auf äußere Erscheinungen projiziert. Und darum ist es gut, dass der Heimweg zum Parkplatz beleuchtet ist.

Himmel, Hölle und das Wunder der Natur

Volksstimme Magdeburg, 16.6.2008
Von Dr. Herbert Henning

Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ wurde stets als Inbegriff deutscher Seele und Romantik verklärt. Dabei ist das Stück viel mehr. In der Neuinszenierung des Nordharzer Städtebundtheaters in der einzigartigen Naturkulisse des Harzer Bergtheaters spürt André Bücker das albtraumhafte der Geschichte um Angst, Versagen, Himmel, Hölle auf und zeigt das Mysterium des Lebens.
Thale. Das Bild auf den Plakaten, die vom Hexentanzplatz zum Bergtheater auf die Oper „Der Freischütz“ hinweisen, hat Symbolkraft. Zwei weiße Tauben als Symbol des Friedens, der Reinheit und Unverwundbarkeit von Mensch und Natur inmitten eines Kugelhagels. Eine der sieben Freikugeln hat die Taube mitten ins Herz getroffen. Das Symbol des Brautkranzes wird zum Schreckensbild der Totenkrone.
In den archaischen Bildern der Geschichte vom Probeschuss, der Furcht vor dem Versagen und der Angst vor der Prüfung, vom bösen, eifersüchtigen Jäger im Bündnis mit den Mächten der Hölle, den ausgelassenen Männern und Frauen, mit dem Jungfernkranz und dem martialischen Jägerchor, der weißen Taube und dem großen Raubvogel, den Freikugeln in der mitternächtlichen Wolfsschlucht ist das ganze Mysteriums des Lebens zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse, Tag und Nacht, Brautkranz und Totenkrone enthalten.
Im weiten Areal der grünen Bühne mit dem abendlichen Blick in die „Wälder und Auen“, mit den Felsen links und rechts der Zuschauerränge ist die Naturbühne für die Aufführung der „Freischütz“-Oper ein idealer Ort. André Bücker und Kordula Kirchmair-Stövesand haben die naturgegebenen Möglichkeiten optimal genutzt und durch hohe Fachwerkparavents stimmungsvoll ergänzt.
Die (un)romantische Geschichte um Max und Agathe, von Caspar, dem „schwarzen Jäger“ Samiel und einer ländlichen Gesellschaft, die gerade den Dreißigjährigen Krieg mit all seinen Verwüstungen überstanden hat, zeigt, wie hinter ausgelassener Lebensfreude beim Fest, beim Chor der Jäger, beim „Wir winden dir den Jungfernkranz“-Reigen im anscheinend fröhlichen Spiel auch die Existenzangst verborgen ist, wie die Verletzungen der Menschen aus dem Krieg sie unsicher machen. Und wenn man beim kraftvoll gesungenen Jägerchor (Einstudierung: Marbod Kaiser) oder beim „lieblichen“ Jungfernkranz-Reigen genau hinhört, dann entstehen Schreckensbilder und nicht das Symbol des Brautkranzes, sondern das Schreckensbild der Totenkrone, die Agathe in den Händen hält, bleibt im Gedächtnis. Johannes Rieger gelingt es, die Feinheiten der Partitur äußerst differenziert herauszuarbeiten. Vor allem die Bläser zeigen musikalische Wirkung, und das Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters gibt dem Sängerensemble für die Arien, Duette und vor allem die großen Ensembles musikalisch Sicherheit. Sehr berührende Momente im Gesang von Ünüsan Kuloglu als Max und bei Kerstin Pettersson mit sicher geführter, dunkel timbrierter Stimme und sehr emotionsgeladenem Spiel als Agathe. Mit seiner kraftvollen, in der Höhe und der Mittellage makellosen Stimme ist Ünüsan Kuloglu die Entdeckung dieser Inszenierung. Er spielt überzeugend die Zerrissenheit dieser Figur in der Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ und wenn er den Verführungen von Caspar (auftrumpfend Matthias Schaletzky) sowie der Magie des dämonischen Samiel (Timo Barthels) erliegt. Gleichzeitig ist er ein sich nach Zuneigung und Anerkennung Verzehrender, der sich nach dem Glück mit Agathe um jeden Preis sehnt.
Marie Friederike Schöder ist mehr als nur das „muntere“ Ännchen, sondern viel mehr die aufmunternde Freundin, Vertraute und Beschützerin von Agathe. Juha Koskela als Fürst Ottokar, Klaus Uwe Rein als Erbförster Kuno und Mathias Junghans als Kilian singen und spielen mit großem Einsatz. Zu den Höhepunkten der Premiere in der Abenddämmerung gehörte das Gießen der Freikugeln in der Wolfsschlucht, die vor allem musikalisch zu einem eindrucksvollem Erlebnis wird. Die weiße Taube, so wie die weißen Blumen und das weiße Kleid von Agathe stehen am Schluss für das Leben, für die Vollkommenheit und Einzigartigkeit der Natur, mit der der Mensch trotz höllischer Mächte wider den Tod eins ist.

zu „Endstation Sehnsucht“

Kraftvolle Fallstudie menschlicher Unzulänglichkeit

Volksstimme Halberstadt, 12.3.2008
Von Jörg Loose

Mit Tennessee Williams Bühnen- und Filmklassiker „Endstation Sehnsucht“ gelingt dem Nordharzer Städtebundtheater in der Regie von Intendant André Bücker und der Ausstattung von Alrune Sera ein beeindruckender Saisonabschluss.

Das Akzeptieren der eigenen Neigungen, Fähigkeiten, Grenzen, des eigenen Ich’s gehört zu den schwierigsten Bewährungsproben jedes Menschen. Was aber geschieht mit uns, wenn wir diesen und andere Kämpfe unseres Lebens verlieren, wenn unsere Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche unerfüllt bleiben und sich als Geschwüre unerreichbarer Sehnsüchte schmerzhaft in Hirn und Herz festsetzen? Dieser Frage und den damit verknüpften Lebenslügen geht Tennessee Williams in „Endstation Sehsucht“ nach. Da niemand ist, was er gern wäre, werden Schein und Lüge rasch zum lebensnotwendigen Selbstschutz. Wer es - bei allen Fährnissen, die in einem selbst und dem gesellschaftlichen Umfeld lauern – schafft, so zu leben, dass er morgens noch halbwegs unbefangen in den Spiegel schauen kann, der hat die Prüfung dieses Lebens schon fast bestanden. Blanche, Tochter aus einem ehemals wohlbegüterten Südstaatenhaushalt, schafft das offensichtlich nicht. Nachdem ihr mit dem Tod des Mannes und dem Verlust des Herrschaftshauses persönlicher wie gesellschaftlicher Grund unter den Füßen entgleitet, bedarf es einer betäubenden, täglichen Schicht Schminke aus flüchtigem Sex, aufgesetztem Hochmut und berauschendem Alkohol um ihr beschmutztes Spiegelbild zu ertragen, das immer unkenntlicher wird. Auf der Flucht vor sich selbst trifft sie bei Ihrer Schwester Stella auf Stanley, der Blanches gutbürgerliche Fassade brutal und gnadenlos entblättert und ein lebensuntüchtiges Wesen zutage fördert.
Bücker offeriert uns ein Stück, das voll von kaputten, schrägen Typen ist. Er zeichnet ein kaltes, ungemütliches Milieu, das der Durchschnittsbürger gern ausblendet – die unterste Unterschicht als Endstation gesellschaftlichen Abstiegs. Als äußeres Spiegelbild von Blanches befleckter Seele hat Alrune Sera mit der Messie-Wohnung von Stella und Stanley ein trist-vermülltes Einheitsbühnenbild geschaffen, in dem ein fast ständig laufender Fernseher eine heile bunte Welt vorgaukelt – Endstation Sehnsucht im Medienzeitalter. Bückers überspitzte Zeichnung aller „Randfiguren“ bis an die Karikatur ist ein Wagnis, mindert den Realismus, sorgt aber für komisch-groteske Höhepunkte, von denen die Fallhöhe in den dramatischen Absturz – etwa in der Pokerszene mit anschließenden Faustschlägen gegen die schwangere Stella – um so gewaltiger wirkt. Während hier zum Teil akustische Textgewitter auf das Publikum einprasseln, sorgen beklemmend bedrückende, stille Szenen - etwa der animalische Liebesakt zwischen Stanley und Stella in Gegenwart einer einsam nach Liebe dürstenden Blanche – für höchst bedrohlichen Ausgleich. Der Soundtrack (u.a. mit Nummern von Johnny Cash, Lou Reed und Willie Nelson) konterkariert zum Teil den szenischen Befund und erzeugt eine Stimmung zwischen zynisch gefärbter Melancholie und Hoffnungslosigkeit.
Illi Oehlmann als Blanche liefert die eindrucksvolle Studie eines Verfalls, des schmerzhaften Abschieds von gesellschaftlichem wie persönlichem Glücksanspruch an dessen Ende Resignation und Wahn stehen. Gekonnt pendelt sie zwischen den Extremen und ist doch in ihrer großbürgerlichen Attitüde rissig wie in ihrer hilflosen Zerbrechlichkeit von verzweifeltem Sehnen nach eine heilen Welt. Sebastian Müller zeichnet einen skrupellos wie eindimensional angelegten Stanley, der nicht wirklich bösartig, aber immer und mit rücksichtsloser Konsequenz nach der Maxime „alles, sofort und nur für mich“ agiert. Zwischentöne sind ihm fremd und er gibt damit einen imponierenden Vertreter unserer heutigen Wettbewerbsgesellschaft.
Zu den Höhepunkten der Inszenierung zählt die Stella von Elisa Ottersberg. Ihr hilfloses Aufbegehren gegen die Brutalität ihres Mannes wie gegen die hochmütige Schwester und ihre verzweifelten Vermittlungsversuche zwischen beiden sind von anrührender Intensität. Ein Blick in ihr Gesicht während der Schlussszene offenbart einen Abgrund an Hoffnungslosigkeit – Endstation Leben. Auch alle anderen beteiligten Akteure liefern beste Schauspielkost.
Endstation Sehnsucht - kein ästhetisierendes Theater für Feinschmecker, aber eine kraftvolle Fallstudie menschlicher Unzulänglichkeit, die am Premierenabend begeistert gefeiert wurde.

Gefangenen Seelen bleibt nicht einmal mehr der Traum

Mitteldeutsche Zeitung Halle, 11.3.2008
von Andreas Montag

André Bücker überzeugt mit «Endstation Sehnsucht» in Quedlinburg
Quedlinburg/MZ. Das Stück ist ein Klassiker, was die Fallhöhe nicht eben verringert. Und man könnte sich zugleich fragen, was das Erfolgsdrama von Tennessee Williams aus dem Jahr 1947, angesiedelt im hitzigen Süden der USA, eigentlich mit uns zu tun haben soll. André Bücker, der scheidende Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters und künftige "General" in Dessau-Roßlau, hat die Frage mit seiner jüngsten Inszenierung überzeugend beantwortet: Ihm und seinem bis in die Nebenrollen bemerkenswerten Ensemble ist eine dichte, hochemotionale und sehr gegenwärtige Lesart von "Endstation Sehnsucht" gelungen.
Kein Schlupfloch bleibt
Bücker spitzt die Tragödie von Blanche (Illi Oehlmann), die bei ihrer Schwester Stella (Elisa Ottersberg) und deren Mann Stanley (Sebastian Müller) Schutz sucht und scheitert, von Anfang an konsequent zu. Es wird sich kein Ausweg öffnen, kein Schlupfloch ins Glück - für keinen der Hauptakteure, auch für Mitch (Mathias Kusche) nicht, Stanleys Kumpel.
Der macht Blanche den Hof und lässt sie dann fallen: Wie eine Hure soll sie gelebt haben, nachdem ihr Mann sich das Leben nahm, der heimlich einen anderen liebte und entdeckt worden war. Eine solche Frau kann Mitch natürlich nicht heiraten - vergewaltigen kann man sie schon, lautet seine schlichte Philosophie: Wer sich vielen hingab, darf von jedermann genommen werden. Blanche wird ihm gerade noch entkommen können, gegen Stanley, ihren Schwager, hat sie keine Chance. Blanche ist eine verzweifelte und hochfahrende Frau, der verschuldete Familiensitz ist verloren, die großen Zeiten sind unwiderruflich vorbei, alles ist kaputt, auch die Lehrerinnenkarriere, nachdem sie sich mit einem Schüler eingelassen hat. Blanche träumt von verflossenen Verehrern und trinkt sie sich in den Rausch der Sehnsucht.
Vielleicht noch tragischer ist das Schicksal Stellas, die aus der behüteten, zerbrochenen Welt gefallen und in den Armen von Stanley gelandet ist, einem Fabrikarbeiter, der glaubt, sich seine Stärke durch Gewalt beweisen zu müssen. In einem verdreckten Loch von Wohnung leben sie, es ist die andere Seite des Traums von der Freiheit. Zwei Schlüsselszenen gibt es, beide auf den Punkt inszeniert und gespielt: Einmal, nachdem Stanley seine schwangere Frau niedergeschlagen hat, schlafen sie miteinander, aneinander geklammert wie Ertrinkende. Sie haben nur sich.
Pokern mit Freunden
Und am Ende, kurz bevor Blanche in die Psychiatrie gebracht werden wird, sitzt Stella mit ihrem Baby verloren am Rand der Szene, Stanley pokert und säuft mit seinen Freunden. Gefangene Seelen, allesamt. Sie hat die Schwester verraten, sie muss bei Stanley bleiben, es wird kein Glück mehr geben, keine Sehnsucht. Sollte man eine Figur noch herausheben, es wäre die Stella von Elisa Ottersberg.

Lüge und Selbstbetrug in einer versifften Mülllandschaft

Volksstimme Magdeburg, 10.3.2008
Von Dr. Herbert Henning

Halberstadt. Die erste Begegnung zwischen der kultivierten Blanche DuBois und dem prolligen Stanley Kowalski im verschwitzten T-Shirt, seinen athletischen Körper und die vitale Sexualität, mit der er Blanches Schwester Stella an sich fesselt, ist in der Inszenierung von Andrè Bücker voller knisternder Spannung. Hier beginnt das Drama, hat der unaufhaltsame Abstieg von Blanche DuBois und ihre Desillusionierung ihren Anfang.
Bücker führt mit großer Intensität in starken, sich einprägenden Bildern vor, wie ein Mensch, der zwischen sich und der Wirklichkeit ein Traumland einrichtet, an der harten Wirklichkeit zerbricht. Die Endstation, an der sich Blanche wiederfindet und wo ihre Schwester Stella inmitten eines Chaos mit dem gewalttätigen Stanley lebt, heißt Sehnsucht. Und Sehnsucht und Trieb sind es, an denen Blanche zu Grunde geht.
Die „Schminkfassade“ der Grande Dame, mit dem Geheimnis eines gescheiterten und verkommenen Lebens als Lehrerin, die sich an einem Minderjährigen vergeht und aus dem Schuldienst als Alkoholikerin entlassen wurde. Die Zuflucht bei ihrer Schwester Stella wird erbitterter Kampf.

Wie eine Ertrinkende

Stanley Kowalski spürt von Anfang an, dass sich Blanche wie eine Ertrinkende an Stella klammert, er sieht seinen „Besitz“ und seine Macht über Stella in Gefahr. Aus Angst, seine Existenz zu verlieren, zerstört er die Illusionswelt, in die sich Blanche gefl üchtet hat. Er zerstört ihre sich anbahnende Liebesbeziehung zu seinem Freund Mitch und damit ihre letzte Hoffnung, in der Realität etwas wie Geborgenheit und Heimat zu fi nden. Blanches Endstation ist der Wahnsinn, nachdem Stanley sie brutal vergewaltigt hat. Im Zentrum der Inszenierung steht wie eine „schleichende“ Krankheit das Gefühlschaos, in dem sich Blanche, Stella und Stanley Kowalski befinden. Alle Personen, auch die Poker-Freunde Mitch, Steve und Pablo sowie Stellas Freundin Eunice, bewegen sich in einem sozialen Spannungsfeld von Lebensgier, sexueller Gewalt, Paranoia und Depression. Die Inszenierung geht dabei der Frage nach, wie viel Lüge und Selbstbetrug man eigentlich braucht und erträgt, um die Welt in ihrer Trostlosigkeit zu ertragen.
In dem „versifften“ Bühnenraum von Alrune Sera – eine Art „Mülllandschaft“ – kann überall und auch ganz nah bei uns sein. Tennessee William‘s Figuren sind so, wie sie von André Bücker aufeinander „gehetzt“ werden, ganz gegenwartsnah.
Das macht diesen großen Schauspieler-Abend im kleinen Nordharzer Städtebundtheater zu einem ganz besonderen Erlebnis. Illie Oehlmann als Blanche spielt die ganze Brüchigkeit dieser Figur, wechselt ihre Stimmungen, spielt mit großer Eindringlichkeit den schwindenden Realitätssinn. In ihrer Hilfl osigkeit schwingt Stärke. Immer ist da im Spiel die Fantasie, die Traumwelt dieses aus der Bahn geworfenen Menschen. Sie spielt dies in manchen Augenblicken mit der Grazie und der Transparenz einer „Märchenprinzessin“, deren Welt die Sehnsucht ist. Und sie hat in dieser Inszenierung Zeit, dies auch ohne Worte auszuspielen, denn André Bücker ergänzt den Text durch Musik von Trini Lopez, Tom Waits, Johnny Cash und Dolly Parton. Sebastian Müller ist als Stanley voller erotischer Ekelenergie, Gewalt, Sex und seelischer Grausamkeit. Er ist gewalttätig und im nächsten Moment, wenn er nach seiner Frau Stella verzweifelt mit erstickter Stimme schreit, fast hilflos wie ein Kind. In jeder Bewegung spürt man die lauernde Gefahr, die vernichtende sexuelle Angriffslust für Blanche, die durch den Alkohol immer stärker wird und schließlich zur Katastrophe führt.
Elisa Ottersberg spielt die ihrem Mann sexuell hörige Stella als Frau, die zwischen den Fronten gerät und zu einem eigenen Leben unfähig bleibt, aber alle Illusionen verliert. Mathias Kusche spielt den Mitch mit vielen Zwischentönen den Jungen, der Blanche lieben will und der, als sie ihn wie einen „Rettungsanker“ braucht, versagt. Er kommt mit der Lebenslüge von Blanche nicht zurecht. Mitch ist am Ende, wenn Blanche erhobenen Hauptes am Arm eines Arztes in die Psychiatrie verbracht wird. Das spielt Mathias Kusche beeindruckend.

Verlorene Kinder

Susanne Hessel und Jens Tramsen als Freunde Eunice und Steve Hubbel sind „verlorene Kinder“ in einer perspektivlosen Welt. Sie repräsentieren jene Unterschicht, die sich auch Stella ausgesucht hat. Auch Eunice akzeptiert gleichermaßen Gewalt, körperlichen Missbrauch und Zuneigung. Susanne Hessel spielt diese seelische Verkrüppelung mit großer Eindringlichkeit. Markus Bölling spielt mit Schmuddelcharme den Poker-Freund Pablo.
Ein beeindruckender Theaterabend.

Gibt es für Sehnsucht eine Endstation?

Radio HBW, 9.3.2008
von Uwe Kraus

Gelegenheitsjobs in diversen Berufen finanzierten Tennessee Williams seine literarischen Versuche und lieferten ihm Stoffe aus dem amerikanischen Alltag. Seinen entscheidenden Erfolg erzielte Williams mit „Endstation Sehnsucht“(1947). Er erhielt dafür seinen ersten Pulitzer-Preis. Der Autor wusste bis fast zur Fertigstellung des Stücks nicht so recht, wie er es nennen sollte. Da besann er sich auf die „desire line“, eine in den frühen fünfziger Jahren aufgegebene Straßenbahnlinie in New Orleans, deren eine Endstation sich eben desire, was im Englischen für Verlangen und Sehnsucht steht, nannte. Das gefiel ihm so gut, dass das Stück nach der Straßenbahnlinie benannt wurde.
Schon früh entdeckte Williams die „künstlichen Paradiese“ von Drogen und Alkohol. Aus psychorealistischer Perspektive blickte Williams als einer der wichtigsten Chronisten der 50er Jahre auf die seelischen Deformationen und die moralische Dekadenz hinter der Wohlstandsfassade der amerikanischen Nachkriegsära. Was charakterisiert sein Figurenensemble? Labile Charaktere, anfällig für Zerstörung und Selbstzerstörung, deren exzessive Sinnlichkeit und Phantasie in scharfem Kontrast zur illusionslosen Alltäglichkeit der Südstaatenszenerie stehen.
André Bücker inszeniert das Stück über 60 Jahre später so, dass der Zuschauer die bestechende Aktualität spürt. Bücker zeichnet seine Figuren psychologisch sehr genau. Man weiß, all das könnte sich durchaus auch in irgendwelchen Bruchbuden zwischen Holtemme und Bode abspielen. „Da krachen Figuren aufeinander. Zwar hat sich seit der Entstehungszeit 1947 die gesellschaftspolitische Dimension etwas geändert, doch die menschlichen Probleme bleiben. Das macht die Relevanz für die Gegenwart aus. Hier begegnen sich Schicksalslinien, die letztlich in der Katastrophe enden.“ Ausstattungsleiterin Alruna Sera, die ab der kommenden Spielzeit für Nordharzer Städtebundtheater nur noch als Gast Bühnenbilder und Kostüme schaffen wird, fokussiert alles auf einen engen, vermüllten Raum, es ist wie ein Provisorium, das länger anhält als geplant und gehofft. Die Schauspieler agieren großteils in verschwitzten Shirts und ausgebeulten Trainingsanzügen. Nur die aristokratisch anmutende Südstaatlerin Blanche lebt ihren Klamottentick weiter. Illi Oehlmann spielt jene Frau, die miterlebte, wie „Belle Rêve“, der einst prächtige Landsitz der DuBois, dem Niedergang preisgegeben wurde. Und sie selber vor dem Ruin steht. Sie verlor selbst viele Dinge, kommt haltlos und genervt nach New Orleans, um Zuflucht bei Schwester Stella und ihrem Mann zu finden. Illi Oehlmann entblättert die multiple Persönlichkeit der Blanche wunderbar, schwebt in Erinnerungen, macht sich selbst etwas vor, tut mädchenhaft und greift immer wieder zur leicht erreichbaren Flasche, ist sich aber nur selten ihrer Krise bewusst. Oehlmann tritt wie eine Diva in Weiß aus einer fremden Galaxis in die schäbige Bude in der miesen Gegend mit dem heuchlerischen Namen „Elysische Felder“. Gehen wird sie begleitet von zwei Menschen in Weiß.
Ihre Suche nach Halt endet in der Psychiatrie. Ihre Südstaaten-Ideale, ihre Welt ist nicht die des Prolos Stanley Kowalski. Der will Fakten, denn was seiner Frau Stella (Elisa Ottersberg) gehört, gehört auch ihm. Stella ist dem polnischen Einwanderer sexuell verfallen. Sie hat ihre Illusionen und Vornehmheit verloren. Sie schlagen und sie lieben sich voller animalischem Sex in praller Körperlichkeit. Nichts anderes tut Eunice Hubbel, Stellas Freundin und Frau von Stanleys Pokerfreund Steve (Jens Tramsen). Sie frönen dem Leben zwischen Zigaretten, Fast-Food, sexuellen Trieben, welches auch Stella nach ihrem Weggang von „Belle Rêve“ selbst für sich gewählt hat. Blanches kultiviertes, an ihre vornehme Herkunft erinnerndes Benehmen, ihre endlosen Bäder und das Verweilen in einer Schein-Realität, spannen ein riesiges rotes Tuch für Stanley Kowalski. In den beengten Räumen wird es immer enger, bis es knallt. Sebastian Müller hat seinem Job, Sex mit Stella, geht bowlen und pokert mit Steve und Pablo, Markus Bölling hat hier wenig Platz sein Talent zu entfalten, ist vom Typ her ein brutaler Macho, kein Kuscheltyp. Zwischen ihm und Blanche knistert es auch nicht. Stanley ist ihr Feind. Er versaut ihr die Beziehung zu ihrem neuen und seinem alten Freund aus Militärzeiten Mitch. Den spielt Mathias Kusche überzeugend hin- und hergerissen. Er und Blanche wollen ihre Chance nutzen und die Liebe wagen, die zur Hure verkommende Lehrerin mit der Nobel-Fassade und das Muttersöhnchen in seiner emotionalen Verlorenheit. Doch wie retten sich zwei, die beide in einen Strudel geraten sind? Mitch verstößt sie, dann vergewaltigt Stanley Blanche in deiner ganzen archaischen Brutalität, woran sie endgültig zerbricht. Endstation: Psychiatrie.

zu „Rusalka“

Opfer Natur

Opernnetz.de, 16.3.2008

Das Orchester auf der abgedunkelten Bühne, auf dem abgedeckten Orchestergraben die Spielfläche , dazwischen eine bühnengroße Folie als Projektionsfläche für diffuse Film-Bilder: sw-Sequenzen zerstörender Gebäude, Autoverkehr im Zeitraffer, fließende Makro-Aufnahmen, Ausschnitte aus Animations-Filmen, immer wieder fließende Wässer mit Mond und versinkender Erdkugel. Malte Kreutzfeldt schafft Film-Bilder auf dem schmalen Grat zwischen Natur und Zivilisation. Andre Bücker – Intendant des mutigen Nordharzer Städtebundtheaters – inszeniert das Märchen von der menschen-süchtigen und –enttäuschten Nixe Rusalka als Spiel um das Opfer der Natur. Er reduziert die Handlung auf sparsame Aktion, verlässt sich – zu Recht – auf die zivilisationskritisch fokussierte Dramaturgie Aud Merkels und verzichtet auf szenischen Realismus und konventionelle Märchenbilder.
Alrune Sera stellt handlungsorientiert ein paar Tische und diverse Stühle auf die Spielfläche – Natur und Zivilisation in vor-entschiedener Kommunikation.
Und das durchaus beeindruckende Sängerensemble des Nordharzer Städtebundtheaters setzt diese inszenatorischen und szenischen Angebote in überzeugendes Bühnenhandeln um und interpretiert das so aktualisierte „Märchen“ hoch eindrucksvoll.
Katharina Warken vermittelt eine zwischen den Welten zerrissene Rusalka mit gebrochener Leidensfähigkeit und wandlungsfähigem Sopran, wunderbar lyrisch im Lied an den Mond, stimmlich-aggressiv im tötenden Finale. Gijs Nijkamp ist der fast apokalyptisch warnende Wassermann, verleiht ihm voluminöse Kraft mit emotionalem Ausdruck. Ünüsan Koluglu ist ein machohaft-verunsicherter Prinz, vermag mit viel Volumen und gekonnter Kopfstimme die komplizierten Registerwechsel angemessen zu bewerkstelligen. Gerlind Schröder ist die fundamentale Hexe Jerzibaba und die aggressive Fremde Fürstin, stimmlich scharf akzentuierend, mit intensiver Ausstrahlung. Die drei Elfen (Marie Friederike Schöder, Bettina Pierags und Steffi Gehrke) singen außerordentlich ausdrucksvoll und klangschön, und Juha Koskela und Anke Walter singen den Heger und den Küchenjungen mit intensivem Ausdruck.
Das Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters agiert im geheimnisvollen Licht der Pultleuchten und interpretiert unter dem Musikdirektor Johannes Rieger einen geradezu „märchenhaften“ Dvorak-Klang: luzide, transparent und mit sehr viel nachdrücklicher Emotion. Eine bewundernswert eigenständige Auffassung des so oft routiniert-standardisiert missachteten Dvorak-Meisterwerks!
Die Nachmittags-Aufführung im architektonisch befremdenden Halberstädter Theater besuchen mehrheitlich ältere Besucher in Gruppen aus dem Raum zwischen Goslar und Wolfenbüttel; nach anfänglichen Husten-Orgien und kommentierendem Gemurmel nimmt die imaginierende Aufführung mit ihrer nachvollziehbaren Botschaft das Publikum gefangen: gespannte Aufmerksamkeit und respektvoller Applaus.
In Anbetracht der polizeilichen und gerichtlichen Tatenlosigkeit im Zusammenhang mit den rechtsradikalen Überfällen auf Schauspieler des Theaters ist dieser Zusammenhalt von Theater und Publikum die Rettung der Stadt Halberstadt vor dem existenzbedrohenden Image einer Neo-Nazi-Hochburg - wenn sie es denn schon nicht selbst schafft. (frs)

Blutige Wolken im kristallklaren Wasser

Mitteldeutsche Zeitung, 4.12.2007

von Andreas Hillger

Prinz (Ünüsan Kuloglu) und Fürstin (Gerlind Schröder) demütigen Rusalka (Katharina Warken, M.). (Foto: Fuhr) Halberstadt/MZ. Rusalka hat viele Schwestern: Lortzings Undine und Andersens kleine Meerjungfrau, die Melusine des Mittelalters und Walt Disneys Arielle teilen das Schicksal dieses Wasserwesens, das seine Heimat gegen die fremde Menschenwelt tauscht - und auch dort nicht glücklich wird. Antonin Dvoraks slawische Variante aber ist besonders anrührend, weil sie den hohen Preis der Wandlung als größtes Opfer aus dem eigenen Genre schöpft: Wenn eine Opern-Gestalt ihre Stimme opfert, kollabiert eigentlich auch das Spiel.

Membran der Bilder

Am Nordharzer Städtebundtheater hat Intendant André Bücker das märchenhafte Panorama nun zum Kammerspiel verdichtet. Das ist gewagt, weil die Archetypen der Geschichte keine psychologische Entwicklung durchlaufen, sondern in ihren Zuständen befangen bleiben. Und das ist geglückt, weil die Regie in Zusammenarbeit mit dem Video-Künstler Malte Kreutzfeldt eine suggestive Bilderwelt entwickelt, die Rusalkas Herkunft aus natürlichen Sphären mit der Entfremdung der Kultur konfrontiert. Schon in der Ouvertüre fließen die alten Märchenworte wie Wellen über den transparenten Vorhang, hinter dem das Orchester mit suggestivem Gestaltungswillen agiert. Später mischt sich Blut wolkig mit Wasser, schimmert der sehnsüchtig besungene Mond bleich über der Szene und fließen die Front- und Rücklichter von Verkehrsströmen im Zeitraffer wie Venen und Arterien aneinander vorbei. Solange sich die Bilder auf solch abstrakter Höhe bewegen, wirkt die Membran zwischen Klang und Szene als emotionale Grundierung und Verstärkung. Wenn Kreuzfeldt unter seine bemerkenswert präzise geschnittenen Sequenzen jedoch Gesichter in Großaufnahme oder sogar Trickfilm-Ausschnitte mischt, übermalen diese Konkretisierungen das eigentliche Geschehen.

Solche Fingerzeige führen in die Irre, das ebenso fragile wie belastbare Konzept aber bleibt auf Kurs: Eine Landschaft aus Stühlen und Tischen genügt Bücker, um Rusalkas Weg aus dem Nixen-Idyll in die Katastrophe zu entwickeln. Ihr Lebenselixier ist dabei immer präsent - allerdings in der gezähmten Form des Aquariums, das der Wassermann wie ein Zepter trägt, oder der Karaffe, nach der sich die Fremde im Moment höchster Demütigung vergeblich streckt. Wie ein Opfertier liegt sie da auf der Tafel des Prinzen, der seine Geliebte im Flirt mit der Fürstin vergisst. Auch musikalisch ist "Rusalka" im Nordharz vor allem ein Duell und ein Triumph dieser starken Frauen.

Katharina Warken singt und spielt die Titelpartie mit höchster Hingabe, ihr Lied an den Mond reicht tatsächlich bis an das Gestirn hinan. Gerlind Schröder rechtfertigt die dramaturgisch plausible Doppel-Besetzung als Jezibaba und fremde Fürstin im Wechsel zwischen dämonischen und hoheitsvollen Auftritten. Und auch die drei Elfen (Marie Friederike Schöder, Bettina Pierags, Steffi Gehrke) tragen zum exzellenten Gesamteindruck des Frauen-Ensembles bei.

Behutsame Moderne

Dass Gijs Nijkamp als Wassermann nicht jene Urgewalten entfesselt, die man von ihm erwartet, liegt an seiner eher lyrischen Disposition. In seiner kultivierten Haltung aber trifft er sich mit Ünüsan Kuloglus Prinz - und mit dem Orchester, das Johannes Rieger bis an die Grenzen des Leistbaren auslotet. Sie alle wurden gefeiert für diesen Abend, der eine alte Geschichte behutsam vergegenwärtigt, ohne dem Märchen seinen fernen, raunenden Ton zu rauben.

Rusalkas Sehnsucht nach Menschenseligkeit

Volksstimme Magdeburg, 4.12.2007

Von Liane Bornholdt

Halberstadt. Die Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe war und ist immer Märchen, und ihre künstlerischen Gestalten sind Legion. Die kleine Meerjungfrau/Undine/Rusalka ist die bekannteste von ihnen, und ihre tragisch-märchenhafte Geschichte hat alle Generationen berührt. In Dvoraks lyrischer Oper „Rusalka“ findet der vollkommene Geist der Romantik den vielleicht schönsten Ausdruck.

Intendant André Bücker inszenierte das Märchenspiel als szenisches Konzert am Nordharzer Städtebundtheater. Mit dieser Idee hat er etwas getroffen, was zu dieser Oper sehr gut passt: Das Orchester, d. h. die Musik, steht als wichtigster Akteur auf der Bühne. MD Johannes Rieger hat mit den Musikern ganze Geschichte richtig erzählt, hat den silbrigen Waldsee geschrieben, die zauberhaften Wasserelfen und Rusalkas schwärmerische Sehnsucht nach Menschenseligkeit und Licht.

Nur abgetrennt durch eine halbtransparente Projektionswand ist es vor allem die Musik, die jeder Regung, jedem gesungenen Wort ihre lyrisch-märchenhafte Wahrhaftigkeit gibt. Vielmehr braucht es eigentlich nicht, aber doch, es gab mehr. Auf der Videowand hat Malte Kreutzfeld Natur- und Großstadtlandschaften aufeinander treffen lassen, die schon immer die Tragik der Geschichte zeigten. Es gab keine Brücke zwischen ihnen, Mondzauber und Wasserwelt dort und hier Hochhauskulissen und Klärwerksgeschäume. Doch, es gab schon eine Brücke, auf einer anderen Sinnebene. Mit einem bronzenen Neptun und einigen Sequenzen aus dem Disney-Film von der Kleinen Meerjungfrau zeigte sie die Sehnsucht von uns Menschen nach der romantischen Welt.

Vor diesen bildlichen Assoziationen hat André Bücker das Sängerensemble richtig kostümiert spielen lassen. Die Elfen Marie Friederike Schröder, Bettina Pierags und Steffi Gehrke mit schönem Ensemblegesang und in glitzerblauen Kostümen (Ausstattung: Alrune Sera) und der Wassermann, Gijs Nijkamp, als bekrönter König sind ganz Märchenfiguren. Gijs Nijkamp allerdings überzeugte stimmlich nicht immer, neben einigen sehr schönen Passagen fehlte es mitunter an lyrischem Glanz. Eigentümlich die Figur des Prinzen. Ünüsan Kuloglu gehört stimmlich vielmehr ins italienische Heldenfach als ins lyrische. In den hohen Lagen gelingen ihm keine zarten Töne mehr. Aber auch die Regie hat ihm einen Stil zugewiesen, mit dem man weder Rusalkas hoffnungsvolle Liebe zu ihm, noch seine leicht zu verführende Unsicherheit und schließlich überhaupt nicht Scham und Reue nachvollziehen konnte. Dieser Prinz wirkt leicht affektiert, greift sich seine zauberhaft schweigsame Braut und wirft sie nach Machoart auf den Tisch, um sich gleich darauf der fremden Dame zuzuwenden, die in ihm alles Jämmerliche zu Tage fördert. Schließlich erklagt er Rusalkas Todesstoß, der hier auch ein schnöder Dolchstoß und kein Kuss ist. Um diesen Menschensohn hätte sich kein Opfer gelohnt.

Das eigentliche Drama entfaltet sich zwischen Rusalka und der Hexe Jezibaba, die auch gleichzeitig die Fremde Fürstin ist. Die beiden, Katharina Warken und Gerlind Schröder, singen wunderbar, anrührend wie auch dramatisch überzeugend. Wunderbar die Wärme und Leichtigkeit, mit der Rusalkas berühmtes Lied an den Mond erklingt, ausgezeichnet auch die Dämonie der Hexendame.

Ein wenig widersprüchlich der Gesamteindruck der Aufführung, nicht nur wegen der unterschiedlichen sängerischen Leistungen, mehr noch, weil das Spielkonzept die Assoziationsweite, die aus Dvoraks Musik und den Visualisierungen hervorleuchtet, ohne Not einengt, aber nicht immer konsequent ist. Etwas unentschieden schwankt die Regie zwischen dem romantischen Märchen, einem kritischen Blick auf Natur-Zivilisations-Zusammenprall und schließlich einer zeitlos-tragischen Untreuegeschichte. Dennoch ist es eine so schöne Oper und so schön musiziert, dass sich jeder Besuch lohnen muss.

zu „Eine Dame werd’ ich nie“

Ein Intendant, der sich weiblicher List und Tücke beugen muss

Volksstimme Halberstadt, 21.11.2007

Von Jörg Loose

Halberstadt. Manchmal, in ganz, ganz seltenen Fällen, spiegelt das Theater das wahre Leben. Im Falle der Revuette (kleine Revue) „Eine Dame werd’ ich nie“ ist dies ganz offensichtlich gelungen. Denn Männer haben es nicht leicht. Diese profunde Erkenntnis, in ihren vielfältigen Spielarten und Facetten, steht im Zentrum der neuesten Produktion des Nordharzer Städtebundtheater.
Es ist ganz klar, dass bei einem derart delikaten wie bedeutungsschwangeren Thema der große Meister, Intendant André Bücker, höchst selbst für Buch und Regie verantwortlich zeichnet. Das mit Imme Kachel eine Frau die Ausstattung besorgte und diese natürlich in ein typisch weibliches Ambiente, einen Waschsalon, verpackte, dessen Uhr zudem bösartiger Weise 5 vor 12 anzeigt, verdeutlicht einmal mehr die Brisanz der Thematik – nicht einmal ein Intendant ist völlig frei in seinen Entscheidungen und muss sich weiblicher List und Tücke beugen.
Trotzdem erweist sich die Revuette als eine Meisterleistung männlichen Egos. Mit nahezu einem Nichts an Inhalt (und Handlung) wird ein Maximum an Effekt und Wirkung erzielt, eben typisch Mann. Merke: Männer haben es zwar schwer, aber sie sind auch genial! Na ja, vielleicht nicht alle. Denn die drei Herren, die Bücker auf die Bühne stellt, haben mit dem Mannsein so ihre Problemchen. Da ist der verklemmt, spinnert-menschelnde Berufsalternative Martin (Ingo Wasikowski), ein einsam verlassener, knochentrockener Beamter (Norbert Zilz) und ein Brutalo-Rocker (Tobias Amadeus) – mithin also ein breites Spektrum jener merkwürdigen Gattung Mensch, deren Pubertät (wenn überhaupt) erst mit der Andropause abgeschlossen ist. Diese Buben sind satirisch scharf gezeichnet und singen wild aufeinander los. Denn das gesamte Libretto des Abends besteht aus den tiefgründig hochphilosophischen Ergüssen vorwiegend deutschen, aber auch internationalen Liedgutes, das in seiner musikalischen Spannweite vom Abzählreim über das Kinderlied, den deutschen Schlager in seiner schwülstigsten Ausprägung, über das Chanson bis hin zur krachigen Rockhymne geht. Damit ist nicht nur für Abwechslung gesorgt, vor allem können nur so die feinstufi gen Nuancen männlicher Psyche adäquat beleuchtet werden. Von der Schilderung der nichtvorhandenen Handlung wollen wir hier - aus verständlichen Gründen - absehen. Das Ganze läuft nach folgendem Schema ab: Waschlappen A klagt sein Lied – natürlich in Leidform. Darauf reagiert, in einem Waschsalon ist das sehr natürlich, Waschlappen B ebenfalls mit einem leidigen Liedzitat. Nachdem die beiden Heulsusen den Waschsalon ordentlich gefeuchtet haben, tritt der Obermachorocker in Aktion, und zeigt den triefenden Pantoffelhelden – natürlich musikalisch, was ein echter Kerl ist. Nach einer alkoholseligen Verbrüderungsparty fragt sich das Publikum schon mal, was jetzt noch kommen kann. Just in diesem Augenblick outet sich der Obermachorocker als Transe. Nun liegen die Dinge anders und die vorher so arg bedrängten Waschlappen A und B finden ausgiebig Gelegenheit zu musikalischer Rache. War es bis dahin lediglich der normale Männerwahnsinn zwischen Kamillentee und Aktenschrank, so ist es nun wirklich 5 vor 12 – es wird endlich zurück gesungen. Und während nun die Möchtegerndiva in Tränen zerfl ießt, fl ießen im Publikum Tränen anderer Natur. Auch Lach-Tränen lügen nicht! Wer will, findet hier natürlich diffizile Anregungen für welterschütternde Exkurse philosophischer Natur - allein ich will nicht. Denn vor allem ist das Ganze ein mordsmäßiger Gaudi, bei dem drei großartige Darsteller ihrem singenden, tanzenden und schauspielerndem Affen jede Menge Zucker reichen. Und da es die Regie versteht, aus jedem noch so kleinen inhaltlichen Schatten ein sketchartiges Feuerwerk abzubrennen, das selbst dem deutschen Schlager überraschenden Sinn verleiht, eilen unsere Helden, gemeinsam mit dem musikalischen Oberleiter Matthias Schaletzky von einem komödiantischen Höhepunkt zum nächsten. Dabei ist, in Phasen höchster Bedrängnis, die Zilz’sche Mimik, als wäre sie von Loriot gezeichnet. Und wenn er das übliche Schlager-Background-Ahhh-Ahhhh-Ahhh in bierernster opernhafter Heldenpose schmettert und haucht, dann haut es sie glatt vom Stuhl – versprochen! Übrigens, eine wirkliche Frau (Edith Jeschke) spielt auch noch mit, hat aber nicht viel zu sagen (Hier hat die Inszenierung ganz offensichtlich ihren Realitätsbezug verloren!). So Herr Bücker, nachdem Sie jetzt kräftig über den gemeinen Kerl an sich hergezogen haben, erwarten wir im nächsten Jahr gleiches zum Thema Frau – „Eine Barbie werd’ ich nie“ oder so ähnlich. Bis dahin erfreuen wir uns an dieser stürmisch beklatschten Revuette.

Männergesang im Waschsalon

Volksstimme Magdeburg, 12.11.2007

Von Dr. Herbert Henning

Franz Wittenbrink hat sie als ganz besondere Form der „Kleinkunst“ erfunden, und inzwischen sind seine Liederabende „Sekretärinnen“, „Mütter“ oder „Männer“ Kult. Nun hat André Bücker für die kleinen Spielstätten in Halberstadt und Quedlinburg dieses Genre um Männergesänge der besonderen Art bereichert. Drei Herren behaupten zum großen Vergnügen des Publikums mit Liedern großer Diven, „Eine Dame werd‘ ich nie“.
Halberstadt. „Am Tag als der Regen kam, oder Altenburg ist überall“ ist eine Geschichte, die man unbedingt lesen muss, bevor man sich auf diese zwerchfellerschütternde musikalische Abendunterhaltung einlässt. Sie ist im Programmheft zu der Revuette „Eine Dame werd‘ ich nie“ abgedruckt und deshalb ein ganz besonderes Lesevergnügen, weil in ihr mehr als 60 Titelzeilen von Schlagerschnulzen, Gassenhauern, Filmmelodien, Chansons, Rockballaden, Musicalhits, Operettenlieder, Couplets „versteckt“ sind. Sie alle und noch mehr wird man im Laufe dieses Liederabends von André Bücker hören können. Manche nur ein paar Takte lang, andere in voller Länge, viele „verpackt“ in einem Medley und natürlich gesungen. In diesen unterhaltsamen 90 Minuten mit Matthias Schaletzky am Klavier wird kein einziges Wort gesprochen!
In einem echten(!) Waschsalon mit Waschmaschine, Trockner, Bügelbrett und Kaffeemaschine (Ausstattung: Imme Kachel) treffen sich Männer: Ingo Wasikowski als verhuschter Softi im Patchwork-Pullover („Ich bin der Martin und wasche hier meine Hemden!“) klärt mit Hilfe Herbert Grönemeyers Lied „Männer“ auf, um welche ganz besondere Spezies es hier geht. Dazu kommt als Heinz-Erhard-Typ und mit der Feststellung „Mit der Liebe ist es aus ... doch ganz ohne Weiber geht die Chose nicht“ Norbert Zilz. Und der schwergewichtige Tobias Amadeus Schöner im schwarzen Rocker-Outfit und einem Seesack voller schmutziger Wäsche behauptet von sich „This Is a Man‘s World“.
Nach diesem furiosen Beginn erlebt man nun das Mit- und Gegeneinander dreier Männer im Waschsalon beim Bestücken der Trommeln und ihre Fantasien beim Betrachten von Stringtanga und „Weiße Hosen aus Satin“. Die drei wunderbaren Sängerdarsteller brennen ein wahres „Feuerwerk der guten Laune“ ab. Obendrein sind sie auch noch Tenöre, was nur von Vorteil ist.
André Bücker lässt sie Lieder großer Diven singen. Dazu gehören Marlene Dietrich, Zarah Leander, Dalida, Hildegard Knef, Erika Pluhar und daneben auch Wencke Myrrhe, Gitte und Frank Sinatra, Fred Astaire, Herbert Grönemeier, Tony Marshall, Udo Jürgens, selbst „Queen“ und „Karat“. In diesem musikalischen Waschsalon wird alles zusammengerührt und mit unbändiger Spiellust präsentiert. Dabei reiht sich Lied an Lied ganz von selbst im Miteinander der drei Waschsalon-„Löwen“. Gerade diese wunderbaren (Lied)-Übergänge machen den Reiz dieses Liederabends aus, der freilich nicht gänzlich ohne Frauen auskommt.
Edith Jeschke „wacht“ über die Waschmaschinen und Textsicherheit, und der Macho in schwarzem Leder verwandelt sich in eine langmähnige Frau, eingezwängt in einen sündhaft schönen Glitzerfummel. Und wie Tobias Amadeus Schöner, der ein bisschen aussieht wie die unvergessenen Trude Herr, ganz „Femme fatale“ mit laszivem Charme spielt, und wie er nun wirklich eine Diva in roten Stöckelschuhen gibt, das macht diesen Abend zum Lacherfolg.
Er haucht „Ich bin eine Frau ohne Vergangenheit“, bekennt „Ich bin, wie ich bin“ aus dem Musical „Ein Käfi g voller Narren“ und lässt sich von Ingo Wasikowski und Norbert Zilz mit dem Ratschlag trösten „Du musst die Männer schlecht behandeln“ – mit der Anleitung zum Vergessen frei nach Herbert Grönemeiers Trinkerballade „Alkohol“.
André Bücker hat sich für seine Szenen im Waschsalon Originelles einfallen lassen, und Gabriella Gillardi lässt die Herren tänzerisch ab und an ins Schwitzen kommen. Norbert Zilz singt „Merci, Merci“ und kämpft mit den Tücken der gleichnamigen Schokoladenpackung. Angesichts der ausgebleichten Blümchen auf den Boxershorts von Ingo Wasikowski singt der „Sag‘ mir, wo die Blumen sind“, und die Freunde antworten schadenfroh „Davon geht die Welt nicht unter“.
Tobias Amadeus Schöner kommt musikalisch zu der Erkenntnis „Eine Dame werd‘ ich nie“, und das ist gut so, denn um diese wunderbare Tenorstimme, bei der jede Rockballade wie eine Puccini-Arie klingt, wäre es wirklich schade.
Dass sich die Drei im Waschsalon so gut verstanden haben, mag wohl daran gelegen haben, dass sie, wie die Geschichte im Programmheft verrät, aus Altenburg stammen. Trotz Waschen, Trocknen und Bügeln im Waschsalon: Tom Jones‘ Hit „Sexbomb“ (als Zugabe) trifft irgendwie auf diese sympathischen Zeitgenossen zu.

zu „Clavigo“

Fein gewobene Fallstricke im Leben eines Aufsteigers

Mitteldeutsche Zeitung Quedlinburg, 28.11.2007

Zeitgemäßer «Clavigo» am Nordharzer Städtebundtheater

Von Uwe Kraus

Quedlinburg. Andre Bücker kann etwas: Er holt erneut Goethe ins Heute und kassiert keine Buh-Rufe dafür. Mit dessen Frühwerk „Clavigo" bewegt er sich auf einem verdammt schmalen Grat. Die Sprache des Meisters setzt sich gerade noch so gegen die Szenerie eines Halbwelt-Clubs unterm Discokugel-Zenit durch, die Lacher im Trauerspiel-Publikum, das in der Quedlinburger Premiere sehr jung war, halten so eben noch die Balance. Der Regisseur vermag es, Humor einfließen zu lassen, ohne jedoch seine Figuren der Lächerlichkeit auszusetzen. Die schier endlos scheinende, auf den Punkt herausgearbeitete Sterbeszene der vom Leben zu Boden Gerungenen bewegt vielleicht gerade wegen ihrer Slow-Motion, während der Text des Stückes wie hektisch herausgeschossene Salven auf das Publikum treffen.

Jens Tramsen als Clavigo hält eines der dürren Hamburger Yellowpress-Produkte hoch, er hat es geschafft, hat sich zu einer Edelfeder heraufgetreten. Unter seinen Sohlen klebt noch kein Blut, aber er hat menschlichen Ballast auf der Karriereleiter abgeworfen. Getreu der Anweisungen seines Personalentwicklers Carlos (Sebastian Müller) schoss er die Französin Marie in den Wind. Elisa Ottersberg, die vor Tragödienbeginn bereits schnorrend durch die Zuschauerreihen zieht, lümmelt zugedröhnt und -kifft in den Sesseln des von Jan Steigert gestalteten Vergnügungslokals. Illuminiert ragt ein Laufsteg von der Bühne bis in Zuschauerreihe 5, so dass das Publikum hautnah am Geschehen ist und das attraktive Gogo-Girl Marlene Behrmann dicht bei sich hat: Blendende Spaßgesellschaft pur. eine Tanzfl äche, von kaltem Stahl gesäumt, ein Boxring, in dem sich Macher als Gewinner im Lebenskampf selber feiern

Regisseur Bücker bleibt ständig nah an seinen profilierten Akteuren, lässt Medienzeitalter gerecht jedes Zucken in den Augen, jedes Aufbäumen per Videokamera auf die Bildschirme am Bühnenrand projizieren, nichts entgeht Publikum und Öffentlichkeit. Das Leben des Gesellschaftsstars Clavigo ist zum Allgemeingut geworden.

Als Maries Bruder (Mathias Kusche) sich zum Rächer stilisiert und wegen des gebrochenen Eheversprechens Rechenschaft vom hofierten Medien-Aufsteiger fordert, treibt er Clavigo in die Entscheidungssituation: Liebe oder Karriere. Auf dem Scheideweg zwischen privatem Glück und öffentlicher Reputation verharrt er in seiner inneren Zerrissenheit nur kurz. Sein Coach Carlos führt ihn und fädelt eine höfische Intrige ein.

Elisa Ottersberg ist eine bis ins Mark verletzte Marie, hat mit diesem treulosen Clavigo innerlich längst abgeschlossen und sich den Drogen hingegeben. Doch Bücker vermag das erneute Schwingen der Gefühle bild- und tonstark zu vermitteln: Das Paar drückt das Mikrofon – im Stück recht beliebig eingesetzt – an ihre pochenden Herzen. Letztlich übt der Geliebte um der Karriere willen angewidert von ihrem abgewrackten Körper ein zweites Mal Verrat. Die Familien- und Standesehre zu retten, das scheint der kleinste gemeinsame Nenner der Beaumarchais, von Schwester Sophie (Illi Oehlmann) und ihrem Mann Guilbert, den Fächer klappernd Markus Bölling skizziert. Daniel Dormeier gibt durch seine dauerbeschallenden Kompositionen dem allgemeingültigen Stück stärkere iberische Verankerung.

Wenn Andre Bücker die einzelnen Goethe-Figuren auf ihre zeitgemäße Substanz abklopft klingt manche letztlich hohl. Nicht jeder durchschaut die fein gewobenen Fallstricke des Aufsteiger-Lebens und vermag die Ebenen der Alltäglichkeiten ohne größere Schwierigkeiten zu durchschreiten.

Clavigo unter der Diskokugel

Volksstimme Magdeburg vom 24. September 2007

Von Gisela Begrich

Das Nordharzer Städtebundtheater eröffnete im Schauspiel die neue Spielzeit mit der Premiere von CLAVIGO von Johann Wolfgang Goethe in Quedlinburg. Mit der Inszenierung des Intendanten André Bücker will sich das Theater auch dezidiert an junge Menschen wenden und nennt das Werk einen Goethe für junge Erwachsene.

Goethes Trauerspiel findet von Anfang bis Ende in einem Ambiente statt, wo eigentlich Freizeit, Unterhaltung und Amüsement angesagt sind. Den Diskoraum mit einem kräftigen Hauch erotischer Verworfenheit gestaltete Jan Steigert (auch Kostüme). Den Hintergrund dominiert eine Tanzfl äche, die von Geländern gesäumt ist. Das zitiert einen Boxring, und hin und wieder klettern Akteure, wenn sie sich zu Gewinnern im Lebenskampf zu zählen glauben, in die eisernen Seile und zelebrieren Siegergesten.

Alle Gespräche, Auseinandersetzungen und Tätlichkeiten sind begleitet von Lichteffekten und Gitarrenklängen (Musik: Daniel Dohmeier), die gleichsam die permanente Beschallung ästhetisch gekonnt simulieren. Die menschlichen Schicksale vollziehen sich zwar inmitten der tönenden und leuchtenden Fassade fast nebenher, doch ihre innere Logik zwingt zwei Menschen am Schluss in die Knie und ins Grab: Marie und Clavigo. Aber Bücker bietet zeitgenössisches Sterben: auf dem Tanzparkett.

Ein Laufsteg reicht bis in den Zuschauerraum. Rote Sitznischen rechts und links sowie Monitore komplettieren eine Location, wo Alltag, Stress und Depression außen vor sein sollen. Aber Regisseur Bücker schlitzt die Spaßgesellschaft gnadenlos auf. Über die Monitore laufen fast durchgängig Bilder der Geschehnisse. Die Katastrophen verfolgen die handelnden Personen bis in Tanz, Sekt und Erotik. Es gibt kein Entrinnen aus einer Welt, die mitnichten nur eine Spaßgesellschaft ist. Die digitale Fessel umschlingt auch die Seele.

Jens Tramsen spielt einen Clavigo, der einen hin und her reißt, ob man ihn umarmen sollte, wie er zuhören kann und Argumente beherzigen, oder ob man ihn vierteilen müsste, weil er so bizarr wenig über eine feste Haltung verfügt. Er irrlichtert zwischen Amüsement und Sinnsuche, Eitelkeit und Verzweiflung, Karrierestreben und Liebe.

Zu den Höhepunkten des Abends gehört, wenn Tramsen, der um Charme nicht verlegen ist, seine abgelegte Freundin Marie erneut begehrt. Elisa Ottersberg (Marie) und Tramsen lauschen mit einem Mikrofon ihre Herzen nach den Schwingungen ab, die die Schnittstellen ihrer Liebe ausmachen. Für einen Moment rennen alle brüchigen Emotionen aus dem Diskoraum und weinen sich ihre Verlogenheit aus dem Herzen. Aber sie kehren zurück wie dumme Gedanken und handfeste Interessen.

Regisseur Bücker erzählt die Story von Goethe auf eine Art, die den Carlos des Sebastian Müller als eine Person interpretiert, gegen deren Vernunft nichts einzuwenden ist. Das Gute ist nicht schön und das Böse nicht hässlich. Sowohl die Ottersberg als Marie als auch Illi Oehlmann als deren Schwester scheinen zerrüttet eher von prekären Zuständen im Clan der Beaumarchais als vom Verhalten Clavigos. Denn Mathias Kusche gibt einen (Paten?) Beaumarchais, dem man nur schwerlich Ehrenhaftigkeit attestiert. Er tötet denn auch den Clavigo, indem er diesen mit betrügerischem Deeskalationsgeschwätz das Messer entwendet.

Alle Darsteller, einschließlich Markus Bölling als Guilbert, sprechen Goethes Text mit hoher Kultiviertheit und agieren auf beachtlichem schauspielerischen Niveau. Sie verlangen aber den Zuschauern eine hohe Konzentration ab, weil die moderne Kommunikationswelt ohne Unterlass in diese Inszenierung schwappt. Da bäumt es sich auf, das Phänomen von ADT (Attention Defi cit Trait): Zerstreutheit wegen Überlastung.

In diesem Sinne besitzt die Vorstellung viele Momente, jungen Menschen das Gewohnte zu servieren. Insofern ein Goethe, wie signalisiert, für junge Erwachsene. Die jedenfalls bewältigen sicher unbeschwerter den Spagat zwischen einer Disko und einem Lebensdiskurs. Oder: Sie erhalten ihr Leben blendend widergespiegelt. Das beschreibt ein Theaterereignis, welches Zu- und Widerspruch herausfordert und mit viel Beifall bedacht wurde.

Eine tödlich blaue Stunde im düsteren Rotlicht-Milieu

André Bücker inszeniert «Clavigo» im Nordharzer Städtebundtheater

Mitteldeutsche Zeitung vom 25. September 2007

Von Andreas Hillger

Dies ist die blaue Stunde in der Rotlicht-Bar: Der tätowierte Türsteher lässt seinen Nacken knacken, der Wirt schiebt den Tischstaubsauger durch das Separee und ein müdes Mädchen probt träge den Hüftschwung an der Lapdance-Stange. Doch kurz nachdem der Zuhälter mit den gegelten Locken eine Prise weißes Glück an eine todtraurige Anfängerin verteilt hat, bewegt ein Luftzug die Spiegelkugel. Auftritt Clavigo, Shooting-Star der Saison!

Nachdem Wolf Bunge Goethes jugendlichen Schnellschuss vor der Sommerpause in Bad Lauchstädt auf seine Gegenwartstauglichkeit geprüft hat, erzählt nun auch der Nordharzer Städtebundtheater-Intendant André Bücker von "Clavigo". Und obwohl er dabei noch radikaler zu Werke geht, nimmt die Substanz des Textes durch den kraftvollen inszenatorischen Zugriff keinen Schaden.

Jan Steigert hat dem Regisseur dafür einen Bühnenraum entworfen, der die Wege verkürzt und das Geschehen verdichtet: Zwei rote Kojen an den Seiten des Portals erlauben intime Gespräche, Video-Bildschirme sorgen für kontrastierende Blickpunkte und ein Laufsteg in das Parkett verstärkt die unmittelbare Nähe zum Zuschauer. Das wirkt am Anfang wie ein erotisches Versprechen - und entpuppt sich am Ende als erschütternde Zumutung. Denn dort, wo Marie eigentlich tanzen sollte, wird sie sterben.

Elisa Ottersberg trägt diese Katastrophe bereits im Leibe, als sie durch den Zuschauerraum zur Bühne wankt - vollgepumpt mit Alkohol und Drogen, mit verschmiertem Make-Up und um eine Zigarette bettelnd. Goethes schwindsüchtig leidendes Mädchen, das einem heutigen Publikum nur als Kitsch-Klischee plausibel zu machen wäre, hat sich von der Rolle als Trivial-Traviata emanzipiert - mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

Ähnliche Häutungen haben der Titelheld und sein Freund Carlos erfahren, die Jens Tramsen und Sebastian Müller als erfolgstrunkene und selbstverliebte Pop-Journalisten zeichnen. Der Flirt mit der Unterwelt ist für solche Karrieristen schick, solange er oberflächlich und ungefährlich bleibt. Wenn der Bruder der ausländischen Hure aber auf dem leichtsinnig hingeworfenen Eheversprechen besteht, drohen Konsequenzen. Und dieses Wort kommt im Sprachschatz unverbindlicher Yuppies nicht vor. Mathias Kusche spielt diesen Beaumarchais lange leise und kontrolliert - und sorgt so dafür, dass der sorgfältige Umgang mit Goethes Text deutlich wird. Erst am Ende kippt die Stimmung mit den Stimmen - und im eskalierenden Geschrei geht manche Nuance unter.

Dass es Bücker aber gelingt, eine zeitferne Tragödie im Heute zu verhaften und die längst irrelevant gewordenen Sozial-Koordinaten des Stückes durch brauchbare Alternativen zu ersetzen, ist die eigentliche Leistung der Inszenierung. Die pervertierte Gesellschaft, die sogar den Drogen-Absturz durch das Kamera-Objektiv beobachtet, liefert eine taugliche Lesart für Goethes Text. Und jene namenlosen, stummen Mädchen, die im Hintergrund der Bar ihre Hüften schwingen, geben dem singulären Schicksal der Marie allgemeine Gültigkeit. Lauter unerzählte Schicksale, über denen Seifenblasen zerplatzen.

Einsame Verlierer im Boxring des Lebens – Popcorntheater mit Tiefgang

Volksstimme Halberstadt vom 25. September 2007

Von Jörg Loose

Quedlinburg. Intendant André Bücker ist immer für eine Überraschung gut. Lesen Sie die knapp 50 Seiten von Goethes Jugendwerk Clavigo, gehen Sie dann in Bückers Inszenierung, und Sie werden erstaunt sein, wie man einen Text auch lesen kann.

Goethe, der hier eigenes Erleben verarbeitet, in dem er eine Episode aus Baumarchais’ (unter anderem Uhrmacher, Geschäftsmann, Weltbürger, Waffenhändler und Autor von „Die Hochzeit des Figaro“) turbulentem Leben nachzeichnet, stellt die Frage, ob gesellschaftlicher Aufstieg und privates Glück gleichzeitig möglich sind. Da haben wir das einfache Bürgermädchen Marie (Elisa Ottersberg), das vom charakterschwachen, intellektuellen Emporkömmling Clavigo (Jens Tramsen) aus Karrieregründen gleich zweifach verlassen wird, Maries zur Hilfe eilenden ungestümen Bruder (Mathias Kusche), den zuerst Rache, dann Marie interessiert, Clavigos abgeklärt intriganten, zynischen High-Society-Freund Carlos (Sebastian Müller) sowie Maries Schwester (Illi Oehlmann) samt Gatten (Marcus Bölling). Letztere sind als brave Kleinbürger unter einer menschelnden Maske vornehmlich am eigenen Überleben interessiert.

Zeitlose Typen

Diese zeitlosen Typen sind bei Goethe in fi ligran gedrechselte Sätze gekleidet, die für uns schon mal recht zäh wirken. Dazu gibt es Szenen (Tod an „gebrochenem Herzen“ auf offener Bühne, ein romantisierendes Finale im „Romeo und Julia“-Verschnitt), die man heute erst einmal glaubwürdig auf die Bühne stellen muss. Zu diesem Zweck situieren Bücker und sein Ausstatter Jan Steigert die Handlung in ein – sagen wir – Etablissement käuflicher Vergnügungsindustrie. Nachdem man den ersten Kulturschock – Goethe im Rotlicht – verwunden hat, muss man aber, nicht ohne Verwunderung, feststellen, dass dieser Clavigo den Transfer aus dem beschaulichen Kleinbürgertum des 18. Jahrhunderts in eine Filiale heutiger, käufl icher Lebensinhaltsindustrie bestens übersteht und der Text auch hier nicht nur gut funktioniert, sondern an Aktualität gewinnt. Marie wird zum Partygirl, das seinen Liebes-/Lebenskummer in Drogen aller Art ertränkt und an einer Überdosis stirbt. Die Schwester Sophie betreibt mit ihrem Gatten den Nachtklub, in dem sich die Intellektuellen Clavigo und Carlos höchst körperlichen Ausgleich von geistiger Tätigkeit erkaufen, der Bruder passt als rachsüchtiger Zuhälter ins Bild. Die konkreten Menschen sind neu, die Probleme, die sie umtreiben, unverändert. Denn letztendlich verkaufen wir uns alle – Arbeit, Körper, Liebe, Seele. Und wo beginnt das eine, wo endet das andere? Ist, wenn alles verkäuflich ist, auch wirklich alles käuflich? Dieser Ort ist als Metapher von erschlagender Gleichnishaftigkeit – er symbolisiert Käuflichkeit und seelische Schäden in allen Spielarten. Eine Tanzfläche in Boxringform und ein Laufsteg mit Tabledancestange bestimmen die Szenerie. Ein sinnleeres Leben als ewig währender Kampf in der Choreografie von Diskoklängen. So ist das heute!

Figuren im Boxring

Durchaus komisch und satirisch werden die hampelnden Schritte der Figuren in diesem Boxring gezeigt. Dazu ist Goethes Text etwas geglättet, auf einige Nebenfiguren wird verzichtet oder Textteile werden von anderen übernommen. Wenngleich zuweilen Dynamik und Lautstärke zu Lasten einer ausbalancierten Deklamation gingen, es den einen oder anderen infantilen Lacher an unpassender Stelle gab und im Übrigen für meinen Geschmack nicht jeder Gag bruchlos in das szenische Gefüge passte, so bleibt doch insgesamt ein kraftvoll mitreißender, szenischer Befund. So wird aus Goethes bedeutungsschwerem Moralstück unterhaltsames, kurzweiliges Popcorntheater mit Tiefgang, das sich auch vor Kinoanleihen nicht scheut. So trägt Carlos in Habit und Charakter Züge des Zorg aus Luc Bessons „Das fünfte Element“, und auch Marie ist Milla Jovovich (in Bessons Film Sinnbild reiner Liebe) – überraschend und beziehungsreich ähnlich.

Der kompakte sparsame Soundtrack Daniel Dohmeiers (Gitarre, Percussion, Geräusche) vermittelt wieder die Unruhe und Unrast, die unter der Oberfläche der Figuren brodelt. Das Ensemble leistet insgesamt sehr gute Arbeit, wobei der wie aus einem Guss abrollende 4. Akt (Tramsen und Müller) zu den Höhepunkten zählt, und die Charakterstudie der Marie mit ihrer berührenden Mischung aus stillen und wahnsinnigen Momenten hervorragt.

Im Gegensatz zu Goethes balladesker Schlussszene kennt Bückers Boxring des Lebens am Ende nur einsame Verlierer. Dies dem weniger Rücksichtslosen, weniger Ichbezogenen Heranwachsenden ins Bewusstsein zu rücken, ist ein Vorzug von Goethes Stück und Bückers sehr heutiger, kraftvoller Inszenierung, die heftigen Premierenapplaus erhielt.

Also, unbedingt zuerst lesen und dann ab ins Theater.

zu „Du, meine Seele, singe“

Begegnung mit einem starken Menschen

Mitteldeutsche Zeitung, 17.11.09

Erstmals nach seiner Premiere 2007 war das Werk «Du meine Seele, singe» jetzt in der Lutherstadt zu erleben

VON CORINNA NITZ, 17.11.09

WITTENBERG/MZ. Zwei Jahre nach seiner Uraufführung kam am Sonnabend das Choratorium "Du meine Seele, singe" von August Buchner endlich in Wittenberg an. 2007 hatte das Nordharzer Städtebundtheater mit diesem Projekt neue Wege zur Kooperation mit Partnern aus der freien Szene sowie aus der evangelischen Kirche erprobt. Das szenische Konzert, das anlässlich des 400. Geburtstages von Paul Gerhardt (1607 bis 1676) vom halleschen Verein Kultur und Bildung 05 entwickelt und produziert wurde, verbindet das Prinzip einer Tournee-Inszenierung mit der protestantischen Tradition aktiver Gemeindebeteiligung. In der Regie von André Bücker erinnert der Schauspieler Frank Roder seither mit Gemeindechören in ganz Deutschland an Leben und Werk des Kirchenlieddichters.

Die Besucher in Wittenbergs Stadtkirche erlebten das Choratorium neu arrangiert mit Sängern und Instrumentalisten der Musikschule Dessau. Statt eines Gemeindechors überreichten nun sie Paul Gerhardts Lieder - in voller Länge. Und chorisch fielen sie immer wieder Frank Roder ins Wort, der bei seinem Gang durch Paul Gerhardts Leben Luthers Predigtkirche rastlos vermessen hat. Die Zuschauer konnten nie sicher sein, wo der Schauspieler als nächstes auftauchen würde. Mal kniete er flehend im Altarraum, einen Augenblick später beugte er sich von der Kanzel herab, um kurz darauf auf der Orgelempore zu deklamieren.

Dass die Aufführung für manchen der vielzählig erschienen Besucher zu einem anrührenden und, ja, auch bereichernden Erlebnis wurde, lag indes nicht nur an der Botschaft der Lieder oder an Roders eindringlichem Spiel, der in den Texten Paul Gerhardts ganz aufzugehen schien. Es lag an Gerhardts Leben selbst, das alles war - außer ein Spaziergang. Nicht nur, dass der Gastwirt- und Bürgermeistersohn aus dem kursächsischen Gräfenhainichen den Dreißigjährigen Krieg durchlebte. Er musste auch vier seiner fünf Kindern zu Grabe tragen, ebenso die um etliches jüngere Ehefrau. Und obendrein geriet er in Berlin, wo er an der Nicolaikirche eine Stelle als Diakon innehatte, beruflich in Bedrängnis, als sein Dienstherr, der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund, von ihm verlangte, sich vom lutherischen Standpunkt zu distanzieren. Gerhardt lehnte ab, wurde entlassen und nach Lübben, das seine letzte Lebensstation werden sollte, versetzt. Glücklich war er darüber nicht. "Ich wollte Lübben nicht, Lübben wollte mich nicht, und der Rest ist Schweigen", rief Frank Roder in der Stadtkirche.

Was Gerhardts unbeugsame Haltung in Berlin betraf, so kann man sie, erst recht unter dem heute wieder weit verbreiteten Motto "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing", als unnötigen Starrsinn bezeichnen. Man kann darin aber auch ein Zeichen von charakterlicher Stärke sehen. Die Kraft dafür zog Paul Gerhardt aus seinem Glauben, der ihn selbst in größter Not nicht zu verlassen schien. Davon künden nicht zuletzt Lieder wie "Befiehl du deine Wege" oder sein wohl berühmtester Choral, mit dem das Choratorium endet: "O Haupt voll Blut und Wunden".

Wer so empfindet, der ist wahrhaft frei. Auch wenn für Menschen im Hier und Jetzt die "theo-musikalische Ernte", wie ein Experte einmal das Vermächtnis des Gräfenhainicher Pfarrers und Poeten nannte, keineswegs ohne Anstrengung eingefahren werden kann.

Die große Sehnsucht nach Gott

Ute van der Sanden, Mitteldeutsche Zeitung/ Dessau-Roßlau, 03.11.2009

Reformationstag: «Leben und Lieder des Paul Gerhardt» bewegten die Menschen in der Georgenkirche

"Mein erster Schrei", sagte der schmale Mann mit fester Stimme, "soll ein Seufzer gewesen sein". Als der Sprecher jäh zur Ich-Form wechselte, hatte er die Herzen der Zuhörer längst auf seiner Seite. Es ging ganz leicht: Sie haben gesungen. Viele Strophen eines Liedes von Paul Gerhardt. Immer wieder jene alte, von Johann Crüger erfundene Melodie, mit immer neuen Worten von Gnade, Trost, Erlösung und Gottvertrauen. Sie sangen mit dem Chor der Musikschule Dessau-Roßlau, im Wechsel begleitet von Blockflöten und Posaunen. Das machte sie empfänglich für die Botschaft der "Choratorium" genannten Collage aus Paul Gerhardts Liedern, aus den Worten seines eigenen und des Neuen Testaments, aus fiktiven autobiografischen Berichten.

Unpathetische Darstellung

Nach zahlreichen erfolgreichen Aufführungen etwa in Alterode, Halberstadt und Weißenfels wurde das anderthalbstündige Stück "Du meine Seele singe" am Reformationstag in der Dessauer Georgenkirche gegeben - hier als Koproduktion der Musikschule mit Partnern aus Halle und Wittenberg. Fast 200 Besucher fasste die moderne Rundkirche, in der Schauspieler Frank Roder entschlossen oder trauernd, ruhelos oder erbost, immer wieder in sich hinein blickend innere Glaubenskriege ausfocht und Jahrhunderte überschritt. Die virtuosen Sprachvariationen Johann Caspar Schades auf den Anfang des 63. Psalms über die "Sehnsucht nach Gott" verfehlten auch diesmal ihre Wirkung nicht, und in das bekannte Lied "Geh aus, mein Herz" rief er Bibelzitate mitsamt Quellenangabe, als korrespondiere da einer rückblickend mit seinem Werk.

Roders stets unpathetische Darstellung hielt den Text in der dialogischen Schwebe mit den Liedern und verhinderte das Umschlagen der Lebensbeichte in eine erbitterte Abrechnung mit dem Schicksal. Wenn der Schilderung vom "schwarzen Tod" das Lied "Du meine Seele singe" folgt, wird die reinigende, tröstende und entrückende Kraft des Gemeindegesangs verständlich, ohne dass es weiterer Erklärungen bedurfte.

Die Arrangements des früheren Dessauer Musikschulleiters Thomas Kunath für Instrumentalbegleitung gelangen mit Ausnahme des letzten, worin das Thema von "O Haupt voll Blut und Wunden" in der Art eines Choralvorspiels gesetzt und von Blockflöten umzingelt ist. Die Harmonien sind nicht ungewöhnlich, die Instrumentierung schenkte der Musik Farben. In der Einstudierung von Marianne Kaiser und Ulrike Mahlo sangen die Jugendlichen mit spürbarem Bewusstsein für das Wort und guter Textartikulation. In den voll besetzten Reihen stimmte mancher Zuhörer ein, leise, nur für sich. Von der Empore sprach der Chor auch das Testament des Liederdichters. Es war sogar den unmittelbar darunter Sitzenden akustisch verständlich - nicht zuletzt, weil Regisseur André Bücker den Sängern das effektvolle Akzentuieren der Nebensätze angetragen hatte.

Ein Choratorium erinnert an den Liederdichter Paul Gerhardt

Mitteldeutsche Zeitung vom 29.06.2007

Von Ute van der Sanden

Es hat alles gepasst. Im Garten der Johanniskirche war am Johannistag fürs Johannesfest weiß gedeckt. Halberstadts Türme reckten sich der Sonne entgegen, vor der Orgel kam eine Bauplane als skurriler Bühnenvorhang zu Ehren. Nun aber ging die Rede von Brandenburgs Kurfürst Friedrich Wilhelm, der den Pfarrer Paul Gerhardt „in die Märtyrerschaft entlassen“ hatte. Und die Stimme, die so sprach, schickte die Sorglosigkeit vor die Tür: „Wir schreiben das Jahr 1676, hier und jetzt!“

In Gräfenhainichen das Geborenwerden als „Allerweltskind“. Dann Grimma, Wittenberg, Berlin, Mittenwalde, wieder Berlin. In Lübben das Testament: Eine „fröhliche Abfahrt“ hatte der Schreiber erbeten. An den Lebensstationen, in den Liedern Paul Gerhardts wurden sein Werk sichtbar, die Qualen, unter denen es entstanden war – und der Trost, den es birgt.

Theaterstück, musikalische Andacht, Gottesdienst: All dies steckt in diesem szenischen Gemeindekonzert, das vom halleschen Verein „Kultur und Bildung 05“ entwickelt und vom Nordharzer Städtebundtheater koproduziert, vom Landesverwaltungsamt und von der Kirchenprovinz Sachsen gefördert, zum 400. Geburtstag des Dichters uraufgeführt und bislang auch in Alterode und Merseburg gezeigt wurde. 20 weitere Kantoreien haben das Ereignis samt Personage bereits gebucht. Weitere Bewerbungen sind willkommen.
Mitwirkung auch. Das ist die Idee des in seiner Gesamtwirkung auf eine ebenso unaufdringliche wie unbegreifliche Weise mystischen Stücks. Alle müssen Acht geben, wann sie dran sind mit dem Singen. Weil Ort und Besetzung wechseln, ist keine Aufführung wie die vorige. Diesmal ward der Anteil des Chor- zugunsten des Gemeindegesangs reduziert. Wurde Paul Gerhardts Testament von Lektoren verlesen, nicht vom Chor. Eine leise Lösung, die Regisseur André Bücker für „absolut legitim“ hielt.

Über die Qualität von Gesang und Orgelspiel muss nicht räsoniert werden – Hauptsache, die Gefühle sind echt. Einige der innigsten Gerhardt-Lieder, darunter „Du, meine Seele, singe“, das der Inszenierung den Titel gab, sind mit dem Text verwoben – in voller Länge! Eine Herausforderung, zumal nicht jedem jede Melodie geläufig ist.
Dafür, dass es dennoch allenthalben funktionieren wird, sorgt das Gerüst dieses „Choratoriums“ von August Buchner – sein frommer Text, der ein verzweifelter, renitenter, suchender ist. Seine emotionale Kraft und herzenswarme Poesie bezieht er aus der Geschichte, die er erzählt, und den sprachgewaltigen Bildern, die er findet. Frank Roder deklamiert ihn auswendig, als fände er ihn im Moment des Sprechens – widerstrebend zum Gesang oder mit ihm im Einklang.

In den Wortvariationen Johann Caspar Schades über den Anfang des 63. Psalms über die „Sehnsucht nach Gott“ entfesselt er einen inneren Glaubenskrieg, auf „Geh aus, mein Herz“ montiert er überschwänglich Bibelzitate mitsamt Quellenangabe. Kein Happy End. “Wer so stirbt, der stirbt wohl”, verklang die Choralmelodie aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion. „Oh“, stöhnte eine alte Dame, als Frank Roder seinen Paul Gerhardt flehend, hadernd, ehrfurchtsvoll mit dem Herrn abrechnen ließ, „oh, um Gottes willen!“ Niemand im Publikum wusste recht, ob dies das Ende war und jetzt geklatscht werden durfte. Wie gesagt, es hat alles gepasst.

zu „Auf die Plätze“

Bewusstsein schaffen

NZZ online, 21.9.2007

In Halberstadt, Sachsen-Anhalt, kämpft das Theater gegen Rechtsradikale

von Dirk Pilz

Halberstadt, im Juni diesen Jahres: Mehrere Mitglieder des Nordharzer Städtebundtheaters werden von rechtsextremen Schlägern angegriffen, als das Ensemble von der Premierenfeier nach der «Rocky Horror Picture Show» im Harzer Bergtheater kommt. Einem Tänzer wurden Zähne ausgeschlagen, der Gitarrist hatte eine gebrochene Nase. Vergangenen Freitag standen sie mit der «Rocky»-Truppe auf einer Bühne im Zentrum von Halberstadt und eröffneten den Aktionsabend «Auf die Plätze! Die Stadt gehört den Demokraten». Bis tief in die Nacht wurde die ostdeutsche Kleinstadt im nördlichen Harzvorland bespielt. Tanz, Musik, Theater, gedacht als «Eroberung des öffentlichen Raums durch Kunst und Kultur». Die rechte Szene, hiess es zuvor, versuche «offensiv den öffentlichen Raum zu besetzen». Mit «Auf die Plätze!» sollte sich die Demokratie als «wehrhafte Alternative gegenüber dem erstarkenden braunen Selbstbewusstsein» erweisen. Ein öffentlicher Protest, organisiert vom Nordharzer Städtebundtheater.

Alternative als Volksfest Und zum Auftakt also Ausschnitte aus der «Rocky»-Show: «Lost in time, lost in space» singen sie auf der Bühne, während die wehrhafte Demokratie an Bierbänken sitzt. Die Alternative tritt als Volksfest auf. Rückeroberung der Stadt bedeutet: Würstchenbude, SPD-Stand, Bier in Plasticbechern. Dazu ein bunter Veranstaltungsreigen. An der Tankstelle, dem Treff der Neonazis, startet ein Spielmannszug, unter einer Linde werden Texte von Christoph Hein gelesen. In den Rathauspassagen ein jodelnder Polizist, vorm Dom der Posaunenchor.

Intendant André Bücker sagte nach dem Überfall, seine Leute seien nicht zusammengeschlagen worden, weil sie Tänzer und Sänger sind, sondern «weil sie am falschen Ort zur falschen Zeit waren». Solche Dinge passierten in Halberstadt öfters. Das örtliche soziokulturelle Zentrum Zora e.V. hat eine Chronologie der jüngsten Ereignisse veröffentlicht. Brandanschläge, Körperverletzungen, Rauchbomben. In Halberstadt, sagt man bei Zora, würden «rechtsradikale Jugendliche und Erwachsene anscheinend toleriert». Anscheinend. Und anscheinend nicht nur in Halberstadt.

Punktsieg für die Demokratie

Rechtsextremismus und das kollektive Schulterzucken sind keine Einzelfallprobleme, auch keine ostspezifischen. Es sind gesamtgesellschaftliche. Wer wüsste das nicht. Und wer weiss einen Ausweg? Die Erklärungsversuche docken entweder bei sozialpolitischen (Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit usw.) oder historisch-psychologistischen Argumenten an (fehlende Einübung in Toleranz, mangelnde Kenntnisse anderer Kulturen usw.). Sie sind alle genauso richtig, wie sie das Ursachengeflecht vereinfachen. Die Probleme werden so sicher nicht gelöst. Einerseits.

Andererseits ist die Lage vor Ort derart dramatisch, dass ein öffentliches Auftreten der vereinten Kulturkräfte bereits als Punktsieg für die Demokratie gelten muss. In Städten wie Halberstadt könne das Theater damit etwas öffentlich machen, was sonst viel zu oft nicht öffentlich werde, sagt Bücker. Er meint die reale Bedrohung von rechts – und denkt an das Theater in seiner Funktion als Bewusstseinsschärfer: «Sie nutzen die Fäuste, wir nutzen die Bühne.» Im Einzelfall mochten die Darbietungen naiv anmuten, aufs Ganze gesehen löste das Theater im Verbund mit Vereinen, Bürgerinitiativen und Verbänden aber ein, was es versprach: das konkrete, greifbare Zeichensetzen.

«Rechtsradikale haben uns nicht im Würgegriff»

Jüdische Zeitung, 5.10.2007

In Halberstadt startet am 14. September die Initiative «Auf die Plätze!»

Es geschah am helllichten Tag. Die wärmende Frühabendsonne meint es zum Ausgang des Tages noch lange gut mit den Bürgern von Halberstadt. In der kleinen Stadt der Nordharz-Region scheint auch für Rainer Neugebauer, seines Zeichens Professor für Sozialwissenschaften an der örtlichen Fachhochschule, der obligate Feierabendspaziergang einen sonnigen Verlauf zu nehmen. Neugebauer ist zudem Mitglied im «Bürger-Bündnis für ein gewaltfreies Halberstadt» und einer der treibenden Kräfte in Sachen Aufklärungsarbeit über Motivationszusammenhänge rechtsextremer Gewalttaten in Sachsen-Anhalt. Über den «Fischmarkt» weht noch ein laues Sommerlüftchen. So könnte ein Märchen beginnen. Tut es aber nicht. Professor Neugebauer schlendert über das Kopfsteinpflaster der Innenstadt. Noch ahnt niemand, dass diese Ruhe auf dem zentralen, bevölkerten Platz schnell verflogen sein wird.

Der Professor mit dem Vollbart steuert einen der zahlreichen Läden in der «Passage» an, dem Geschäftszentrum der Stadt. Jäh werden seine Gedanken von einer Gruppe Jugendlicher und Erwachsener aufgeschreckt, die sich am Rand des «Fischmarkts» versammelt haben. Sie brüllen Neugebauer an: «Wir haben ein Problem!» In der Vergangenheit erhielt Neugebauer des öfteren telefonische Drohungen, beleidigende E-Mails und bekam auf offener Straße Schläge von einigen inzwischen stadtbekannten Rechtsextremen angedroht. Neugebauer bleibt daher besonnen und ruft zurück: «Welcherart Problem gibt's denn?». Die Jungmänner schlagen einen aggressiven Ton an: «Da ist ein Rabbi, der ist verlaust!» Irgendjemand hat schon die Polizei gerufen. Nachdem die eingetroffen ist, wird eine Anzeige geschrieben.

Alles scheint jetzt den Weg polizeilicher Ermittlungen zu nehmen. Doch noch auf dem Platz, in Anwesenheit der Polizeibeamten, geben sich die Rechten selbstgerecht. Auf die Frage einer der Beamten, warum die Gruppe den Professor als Rabbi bezeichne, suchen die rechten Provokateure nach Ausflüchten. Schon fragt der zweite Polizist, was das denn überhaupt sei, ein Rabbi? Wenn sich Neugebauer an diese Szene erinnert, sagt er, bliebe ihm noch immer das Lachen im Hals stecken: «Die seltsame Informationstaktik der zwei Polizisten führte dazu, dass sich der rechte Klüngel nicht gerade eingeschüchtert fühlte».

Im Gegenteil. Ob der offensichtlichen Unwissenheit des einen Ordnungshüters in Sachen jüdischer Religion und Kultur trauten sich die «Nachwuchs-Antisemiten» noch mehr. «Völlig hemmungslos wollten sie die Polizisten auch noch zum vermeintlich Besseren bekehren, indem sie debattierten und sich dann mir zuwandten und meinten, aber ich sei ja auch nunmal kein „Arier"», so Neugebauer. Diese ganz offensichtlich in Halberstadts einschlägigen Vierteln schon üblich gewordene Alltagsposse ging, trotz aller Bedrohlichkeit, noch verhältnismäßig glimpflich aus. Anders dagegen verlief im April 2000 die Beschwerde eines Rentners. Der hatte sich über zu laute «Nazi-Musik» in einem Wohnhaus beschwert. Der 60-jährige Mann war damals niedergestochen worden und an seinen Stichverletzungen gestorben. Neugebauer ergänzt die traurige Palette rechtsextremer Vorfälle in Halberstadt: «Im August 2003 wird bei einem brutalen Überfall auf das Jugendzentrum «Zora» ein junger Halberstädter durch Tritte gegen den Kopf schwer verletzt. Am Himmelfahrtstag 2005 werden ein Schwarzafrikaner und ein Polizist, der ihm helfen will, am Bahnhof zusammengeschlagen». Nur wenige der umstehenden Zuschauer hätten seinerzeit Zivilcourage gezeigt. Auch als dieser Tage der Professor als «verlauster Rabbi» angeschrien wurde, hätten die Menschen, die zu dem Zeitpunkt auf dem «Fischmarkt» waren, nicht eingegriffen.

Mut zur Zivilcourage

Im letzten Jahr geriet Halberstadt bundesweit in die Schlagzeilen, nachdem im Rahmen einer Großdemonstration gegen Rechtsextremismus und gegen die NPD der Landkreis Harz ein Anti-Nazi-Konzert des Liedermachers Konstantin Wecker nicht gestattet hatte. Die verantwortlichen Kreisbediensteten hatten sich dem Druck der NPD gebeugt, die damit gedroht hatte, die Veranstaltung mit Gewalt zu verhindern. Im Frühjahr 2006 trotzten schließlich zahlreiche Bürger Halberstadts einem demonstrierenden Aufgebot der «Sozialrevolutionären Nationalisten» und der «Jungen Nationalisten» mit dem Slogan «Halberstadt ist bunt und nicht braun». Dies sei einer der eher seltenen Momente gewesen, in denen «die Bevölkerung unserer Stadt ganz deutlich Mut zur Zivilcourage zum Ausdruck gebracht hat», freut sich Jutta Dick im Rückblick. Sie ist die Leiterin der Moses-Mendelssohn-Akademie, einer internationalen Begegnungsstätte für Tagungen, Konzerte und Informationsveranstaltungen über Judentum im Allgemeinen und über die Geschichte der einst blühenden jüdischen Gemeinde von Halberstadt.

Auch der Botschafter Israels in Deutschland, Shimon Stein, bekam im September 2006 bei seinem Besuch der «Winterkirche» eine Portion des virulenten Antisemitismus und der Ausländerfeindlichkeit in Halberstadt zu spüren. Trotz eines Großaufgebots der Polizei, die den Domplatz abgesperrt hatte, schallten die Rufe der etwa 70 Rechten, die nicht in den Blick des Politikers geraten sollten, weit über den Platz. Am Domplatz steht das Vaterhaus von Martin Bormann, den Hitler angeblich als «Treuesten seiner Parteigenossen» bezeichnete. Unter einigen Bürgern der Stadt kursiert die Auffassung, die Rechten hätten es nicht dulden wollen, dass der israelische Botschafter in der Nähe jenes Hauses herumlief. Dabei war der Domplatz als Ort von Shimon Steins Visite passend gewählt. Dort stehen die «Steine der Erinnerung und Mahnung». Sie sollen an die Opfer der Pogrome erinnern und verzeichnen alle Namen der ermordeten Halberstädter Juden.

Letztes, prominentes Beispiel für die Latenz rechtsextremer Gewalt in Halberstadt waren im vergangenen Juni die Angriffe auf mehrere Künstler des Nordharzer Städtebundtheaters sowie auf ihren Intendanten, André Bücker. Die Täter sind den städtischen Behörden zum Teil als Rechtsextreme bekannt und nach Aussagen der Polizei einschlägig vorbelastet. Die Initiative «Auf die Plätze!» des Nordharzer Städtebundtheaters in Zusammenarbeit mit der Stadt strebt nun am 14. September von 20 Uhr bis 24 Uhr eine «Rückeroberung des öffentlichen Raumes unter Einbeziehung aller demokratischen Kräfte mit den Mitteln von Kunst und Kultur» an. Die Bürger sollen, so wird es von den Machern rund um Intendant Bücker erhofft, sich an jenen Plätzen der Stadt versammeln, «an denen sich für gewöhnlich die Rechten treffen».

André Bücker hofft, «das wir Bürger diese Stadt in dieser Nacht bevölkern, was sonst nicht der Fall ist, da Halberstadt nachts einfach nicht belebt ist, das muss man mal so sagen». Es solle etwas «Wirkliches übrigbleiben, über diesen einen Tag hinaus, dass man mit vereinten Kräften endlich wieder zeigt, wir lassen es uns nicht länger bieten, von Rechtsextremen auf der Straße angepöbelt und verprügelt zu werden». Es nutze niemandem, so Bücker, «das Problem Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit zu negieren oder auf die Medien zu verweisen, von wegen die Presse würde Rechtsextremismus in Deutschlands bloß „hochschreiben", wie ich es immer wieder zu hören bekomme».

Eine absurde «Begebenheit» hat sich inzwischen ereignet. «Die Rechten», schmunzelt Bücker, «haben vor kurzem unsere Aktion aufgegriffen und eine NPD-Demonstration mit demselben Namen „Auf die Plätze" am 15. September, also einen Tag nach unserer Aktion, in Quedlinburg und in Zerbst angemeldet». Die Aktion «Auf die Plätze!», die ursächlich von André Bücker entwickelt wurde, solle nicht als ein Ereignis der kommunalen Politik verstanden werden. «Wir alle sollen etwas kreativ gegen unser rechtsextremistisches Problem in der Stadt tun und zwar mit dem kulturellen Potential der Zivilgesellschaft», unterstreicht Bücker. «Die Bürger einer Stadt wie Halberstadt müssen ein Stück weit wieder lernen, ihre Teilhabe an der Zivilgesellschaft öffentlich zu nutzen, indem sie sich abends nicht mehr verkriechen, um so den Rechten nicht länger Raum für deren Agitationen zu überlassen. Das Signal, das in Halberstadt von den Bürgern aufgebaut werden muss, ist klar: Rechtsradikale haben uns nicht im Würgegriff.»

Vor wenigen Tagen vermeldete die Stadtverwaltung von Halberstadt, dass am 3. September die «Gründung des Präventionsrates Harz gegen Rechtsextremismus» erfolgen soll. Als hätte es erst zu den Vorfällen von Mügeln - im Kreis Torgau-Oschatz - kommen und der Vize-Präsident der EU-Kommision, Franco Frattini, sich zum NPD-Verbot in Deutschland zu Wort melden müssen, bevor es zu einer solchen Gründung kommt.

Der Aufbau der jüdischen Gemeinde Halberstadts verläuft derweil erfreulich. Durch die Zusammenarbeit von Jutta Dick mit Prof. Julius Schoeps, der auch Vorstand der Moses-Mendelssohn-Akademie ist, entstand die Idee einer Patenschaft mit der «Synagogengemeinde Berlin Sukkat Schalom». Die Berliner Mitglieder von «Sukkat Schalom» treffen sich Anfang September in Halberstadt, «auf dass diese Patenschaft den 50 jüdisch-russischen Gemeindemitgliedern helfen wird, sich als Gemeinde besser zu orientieren", denn die Gemeinde besteht schon seit März 2005 als „Verein jüdische Gemeinde Halberstadt"». Da würde es langsam Zeit, dass die etwa 20 Familien zu ihrer jüdischen Identität im alltäglichen Leben zurückfänden, wünscht sich Jutta Dick. Auch wenn das noch «ein sehr steiniger Weg» sei.

Frank König

Respekt für Zivilcourage

Mitteldeutsche Zeitung, 1.10.2007

Aufsichtsrat von M. DuMont Schauberg debattiert mit Quedlinburgern über ihr Engagement gegen Rechts

Von unserem Redakteur Detlef Valtink

Quedlinburg/MZ.„Wir sind hier, um Ihnen unsere Anerkennung, Respekt und Dankbarkeit auszudrücken“, bringt es Professor Alfred Neven DuMont, Aufsichtsratsvorsitzender und Herausgeber der Mitteldeutschen Zeitung, auf den Punkt. Quedlinburg hat Gäste. Der Aufsichtsrat der Unternehmensgruppe M. DuMont Schauberg trifft sich an diesem verregneten Samstagvormittag mit Bürgern aus dem Harz. Es geht um Zivilcourage gegen rechten Ungeist, um Gemeinsinn und Demokratie. Quedlinburg und Halberstadt haben in diesen Tagen viel damit zu tun. Die mutigen Aktionen der Bürgerschaft nach einem brutalen Überfall rechtsextremer Schläger auf eine Theatergruppe sowie bei einer NPD-Demonstration sprechen dafür. Und so erfüllen die Worte von Alfred Neven DuMont die Vertreterin des Bürgermeisters, Birgit Voigt, mit Stolz: „Es ist schön, dass Sie hier sind und uns in unserem Anliegen unterstützen.“

Schnell entspinnt sich im altehrwürdigen Ratssaal ein lebhafter Dialog. Die Mitglieder des Runden Tisches für Demokratie und Toleranz in Quedlinburg und die Organisatoren der Aktion „Auf die Plätze“ in Halberstadt haben viel zu erzählen. Zum Beispiel André Bücker, Intendant des Nordharzer Städtebund-Theaters. „Ihre Worte tun gut. Und das brauchen wir auch, wenn wir weiter gegen den erstarkenden Rechtsradikalismus wirkungsvoll vorgehen wollen“, sagt der 38-Jährige. Bestürzte Blicke, als Bücker jene verhängnisvolle Nacht des Überfalls schildert, beschreibt wie rechte Schläger nach einer Premierenfeier auf Schauspieler einschlugen. Sie krankenhausreif prügelten und nicht innehielten, als die Opfer schon blutend auf der Straße lagen. Bücker spricht vom Versagen der Polizei, die die Täter zunächst laufen ließ. Und er erzählt über die Aktion „Auf die Plätze“, einem friedlichen Abendfest tausender Halberstädter. „Es kann nicht sein, dass sich Menschen in ihrer persönlichen Freiheit selbst einschränken, in dem sie bestimmte Plätze zu bestimmten Uhrzeiten meiden.“

„Was Sie getan haben, ist mehr als bemerkenswert“, zollt Alfred Neven DuMont Beifall. Gleichgültigkeit, demokratieverachtendes Gedankengut, Menschen, die sich von der Politik verlassen fühlen - der Nährboden für Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus habe zahlreiche Ursachen. „Als Jugendliche mussten wir miterleben, wie die Nazis die Oberhand gewannen. Soweit darf es nie wieder kommen. Denn dann haben wir keine Chance mehr“, warnt er.

Auf die Frage der Gäste nach Unterstützung durch die Landesregierung kommen die Antworten zögerlich. Stadt-Jugendpfleger Klaus Buchholz sieht da „eine gewisse Hilflosigkeit“. Auf das Wirken der Polizei bezogen, wird schnell deutlich, dass die Unzufriedenheit groß ist. Alfred Neven DuMont greift die Kritik auf. „Die beschriebene Hilflosigkeit tut weh.“ Er habe den Eindruck, so der Aufsichtsratsvorsitzende, die Landesregierung habe zwar die Brisanz der Problematik erkannt, aber offenbar habe es hier an kämpferischem Input und Präsenz gefehlt. Da seien der Ministerpräsident und sein Innenminister in der Pflicht. Wolfgang Clement, Aufsichtsrat und ehemaliger Bundeswirtschaftsminister, sieht es genauso. „Die Polizei muss konsequent das Ihre tun. Dort hat es augenscheinlich erhebliche Defizite gegeben. Die Gesellschaft darf Gewalt nicht tolerieren und muss die Ursachen erkennen, warum Menschen in eine solche Geisteshaltung hinein kommen.“

Aufsichtsrat Professor Peter May fügt hinzu: „Der Bürger hat nach dem Grundgesetz das Recht auf Schutz durch den Staat. Das ist die Verpflichtung des Staates.“ Auch die begleitenden Ehefrauen betonen ihr nachhaltiges Engagement im Kampf gegen Rechts. Für MZ-Chefredakteur Hans-Jürgen Greye steht fest: „Regierung und Polizei müssen die Probleme nicht nur erkennen, sondern sie sich auch eingestehen. Nicht die Sorge um das Image des Landes hat Vorrang, sondern der Kampf gegen Rechts.“ Unterstützung geben, Mut machen - Stichworte, die den Dialog prägen. Gabriele Vester verhehlt nicht, dass auch sie von Ängsten geplagt wird. „Doch“, so die Hotelbesetzerin, die aus den alten Bundesländern in den Harz gekommen ist, „die Frage ist, ob man sich diesen Ängsten ergeben muss.“ Die Aktionen in Halberstadt und Quedlinburg hätten ihr Mut gemacht. „Es war richtig, sich hier anzusiedeln.“ Über einen Weg, um an die Wurzeln des Übels zu gelangen, spricht Buchholz. Seit über zehn Jahren gibt es in Quedlinburg das „Altstadtprojekt“, eine Präventionsmaßnahme. Kinder und Jugendliche aus sozial gefährdeten Familien werden hier betreut. „Wir wollen ein Abgleiten dieser jungen Menschen in Kriminalität und dumpfes Denken verhindern.“

Auch anderswo wird gehandelt. So hat das Städtebundtheater Verträge mit Gymnasien und Jugendclubs geschlossen, wurde ein Präventionsrat Harz gegen Rechts gegründet, werden Konzepte entwickelt, wie die Zivilcourage gestärkt werden kann. Es gilt gegen Rechts Gesicht zu zeigen. „Das ist modellhaft. Wir stehen Ihnen dabei in der Zukunft mit Rat und Tat zur Seite“, sagt Alfred Neven DuMont. Beleg für diese Worte: Eine Spende von je 3 000 Euro für das Jugendprojekt des Städtebundtheaters und für das Altstadtprojekt.

Backe, Hans und Grete

Berliner Zeitung, 17.9.2007
Die rechten Schläger von Halberstadt haben Schaden angerichtet. Jetzt heißt es: Nutzen daraus ziehen!

von Ulrich Seidler

Ich darf das.", proklamiert Backe, ein jugendlicher, doch aufgedunsener und trübäugiger Suffpunk seine Individualrechte (Name stilecht geändert). Und er zündet sich, nachdem er sich ein sonnengewärmtes Guten-Morgen-Sternburgpils in den Hals geschüttet hat, eine zerknitterte Haschtüte an. Wir befinden uns im Harz-Elbe-Express auf dem Weg von Halberstadt nach Quedlinburg zur Antigegendemo.

Obwohl es noch ziemlich früh ist, will Backe die Quedlinburger Bürger ein bisschen unterstützen bei ihrem Protest gegen einen NPD-Aufmarsch unter dem antikapitalistisch-kameradschaftlichen Motto: "Auf die Plätze! Wer schützt uns vor euch? Organisiert euch gegen Polizeistaat und Kapital".

Dieser Marsch ist wiederum eine Reaktion auf das politische Theatervolksfest in Halberstadt am Abend und in der Nacht zuvor: "Auf die Plätze! Die Stadt gehört den Demokraten" wurde veranstaltet unter der Führung des Nordharzer Städtebundtheaters, von dessen Existenz die Welt seit Juni Kenntnis hat - seit dem Überfall von rechtsgesinnten Schlägern auf ein paar Schauspieler und Tänzer, die ihre Premiere der "Rocky Horror Show" feiern wollten, den falschen Weg nahmen und zusammengedroschen wurden. Als endlich Polizisten kamen, haben sie die Täter laufen lassen, aber gründlich die Personalien der Opfer aufgenommen. Halberstadt - die Pforte zum Harz, berühmt für seinen Dom und seine Würstchen - hatte keine gute Presse.

Anders als in Mügeln, wo ein paar Wochen später Inder von einem Mob durch die Stadt geprügelt wurden, geht man das Problem offensiv an, indem man erst einmal zugibt, eines zu haben. Es wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt, der sich mit rechtsextremen und fremdenfeindlichen Vorgängen bei der Polizei Sachsen-Anhalts befassen soll. Inzwischen sitzen die Täter in Untersuchungshaft; der Prozess beginnt Anfang Oktober.

Beim Volksfest konnte man sich sicher fühlen in Halberstadt. Viele Polizeibeamte waren im Einsatz. Einerseits passten sie schön auf und nahmen 15 mutmaßliche Rechtsextreme in Gewahrsam, andererseits beteiligten sie sich aber auch am Programm (einer bot mit Cowboyhut seine Jodelkünste dar).

Backe war in dieser Nacht sicher auch lange wach, sein Kumpel klagt kurz über Kopfschmerzen und schläft wieder ein. Als das Begleitpersonal versucht, Backe beim letzten Halt vor dem Ziel des Zuges zu verweisen ("Raus jetzt, sonst fahren wir nicht weiter"), klart sich sein Blick etwas auf. Der Zug steht, Backe sitzt, der Kampf hat begonnen. Der Einwurf eines sozialpädagogischen Begleiters: "Spontandemo in Ditfurt - ob's das jetzt so bringt?", überhört Backe. Und nach ein paar Minuten fährt der Zug wieder an. Mit Backe. Sieg! Ein kurzer allerdings, in Quedlinburg wird er von Polizisten empfangen - da ist noch weit und breit kein Nazi zu sehen.

Die kommen ein bisschen später anspaziert: "Hier marschiert die deutsche Jugend!" Der Harz-Elbe-Express bringt alle halbe Stunde ein paar mehr. Am Ende sind es um die zweihundert, denen ähnlich viele Gegendemonstranten gegenüberstehen. Dazwischen - bestimmt noch einmal zweihundert - Polizisten. Ein engagierter Lockenkopf versucht zum rechten Block durchzukommen, wird von einem Beamten unsanft weggeschubst. Mit einem letzten Aufschrei und hochgerissenen Armen wirft sich der Märtyrer in die Polizistenkette. Das rechte Völkchen quittiert die Geste mit Hohnlachen. Einer von ihnen, seinerseits vermummt mit Kapuze und Sonnenbrille, dreht die Szene. Falls man doch noch einmal ohne Polizeischutz in Kontakt kommt. Dann wird wieder zugedroschen.

Die leider gar nicht ungewöhnlichen Schläge vom Juni haben ungewöhnlich viel ausgelöst. Auch wenn es sich bei den Opfern nur zufällig um Schauspieler handelte, es also kein gezielter Anschlag auf die Kunst war, reagierte die Öffentlichkeit empfindlicher als sonst - also auch angemessener. Denn in der Sache wird mit jedem ideologisch motivierten Gewaltakt unsere Zivilgesellschaft angegriffen und damit unsere Kultur. Man kommt um solche Großwörter mit Phrasenvedacht nicht herum, sie füllen sich in diesem Zusammenhang allerdings auch wieder mit ziemlich handfester Bedeutung.

Ähnlicher Bedeutungszuwachs könnte dem Theater widerfahren. Angesichts der aussichtslosen Konfliktsituation, wie sie sich zum Beispiel bei dem Demo-Duell in Quedlinburg zeigt, angesichts auch des ruinierten Images, könnten sich die Bürger auf ihre zivilisatorischen Errungenschaften besinnen. Und das Theater ist eine der ersten.

Die sachsen-anhaltischen Bühnen rauften sich denn auch zu der Initiative "Republik der Phantasie" zusammen, wobei erst einmal eine Broschüre herausgekommen ist, in der sich die Theater vorstellen und auf Veranstaltungen hinweisen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Das geht von "Anne Frank" und "Hallo Nazi" über Andres Veiels "Der Kick", das einem grausamen, scheinbar unmotivierten Mord in der ostdeutschen Provinz nachgeht und gleich auf zwei Bühnen Premiere hat, bis zu "Hänsel und Gretel", das schließlich von verwahrlosten Kindern aus einem trostlosen Elternhaus handelt - von potenziellen Nazis also oder auch von Backe.

Man kann auch profaner sagen, dass die Theater mit dem Überfall Werbung für sich machen. Nur zu. Gelegenheit zur Kontaktaufnahme bot das Volksfest in Halberstadt, an dem 1 000 Leute mitwirkten und zu dem 6 000 Besucher kamen. Es gab Theaterszenen, Tanzperformances, Liedprogramme, Ausschnitte aus Opern und Operetten, Diskussionen, Konzerte, Lesungen. Blasorchester bliesen, Volleyballer ballerten, ein Spielmannszug schepperte.

Die Bühnen waren in der ganzen Innenstadt verteilt, am Tatort und an den Treffpunkten der Rechten. Das friedliche Miteinander zeigte sich im Steinhof hinterm Dom am gemütlichsten. Hier, wo kurz nach der Wende ein paar Alternative die Ruinen von Fachwerkhäusern kauften und reparierten, gab es Kesselgulasch vom offenen Feuer, Bier, für das man "ca. 1 Euro" in eine Pappschachtel des Vertrauens werfen sollte, sowie zersauselte Bluesmusik, vorgetragen von einem Knappzwanziger, der aussah wie Stefan Diestelmann vor 40 Jahren. Nebenan, vor der "Roten Zora" - einem zwischen klösterlichen Mauern gelegenen "soziokulturellen Zentrum" - zeigte man dieweil Videos von Nazis. Für die nächsten Begegnungen.

Gegen Mitternacht eroberte der Regen den öffentlichen Raum. Gegen das Wetter machtlos zu sein ist keine Schande.

Aktion „Auf die Plätze!“ gut gelungen / Polizei nimmt 15 Rechte in Gewahrsam

Volksstimme Halberstadt, 17.9.2007

Henke: „Das zeigt das Potenzial der Halberstädter“

Halberstadt (sc).Beschwingte Stimmung herrschte am Freitagabend in Halberstadt. Auf 14 Plätzen der Stadt wurde Unterhaltung geboten – die Aktion „Auf die Plätze! Die Stadt gehört den Demokraten“ ist gut gelungen.

Oberbürgermeister Andreas Henke (Linke) sagte nach der Aktion, er sei stolz auf die Halberstädter und auf alle Gäste, die dabei waren. Das Stadtoberhaupt sprach von Aufbruchstimmung und „einer neuen Qualität der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Rechtsextremismus in der Region“ – wohl wissend, dass diese Aktion allein das Problem nicht löst.

Der Abend und insbesondere auch die Phase der Vorbereitung hätten aber gezeigt, dass „wir alle – Bürgerschaft, Verwaltung, Institutionen, Kulturschaffende und Polizei – ein Stück zusammengerückt sind und welches Potenzial in Halberstadt steckt.“ Henke dankte allen Halberstädtern, Gästen, Organisatoren und an erster Stelle allen mitwirkenden Künstlern, Sportlern und Ehrenamtlichen, die die Aktion n zum Erfolg werden ließen.

Die Veranstalter, Stadt und Nordharzer Städtebundtheater, sprachen von einem absolut gelungenen Abend mit mehr als 6 000 Gästen. „Das, was wir erleben konnten, übertrifft die Erwartungen“, freute sich Dieter Krone vom Organisationsteam der Stadtverwaltung. Die Stimmung sei hervorragend gewesen, die Leute gut drauf und das Wetter habe auch mitgespielt. Jedenfalls bis kurz vor Mitternacht, als dann doch noch Regen eingesetzt hatte.

Mehr als 1000 Mitwirkende aus Halberstadt, den Nachbarstädten und den Theatern Naumburg, Magdeburg, Halle, Eisleben, Nordhausen und Dessau agierten bei insgesamt 67 Veranstaltungen an 14 Orten im gesamten Stadtgebiet und boten anspruchsvolle künstlerische, politische und sportliche Unterhaltung.

Zur Absicherung des Abends waren 317 Polizeibeamte und das THW Quedlinburg im Einsatz. Nach Angaben der Polizeidirektion seien bereits zu Beginn des Abends 15 rechtsorientierte Personen in ein zentrales Polizeigewahrsam in Magdeburg genommen worden. Darüber hinaus habe es, so berichtete Polizeisprecher Ulrich Wagner, 79 allgemeine Identitätsfeststellungen und 50 Platzverweise im Verlaufe des Abends gegeben. Das sei aber normal im Rahmen der Polizeiarbeit während eines solchen Einsatzes, betonte Ulrich Wagner.

Stolperstein, Film, Musik, Theater – eine Umfrage unter Akteuren und Zuschauern zum Aktionstag

Volksstimme Halberstadt, 17.9.2007
„Wir haben genug von den Nazis“
Von Marlene Behrmann und Marco Oschlies

So viel Leben ist selten abends in Halberstadts Straßen zu erleben. Tausende gut gelaunter Gäste genossen das Spektakel „Auf die Plätze“ und zeigten Gesicht gegen die Neonaziszene im Harz.

Halberstadt. Beim Klubhaus, dem Ort also, an dem sich am 9. Juni der brutale Überfall gegen die jungen Schauspieler ereignet hatte, legte Daniel Priese, Künstler und Bildhauer aus Halberstadt, allen Bürgern einen drei Tonnen schweren Stein in den Weg. Was es mit diesem Projekt auf sich hat, erklärte er so: „Dieser unbearbeitete Stein hat mehrere Funktionen. Zum einen dient er als Mahnung an vergangene Vorkommnisse faschistischer Gewalt und soll gleichzeitig auch eine zukunftsweisende Rolle übernehmen, damit so etwas nicht wieder geschieht.“ Darüberhinaus, so Daniel Priese weiter, solle der Stein als Anstoß zur Diskus sion um ein Denkmalprojekt an jenem Ort dienen und so lange dort liegen bleiben, bis eben diese Diskussion in Gang komme. Die Nachhaltigkeit dieses Projekts lässt sich somit vor allem in der Dimension des Steins erkennen, der nicht wegzutragen und somit auch nicht wegzudiskutieren ist. Mithin ein Stolperstein für alle Bürger.

An gleicher Stelle gab es noch eine weitere Sehenswürdigkeit; und zwar präsentierte Barbara Löhr von der evangelischen Jugendarbeit interessierten Bürgern verschiedene aufklärerische, zugleich unterhaltsame Kurzfi lme gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Unter den Zuschauern befanden sich auch Navina Kautz und Matthias Enders, beide Studenten aus Halberstadt. „Wir sind hier, um Präsenz zu zeigen. Es ist zudem interessant hier zu sein, vorbeizukommen, stehen zu bleiben und nach einiger Zeit einfach wieder weiter zu gehen. Es zeigt, dass Kultur Spaß machen kann“, erklären die beiden, während sie gerade aufmerksam den Film „Schwarzfahrer“ auf der Leinwand verfolgen.

Doch nicht nur erwachsene Bürger waren an diesem Freitag aufgerufen, sich an dem Aktionsbündnis gegen Neonazismus zu beteiligen. Farbe zu Toleranz und einem friedlichen Miteinander bekannten auch die jüngsten Bewohner Halberstadts. Unterstützt durch die Interessengemeinschaft Junge Wirtschaft Harz, die ihren Stand in der Plantage hatte, waren die Kinder dazu angehalten durch ihre farbigen Handabdrücke, die sie auf einer großen Holzplatte anbrachten, die Vielfältigkeit Halberstadts zu symbolisieren. Zu einem späteren Zeitpunkt soll dieses von den Kindern gestaltete Kunstwerk für einen guten Zweck versteigert werden.

Augenfällig war es auch, dass sich besonders viele junge Menschen gegen Gewalt und Faschismus engagierten. So zum Beispiel Janine Manchhoff, Susan Mingram und Antje Severin, die das Konzert von „El Rey de los sonidos“ am Johannesbrunnen verfolgten. Warum sie gekommen waren, erklärten die jungen Frauen so: „Es ist wichtig, dass jeder Einzelne kommt. Wir haben genug von den Nazis und wollen deren menschenverachtendes Verhalten nicht weiter hinnehmen.“ Zum Aktionsabend sagte Janine Manchhoff aus Wehrstedt: „Ich freue mich, dass so viele Menschen Initiative zeigen. Es ist eine gute Aktion, die im großen Rahmen stattfindet. Nur so geht‘s in die richtige Richtung“. Allerdings seien nicht nur die Bürger gefordert. Auch die Politik müsse etwas tun, um das gesellschaftliche Bewusstsein zu wecken, merkten die drei Frauen noch an.

Den Nazis in dieser Stadt keinen Platz zu lassen, war das Ziel der zahlreichen Organisatoren des Aktionsabends. Auch der Bahnhof war fest in der Hand von Nazigegnern und das trotz des kurz vor Mitternacht einsetzenden Regens. Hier zeigten junge und engagierte HipHop-Künstler aus Halberstadt und UmgebungihreKreativität und Vielseitigkeit im Gegensatz zum braunen Einheitsbrei.

Musik der etwas anderen Art wurde auch am Domplatz geboten. Hier waren es Blechbläser verschiedener Ensembles, die mit festlicher, aber auch schwungvoller Musik ihren Beitrag zum Gelingen des vielgestaltigen Abends leisteten. Über die „angenehme Stimmung“ und „nette Atmosphäre” freuten sich Grit und Matthias Krause aus Quedlinburg, nach deren Ansicht man solche Veranstaltungen ruhig öfter machen sollte. Zu der Problematik mit rechtsextremen Jugendlichen äußerten sie sich auch und zwar sei dieses ein Problem, das man nicht länger ignorieren könne. Vielmehr, so Grit Krause weiter, sei es wichtig, die Zivilcourage zu stärken und junge Menschen, die auf die schiefe Bahne geraten seien, zu integrieren.

Ähnliche Ansichten vertraten Christa und Dieter Reckziegel aus Halberstadt: Nach ihrem Dafürhalten solle man mehr Möglichkeiten für Jugendliche schaffen, damit diese erst gar nicht auf dumme Gedanken kämen. Es sei stets die Politik, die vom Bürger Zivilcourage einfordere, so Dieter Reckziegel weiter, dabei sei es ja gerade die Politik selber, die diese nicht habe. Als Beleg für seine These nannte Dieter Reckziegel dann das Beispiel des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, dessen skandalträchtige Trauerrede in ganz Deutschland für Empörung gesorgt hatte.

Illi Oehlmann, Schauspielerin am Nordharzer Städtebundtheater, las ein Gedicht an der Total-Tankstelle und begleitete dann von dort aus den Spielmannszug zum Fischmarkt. Illi Oehlmann findet die Aktion „Auf die Plätze“ sehr gut und sehr wichtig. Sie ist gebürtige Leipzigerin und wohnt nun in Quedlinburg. „Ich habe noch nie so viele Glatzen auf einem Haufen gesehen“, sagte sie. „Jedoch weiß man nicht: ist jede Glatze ein Nazi?“, gibt sie zu bedenken. „Man ist eben so sensibilisiert, wachsamer und vorsichtiger, wenn man welche entdeckt.“ Illi Oehlmann lässt sich von diesen Menschen in ihrem Lebensstil nicht beeinfl ussen. Am Freitag mischte sie sich einfach unter das Volk, betrachtete die Menschen und war mitten im Getümmel.

Daniela Gustus „besetzte“, zusammen mit ihrer Familie, den Bahnhofsvorplatz, den Fischmarkt und die Plantage. „Sehr gut hat mir das Konzert mit den Orchestern und Chören aus den drei Städten Nordhausen, Magdeburg und Halberstadt, gefallen. Insgesamt ist die ganze Aktion super“, sagte Daniela Gustus. Im Vordergrund stand schon der Spaß, aber natürlich ist sie sich des ernsten Hintergrunds bewusst. „Wir unterstützen die Aktion natürlich. Deswegen harren wir hier auch im Regen aus“, betonte sie, als um 23.30 Uhr ein kleiner Schauer vorüberzog. Von der Aktion erwartet sie, dass sie die Menschen wachrüttelt.

Christian Jérôme Timme, Regieassistent am Nordharzer Städtebundtheater, war am Freitag der Verantwortliche für den Platz vor dem Martineum. Er sagte: „Der Zustrom ist gut! Bei dem deutsch-bosnischen Theaterprojekt war der ganze Platz mit Zuschauern gefüllt, auch das Zeitungstheater der Sturm und Drang Gruppe, die einzelne Ausschnitte aus Artikeln zu dem Überfall auf Schauspieler des Nordharzer-Städtebundtheaters im Juni lasen, hatten super Publikumsreaktionen.“ Christian Jérôme Timme fand die Aktion gelungen. „Überall war was los, viele Menschen – nicht nur aus Halberstadt – waren unterwegs.“ Auch die Mitarbeiter von anderen Theatern waren beeindruckt von dem großen Engagement und der Unterstützung. „Man kann nur hoffen, dass die Menschen das mitnehmen und das ernste Thema nicht aus ihrem alltäglichen Leben verdrängen“, sagte er.

Olaf Nadebor war gleich zur Auftaktveranstaltung – Ausschnitte der Rocky Horror Show – auf dem Fischmarkt. „Das war eine gelungene Eröffnung des Abends“, sagte er. Besonders interessant fand er den darauffolgenden Polit-Talk. „Ich hätte mir gewünscht, dass konkrete Fakten genannt werden, trotzdem war es gut.“ Olaf Nadebor besuchte die Veranstaltung mit seiner Tochter. Ihm war bisher nicht bewusst, dass es in Halberstadt so viele gewaltbereite Menschen mit rechtem Gedankengut gibt. „Die Aktion hat aufgerüttelt. Ich hoffe, es folgen weitere Veranstaltungen und das Thema bleibt öffentlich – diese Aktion darf keine einmalige Sache sein.“ Er fühlte sich bei der Veranstaltung in keiner Weise gefährdet: „Die Polizei war präsent, aber auch nicht in bedrohlicher Anzahl – das war genau richtig.“ Er freute sich, dass die Aktion gut angenommen wurde. „So etwas wie im Juni darf nicht wieder passieren.“

Auf den Bierbänken der Demokratie

nachtkritik.de, 16.9.2007
von Dirk Pilz

Halberstadt, 14. September 2007. Es geschah in der Nacht vom 8. auf den 9. Juni diesen Jahres in Halberstadt: Mehrere Schauspieler des Nordharzer Städtebundtheaters wurden von rechtsextremen Schlägern angegriffen. Sie kamen von der Premierenfeier nach der "Rocky Horror Picture Show" im nahe gelegenen Harzer Bergtheater, als Neonazis aus der Kneipe "Spucknapf" heraus angriffen. Einem der Tänzer wurden Zähne ausgeschlagen, dem Gitarrist die Nase gebrochen, die anderen kamen mit kleineren Blessuren davon.

Am Freitag standen sie mit dem "Rocky"-Ensemble auf einer kleinen Freilicht-Bühne im Zentrum von Halberstadt und eröffneten den Aktionsabend "Auf die Plätze! Die Stadt gehört den Demokraten". Bis tief in die Nacht wurde das gesamte Stadtgebiet der 1200 Jahre alten Bischofsstadt im nördlichen Harzvorland bespielt. Tanz, Musik, Theater, gedacht als "Eroberung des öffentlichen Raums durch Kunst und Kultur". Die Rechte Szene, hieß es in der Ankündigung, versuche "offensiv den öffentlichen Raum zu besetzen und freiheitlich demokratische Kräfte zurückzudrängen"; sie erzeugte bewusst "ein Klima der Angst". Mit "Auf die Plätze!" sollte sich die Demokratie als "wehrhafte Alternative gegenüber dem erstarkenden braunen Selbstbewusstsein" erweisen. Ein öffentlicher Protest, organisiert vom Nordharzer Städtebundtheater.

Volksfest als Alternative

Und zum Auftakt also Ausschnitte aus der "Rocky"-Show auf dem Fischmarkt: knallige Kostüme, fetziger Sound, Heiterkeit im Publikum. "Lost in time, lost in space" singen sie auf der Bühne, während die wehrhafte Demokratie an Bierbänken sitzt. Die Alternative tritt als Volksfest auf. Rückeroberung der Stadt heißt: Würstchenbude, SPD-Stand, Bier in Plastikbechern. Dazu ein bunter Veranstaltungsreigen.

An der Total-Tankstelle, dem Treff der Neonazis, startet der Harslebener Spielmannszug, unter einer Linde liest ein Schauspieler Texte von Christoph Hein. In den Rathauspassagen ein jodelnder Polizist, vorm Dom der Posaunenchor. Und Oberbürgermeister Andreas Henke dankt von der Fischmarkt-Bühne herab dem örtlichen Straßendienst, der "morgen alles wieder schön ordentlich und sauber macht".

Wie ist das möglich?

Intendant André Bücker sagte nach dem Überfall, die Kollegen wurden nicht zusammengeschlagen, weil sie Tänzer und Sänger sind, sondern "weil sie am falschen Ort zur falschen Zeit waren". Solche Dinge passierten in Halberstadt öfters. Das örtliche sozio-kulturelle Zentrum "Zora e.V." hat eine Chronologie der jüngsten Ereignisse veröffentlicht. Brandanschläge, Körperverletzungen, Rauchbomben. In Halberstadt, sagt man bei "Zora", würden "rechtsradikale Jugendliche und Erwachsene anscheinend toleriert". Anscheinend.

Und anscheinend nicht nur in Halberstadt. Rechtsextremismus und das kollektive Schulterzucken sind keine Einzelfall-Probleme, auch keine ostspezifischen. Es sind gesamtgesellschaftliche. Wer wüsste das nicht. Und wer weiß einen Ausweg? Die Erklärungsversuche docken entweder bei sozialpolitischen (Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit etc.) oder historisch-psychologistischen Argumenten an (fehlende Einübung in Toleranz, mangelnde Kenntnisse anderer Kulturen etc.), verweisen auf die unehrliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Osten und auf die vernachlässigte Sozialarbeit in Gesamtdeutschland. Sie sind alle genauso richtig, wie sie das Ursachengeflecht vereinfachen.

Bühne statt Fäuste

"Ich kann es einfach nicht nachvollziehen, dass so etwas möglich ist", steht im Online-Gästebuch des Harzer Bergtheaters. Das Ensemble stehe unter Schock, sagte damals die Chefdramaturgin in Halberstadt. Der Kampf gegen Rechtsradikalität sei eine Aufgabe der gesamten Zivilgesellschaft, meint der Oberbürgermeister. Ratlosigkeit auf allen Ebenen. Wut, auch Vorwürfe. Die Polizei hat offensichtlich nicht entschieden genug gehandelt in jener Nacht, der Landtag von Sachsen-Anhalt inzwischen einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Er wird um das entscheidende Problem nicht herumkommen: Rechtsradikales Denken ist längst kein Randphänomen mehr. Auch deshalb das "Auf die Plätze!" – als kollektiver Wachrüttler.

Die Nazis haben im Juni die Falschen erwischt, findet Bücker. Denn das Theater könne etwas öffentlich machen, was sonst viel zu oft nicht öffentlich werde. Er meint die reale Bedrohung von Rechts. Und er meint das Theater in seiner Funktion als Bewusstseins-Schärfer und Anbieter von Lebens- und Denkalternativen. "Sie nutzen die Fäuste, wir nutzen die Bühne", sagt Bücker.

Wohlfühlen an sonst düsteren Orten

An diesem Abend wird die Bühne vor allem als Quell der Unterhaltsamkeit genutzt. Dort, wo es geschah, zeigt das Theater Magdeburg Schlagzeug-Stücke und die Landesbühne Sachsen-Anhalt aus Eisleben eine Volkstheater-Szene namens "Doktor Wundertat". Unter freiem Himmel gibt es Ausdruckstanz in roten Leibchen, gleich dahinter wird Volleyball gespielt. Die Stimmung ist gelöst, das Einkaufszentrum hat bis Mitternacht geöffnet, überall sind Grill-Stände aufgebaut. Später fängt es zu regnen an.

Im Einzelfall mochten die Darbietungen naiv anmuten, aufs Ganze gesehen löste das Theater im Verbund mit Vereinen, Bürgerinitiativen und Verbänden aber ein, was es versprach: das konkrete, greifbare Zeichen-Setzen. Ein Punktsieg für die Demokratie. Die Leute kamen, die Leute fühlten sich wohl.

Die nächsten Aufmärsche

Im Steinhof, direkt neben "Zora" gelegen, saßen sie bis spät auf den Bierbänken, aßen Kesselgulasch, lachten und wärmten sich die Herzen. Unter den Tischen krabbelten die Kinder, die Hof-Band machte auf Blues. Schnittchen wurden gereicht, Geschichten erzählt. Es könnte so einfach sein.

Am Tag eins nach der Halberstadter Rückeroberung marschierten die Neonazis durchs benachbarte Quedlinburg. Motto: "Auf die Plätze, und wer schützt uns vor euch? Organisiert euch gegen Polizeistaat & Kapital". Auf Flugblättern wurde in Halberstadt zur Gegendemonstration aufgerufen. Nichts ist einfach im Kampf gegen Rechts.

Der Harz muss bunt bleiben

Mitteldeutsche Zeitung, 17.9.2007
Halberstadt und Quedlinburg wehren sich - NPD muss Demonstration verkürzen
von Steffen Reichert

Farbenfroher Protest gegen Rechtsextremisten: 2 000 Quedlinburger verhinderten am Samstag in einer stundenlangen Aktion, dass die NPD auf dem Marktplatz der Weltkulturerbe-Stadt demonstrieren konnte. Die Rechtsextremisten musste ihre Route ändern. (MZ-Foto: Chris Wohlfeld) Halberstadt/Quedlinburg/MZ. Angst? Angst ist ein großes Wort. Alexander Junghans überlegt einen Augenblick, bevor er auf die Frage antwortet. "Ich würde es eher ein flaues Gefühl nennen", sagt der Punk nach einigen Sekunden. Wenn er abends durch die leeren Straßen Halberstadts geht, und wenn er mit seinen bunten Haaren so richtig auffällt. Dann erinnert sich der 21-jährige Schauspieler natürlich an diesen Juniabend, als er mit seinen Kollegen von Rechtsextremen getreten und zusammengeschlagen wurde. Und er denkt daran, wie es seien wird, wenn er seinen Peinigern Anfang Oktober zum Prozess vor Gericht wieder gegenübersteht.

An diesem Freitagabend muss Alexander Junghans keine Angst haben. Die Straßen von Halberstadt, sie sind nicht leer. Im Gegenteil: 6 000 Menschen sind gekommen, um all jene Orte, Ecken und Straßen zu bevölkern, auf denen sich häufig die Mitglieder der rechten Szene der Harzstadt tummeln.

Begeistertes Publikum

"Auf die Plätze" hat das Ensemble des Nordharzer Städtebundtheaters seine einmalige Aktion genannt, die mit dem Glockenschlag des Harzer Doms Punkt 19 Uhr eröffnet wird. Und zwar mit einer Bühnenshow, die so bunt ist wie sein Schauspielensemble: Fast 20 Artisten singen unter dem Beifall eines begeisterten Publikums die Lieder, die seit mehr als 30 Jahren die Bühnen dieser Welt erobern: zur "Rocky Horror Show".

Auch Prominente zeigen Flagge. Sachsen-Anhalts Justizministerin Angela Kolb (SPD) und der Chef der Staatskanzlei, Rainer Robra (CDU), der Frontmann der Linkspartei Gregor Gysi und Grünen-Politikerin Undine Kurth sind gekommen, um auf verschiedensten Bühnen und in Podiumsdebatten der Frage nachzugehen, was diese Gesellschaft zusammenhält, und was man gegen rechte Rattenfänger tun kann. André Bücker, Initiator des Abends und zugleich Theaterintendant, ist denn auch sichtlich erfreut über die rege Anteilnahme. "Die Leute sind heute auf jenen Plätzen, wo sonst die Unkultur regiert."

Wie nötig das ist, wird trotz der ausgelassenen Stimmung auch an diesem Abend deutlich. Immer wieder trifft man in Halberstadt junge Leute, die hellblaue Zettel verteilen. "Querstellen!" prangt von dem Papier in fetten Lettern. Querstellen als Ausdruck von Zivilcourage. Denn im nahen Quedlinburg will am nächsten Tag die NPD demonstrieren. Erstmals seit 1945 marschieren Rechtsextremisten durch die Stadt - ein Umstand, der viele dort betroffen macht.

Aber nicht hilflos. So ist es eine ganz praktische Frage für die Halberstädter Initiatoren, jene Aufbruchstimmung auch nach Quedlinburg zu tragen. Denn nicht nur die Bilder, die aus der Weltkulturerbe-Stadt um die Welt transportiert werden, könnten fatal sein. Die Folgen der NPD-Demo-Ankündigung sind es schon ganz praktisch. Bereits am Morgen klagen die Mitarbeiter der Tourismus-Information, dass Fahrten kurzfristig abgesagt, dass Führungen zurückgegeben und Übernachtungen storniert worden sind. 1 500 Polizisten aus mehreren Bundesländern haben die Stadt hermetisch abgeriegelt. Quedlinburg ist eine Festung.

Viele sind gekommen

Und viele sind gekommen, um gegen Rechtsextreme zu protestieren. Quedlinburgs Oberbürgermeister Eberhard Brecht (SPD) steht vor dem Bahnhof. Jenem Ort, wie er sagt, an dem man normalerweise Gäste in Empfang nimmt. Aber diese Gäste will niemand haben. "Der neue Harzkreis", ruft Brecht ins Mikrofon, "soll nicht mit der Farbe braun verbunden werden. Der Harz muss bunt bleiben." Und noch etwas hat sich der Runde Tisch gegen Ausländerfeindlichkeit einfallen lassen. Bunte Seidentücher hängen aus den Fenstern. Der schmucke Markt erstrahlt in einem Meer aus Farben. Sonnenblumen werden verteilt, regenbogen-bunte "Pace"-Friedensfahnen hochgereckt. Rund 2 000 Quedlinburger haben den Weg in die Mitte ihrer Stadt gefunden, um mit ihrem stundenlangen Verharren jenes symbolische Bild zu verhindern, das die 240 Rechtsextremen aus ganz Sachsen-Anhalt gerne produzieren wollen. Die Demonstranten wollen verhindern, dass NPD-Fahnen zwischen den Fachwerkhäusern auf dem altehrwürdigen Markt flattern.

Eine Strategie, die aufgeht. Der Chef der Landesbereitschaftspolizei, Alfred Tilch, lässt kurzerhand umplanen. Der Marktplatz ist überfüllt, die Rechtsextremen müssen ihre Route ändern. Sie führt nun direkt zurück zum Bahnhof. Auf jenen Platz, wo man auch ungebetene Gäste am liebsten sieht - bei der Abreise.

zu „Dein edles Herz, der Liebe Thron“

Beseelte Momente und schwer erkämpfte Siege

Kantaten im Dom - Triumph für English Concert - «Semele» konzertant

Mitteldeutsche Zeitung Halle, 10.06.07

von Andreas Hillger

Halle/MZ. Es ist vermutlich die letzte Gelegenheit, die aber darf nicht ungenutzt verstreichen: Das Lob, das man den Händel-Festspielen 2007 künstlerisch fast uneingeschränkt spenden konnte, gilt auch dem halleschen Publikum und seinen Gästen. Sie waren immer neugierig auf das Ungewohnte, sie haben stille Sternstunden erkannt und erst am Schluss bejubelt - und sie haben Durststrecken mit den Musikern durchgestanden, für die sie am Ende belohnt worden sind. Wenn sie in raren Augenblicken aber wahrhaft beseelt lächeln durften, war der Einklang perfekt.

Dickicht der Sichtachsen

Ein solcher Moment war am Freitag im Dom erreicht, wo schon der Titel "Dein edles Herz, der Liebe Thron" auf Innigkeit stimmte: Die eher spröde Beschreibung "szenisches Konzert als Installation im Raum" wurde durch die Lautten-Compagney Berlin dann als abstrakte, aber keinesfalls unsinnliche Vermessung des Raumes mit und in der Musik eingelöst. Dietrich Buxtehudes Kantaten, die ihre Frömmigkeit aus der Dialektik von Lebensangst und Todeshoffen schöpfen, übersetzte Regisseur André Bücker in eine Erkundung des Gotteshauses als Welt-Modell.

Mit den Sängern der Capella Angelica zeichnete er im Kerzen- und Abendlicht Spannungslinien und schuf Kraftzentren, die den Hörer aus der starren Konzert-Konfrontation erlösten und abwechselnd zum Benachteiligten und Privilegierten werden ließen. Denn da die ursprüngliche Anordnung der Gemeinde rund um die Kanzel beibehalten worden war, entstand zwischen Emporen und Altar eine Fülle von exklusiven Sichtachsen sowie ein reizvoller, auf jedem Platz individueller Raumklang.

Dass die Lautten-Compagney um ihren Gründer Wolfgang Katschner in ihrem Einverständnis mit Buxtehudes Werk beispielgebend ist, konnte man bereits auf einer CD-Trilogie nachhören. Hier aber bewährte sich das Ensemble mit seinem Rundum-Dirigenten als Orientierungspunkt für ein Sänger-Ensemble, das in meditativer Vereinzelung wie im Chor der Gemeinde sinnstiftend artikulierte und musizierte. Als irgendwann Papierschnipsel von den Emporen auf die Köpfe der Zuschauer herabregneten, war man an Rilke erinnert: "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen /Unendlich sanft in seinen Händen hält." Viel diesseitiger, aber nicht minder inspirierend glückte am Samstag der Auftritt des English Concert, das mit dem Wechsel der künstlerischen Leitung zu Andrew Manze offenbar eine Frischzellenkur verbunden hat. Bereits die Concerti Grossi von Georg Friedrich Händel gerieten unter den Händen dieses bis in die Haarspitzen motivierten und dennoch britisch coolen Ensembles zu einer Offenbarung, die sich dann in den Arien aus "Semele" und "Rinaldo" verstetigte.

Denn nachdem der Altist Michael Chance mit den geistlichen Stücken der Bach-Familie noch leichte Verständigungs-Probleme hatte, bewies er in Bravour-Stücken wie "Cara Sposa" seine himmelhohe, schmelzende Stimme - und eine gestalterische Noblesse, die sich in der Vivaldi-Zugabe zum schlichten Höhepunkt steigerte. Wenn jemand noch geglaubt haben sollte, dass das selbstbewusste Etikett "our Handel" nur folkloristische Besitzstandswahrung ist - hier fand er den Gegenbeweis.

Semele im Schwitzbad

Für die einheimischen Ensembles hingegen standen die äußeren Bedingungen an diesem vorletzten Tag nicht zum Besten: Das Opernhaus verwandelte sich für die konzertante Aufführung von "Semele" durch Festspielchor und -orchester in eine grell ausgeleuchtete Sauna, in der nicht nur Dirigent Marcus Creed den Begriff "Sweatshirt" wörtlich nahm. Da war lange mehr Transpiration als Inspiration - auch deshalb, weil das Orchester in der zurückliegenden Woche schier Übermenschliches geleistet hatte. Dennoch überzeugte der von Jens Lorenz geleitete Chor, dem der Abend hauptsächlich galt, durch Kraft und Sensibilität in Soli wie Tutti - ein schwer erkämpfter Sieg.

Pressetext zu „Dein edles Herz, der Liebe Thron“

Edler Thron des Herzens

Raum-Installation zu Dietrich Buxtehude

Halle/MZ. Von einem Organisten ist in „Hamlet“ zwar niemals die Rede, kurz nach William Shakespeares Tod aber muss es in der dänischen Stadt Helsingör einen solchen Musiker gegeben haben. Dort, wo dem traurigen Prinzen bei der Heimkehr aus Wittenberg der Geist seines Vaters erschien, soll 1637 ein Sohn geboren worden sein, der seinerseits im lutherischen Glauben erzogen und im Orgelspiel unterwiesen wurde.

Bleibenden Ruhm erwarb er sich in Lübeck, wo man in diesem Jahr mit vielen Veranstaltungen an seinen 300. Todestag erinnert: Dietrich Buxtehude. Dass der norddeutsche Komponist in Halle nicht fehlen darf, liegt auf der Hand: Immerhin pilgerte der junge Händel mit seinem Freund und Rivalen Johann Mattheson 1703 von Hamburg nach Lübeck, um den Altmeister spielen zu hören - und kam Johann Sebastian Bach damit immerhin um zwei Jahre zuvor.

Die Lautten-Compagney Berlin, die vor einigen Jahren bereits Buxtehudes siebenteiligen Zyklus „Membra Jesu Nostri“ - also die „Glieder unseres Herrn Jesus“ - in einer multimedialen Inszenierung zum Händel-Fest brachte, greift nun direkt nach dem Sitz des Lebens. Unter dem Titel „Dein edles Herz, der Liebe Thron“ wird sie mit der Capella Angelica aus dem geistlichen Kantaten-Werk des Komponisten schöpfen - und die innigen Werke als szenisches Konzert im Raum des Domes installieren. Regisseur André Bücker, der als Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters bereits bei seiner Inszenierung von Händels „Ottone“ mit der Lautten-Compagney zusammen arbeitete, hat Erfahrung mit solchen ungewöhnlichen Projekten.

Erst vor wenigen Monaten wurde er für seine Uraufführung „… und frei, in stiller Selbstgewalt“ gefeiert, die Werke von Johann Sebastian Bach und John Cage sinnstiftend kombinierte. Die Inszenierung von Kurt Weills „Weg der Verheißung“ im Halberstädter Dom wiederum überzeugte durch den kraftvollen und sensiblen Zugriff auf den sakralen Raum.

An Buxtehude fasziniert den jungen, ebenso pragmatischen wie poetischen Theatermacher die Dialogstruktur, die jede Illustration verbietet. Das innige Gespräch der Seele mit sich selbst und mit ihrem Gott will Bücker denn auch mit sparsamen Accessoires ausstatten: Kerzen und farbige Kostümteile sollen genügen, um die fromme Lyrik zu größerer Geltung zu bringen.

Dabei kommt ihm die Struktur der Kantaten entgegen, bei der die Bibeltexte in mehrstimmigen Chören gegen die solistischen Meditationen gesetzt werden. Dieses Prinzip ist ebenso schlicht wie schlüssig - und gemahnt an eine weitere Inszenierung, mit der André Bücker einen anderen Jubilar des Jahres 2007 geehrt hat.

In seinem Choratorium „Du, meine Seele, singe“ setzt er Texte über das Leben des Dichters Paul Gerhardt gegen dessen Kirchenlieder, die von einem Gemeindechor gesungen werden. Schön einfach und einfach schön.

Aufführung am 8. Juni um 19 Uhr, im Dom Halle

zu »Die Physiker«

Doch erlaubt ist, was gefällt

André Bücker inszeniert "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt am Mannheimer Nationaltheater

Mannheimer Morgen 23. April 2007

Von unserem Mitarbeiter Eckhard Britsch
Rums, der Countdown läuft, bei Zero wird das Panoptikum geöffnet, in der Klinik geht es lustig zu. Richtig irre, sozusagen, denn Personal und Patienten sind total überspannt, nicht unterscheidbar in ihrer Durchgeknalltheit. "Die Physiker" heißt das Stück von Friedrich Dürrenmatt, das Regisseur André Bücker fürs Nationaltheater so zurichtet, dass erst einmal kaum etwas übrig bleibt vom hehren Bildungsgut um Verantwortung der Wissenschaftler, persönlichen Zwiespalt und Gewissenskonflikt wegen drohenden Weltenbrands. Nein, hier geht es vor allem um pralle Unterhaltung, denn Mimen sind wohl dazu da, sich auf der Bühne lustig-lustvoll auszuleben, Spaß zu haben und Spaß zu machen. Hat ja auch geklappt mit dieser Revue, in der die Figuren komplett verrückt spielen auf der Spielfreude zulassenden Bühne (Jan Steigert mit luftig stilisiertem Reaktorkern plus Brennstäbe-Bündel, sowie versponnenen Kostümen) und Haltepunkte, wie der Wortwechsel Newton/Einstein/Möbius um die Tragweite des Handelns, eher störend erscheinen, muss die Show doch weitergehen. Wovon handelt das Stück eigentlich? In der Privatklinik für Reiche treffen zwei Irre, der eine hält sich für Einstein, der andere für Newton, auf den Physiker Möbius, der sich hinter der Narrenkappe versteckt, um sein Geheimnis zu wahren: Formeln, die die Welt verändern. Aber Einstein und Newton sind Geheimagenten böser und feindlicher Mächte, auf Möbius angesetzt, um die Formeln auszuforschen. Kalter Krieg rundum, als Dürrenmatt die Tragikomödie schrieb. Wo um die Macht gekämpft wird, da entstehen bekanntlich Kollateralschäden, damit jeder der drei Protagonisten persönliche Schuld auf sich lade; und - Pech gehabt - als die drei endlich glauben, die Büchse der Pandora zugeschraubt zu haben und weltabgewandt per Retterpose in der Klinik bleiben wollen, outet sich die Klinikärztin als die wahnhafte Träumerin von Weltherrschaft, die längst die Formeln an sich gebracht hat. Almut Henkel gibt dieses "Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd" schrill und schräg, sehr präsent und in den Vordergrund drängend, mit hohem Einsatz und Tempo. Was lehrt uns das? Was je erdacht wird, lässt sich nicht deckeln, denn irgendjemand wird immer mit dem Feuer spielen. Ob Prometheus oder Politiker, der auf Gewalt setzt und mit der Bombe spielt. Also, politisch ist das Stück aktuell und ganz nah, doch André Bücker reduziert solche Implikationen auf augenfällige Gags, wenn etwa am Ende eine Art Condoleezza Rice in der Gegend herumballert und zum grellen Michael-Jackson-Song "We are the world, we are the children" ihre krude Philosophie von der Friedenssicherung per Waffengewalt von sich gibt. Peter Pearce powert hier ebenso körperbewusst wie in der Rolle der Oberschwester Marta, die ganz ihren Lüsten und Ängsten lebt. Die Physiker sind profiliert besetzt; Thorsten Danner gibt dem Möbius zweifelnde, ja verzweifelte Züge in der Maskerade des spielerischen Hansdampfs, während Sven Prietz als Einstein und Simon Zagermann als Newton die Burleske auf Messers Schneide in schillernder Freund-Feind-Beziehung vorantreiben. Meridian Winterberg zeigt als Frau Missionar Lina Rose eine fundamentalistische Figur, hier hat sie sogar neun Buben, bei Dürrenmatt sind es nur drei. Und Roman S. Pauls darf als Kriminalinspektor Voss, der als Mordaufklärer vom wirren Klinik-System aufgesaugt wird, den Lolli lutschenden Fernseh-Kojak mit der Glatze ("Einsatz in Manhattan") karikieren. André Bücker hat mit seiner turbulenten Schau dem sehr zufriedenen Premierenpublikum einen vergnüglichen, mit Pop-Songs illuminierten Abend bereitet. Doch das Thema wird in der Revue vernebelt, die Tragikomödie einseitig aufs Amüsement fokussiert. Das mag ein Gewinn für die Spaßgesellschaft sein, das Stück selbst bleibt trotz der inszenatorischen Grellheit im Diffusen. Doch erlaubt ist, was gefällt.

Atomic-Cocktail Und Bombenstimmung

DIE RHEINPFALZ vom 23.04.2007

Am Mannheimer Nationaltheater inszeniert André Bücker Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“ Zwei oder mehr Menschen albern, mehr oder minder originell angezogen oder entblößt, in einem Raum herum, reden beträchtlichen Unsinn, und nach jedem zweiten ihrer Scherze dröhnt Gelächter aus der Konserve. Das ist in den meisten Fällen mäßig bis gar nicht komisch und heißt auf Neudeutsch Sitcom. Was passiert, wenn Sitcom und Dürrenmatt miteinander verwurstet werden, zeigte jetzt die Premiere der „Physiker“ am Mannheimer Nationaltheater.

von Doris M. Trauth-Marx

In einem weltweiten Klima der Angst vor einem Atomschlag schrieb Friedrich Dürrenmatt 1961 sein „Satyrspiel vor der Tragödie“, in dem drei Physiker aus unterschiedlichen Gründen in einem Irrenhaus landen. Der eine, Möbius, ist freiwillig hier, weil seine Entdeckung so ungeheuerlich ist, dass sie die Welt vernichten würde, fiele sie in die falschen Hände. Die beiden anderen sind ihm gefolgt. Es sind Agenten zweier feindlicher Lager, die hinter Möbius’ wissenschaftlichen Arbeiten her sind, im Auftrag von Macht und Ideologie und im Narrengewand von „Newton“ und „Einstein“. Treibt im ersten Akt das Trio sein komisches Verwirrspiel unter sich und mit der Irrenärztin Mathilde von Zahnd – und ermordet, so quasi nebenbei, jeder der drei eine Pflegerin, weil seine Tarnung aufzufliegen droht -, so kommt im spiegelbildlich aufgebauten zweiten Akt die Wahrheit ans Licht. Die Camouflage fliegt auf, doch die beiden Agenten werden Möbius’ nicht habhaft: Nach einem leidenschaftlichen Bekenntnis zur Verantwortung des Wissenschaftlers vor der Menschheit verbrennt er seine gefährlichen Aufzeichnungen. Die Rechnung haben die drei, die beschließen, freiwillig im Irrenhaus zu bleiben, ohne die Ärztin gemacht, die, ihrerseits so gemeingefährlich wie verrückt, Möbius’ Manuskripte kopiert hat und im Begriff ist, sich damit die Weltherrschaft zu sichern. Das ist, bei Dürrenmatt, eine tiefschwarze Groteske, die Gänsehaut und Lachen brillant vereint. Im Mannheimer Nationaltheater setzt Regisseur André Bücker von vornherein nur aufs Gelächter, und sei es das aus der Konserve. Im Bemühen, das fast ein halbes Jahrhundert alte Stück in die Gegenwart zu holen, und durchaus eingedenk der Tatsache, dass die Weltkonflikte lediglich ihre Stoßrichtung geändert haben, die Bedrohung nur diffuser geworden ist, setzt er auf konsequente Vergegenwärtigung und hält dem Publikum gnadenlos den Fernseh-Spiegel vor. Doch seine Sitcom-Physiker (Thorsten Danner, Simon Zagermann, Sven Prietz) sind bestenfalls Pausenclowns, die Pflegerinnen stöckeln oversexed im Mini-Outfit über die Bühne – wobei Peter Pearce als muskulöse Transvestiten-Oberschwester mit blonder Perücke und Minirock durchaus eine Augenweide darstellt -, und der von den Morden genervte Kriminalinspektor (Roman S. Pauls) ist nicht mehr als ein debiler Kojak-Verschnitt. Reichlich willkürlich plündert Bücker das hinlänglich bekannte Arsenal poppiger Shows: lässt den falschen Einstein Schlagzeug spielen statt geigen, macht aus der geschiedenen Frau Möbius (Meridian Winterberg) eine hochschwangere Zicke mit einem knappen Dutzend Gören (sehr niedlich: der Nationaltheater-Kinderchor) und aus ihrem neuen Mann, dem Missionar Rose (Christian Baus), einen tänzelnden, bärtigen Turbanträger, der sich auf alles stürzt, was weiblich aussieht oder sonst wie high macht. Ihre Fallhöhe aber verliert die Geschichte gleich mit dem ersten Auftritt von Fräulein Dr. Zahnd. Die ist, in Almut Henkels Gestalt, von Anfang an als schrill meschugge zu erkennen, und so wird es nichts mit dem Gänsehaut-Überraschungseffekt des Schlusses. Viel Sinn ist in all diesen Veränderungen nicht zu entdecken. Dabei gab es gute Ansätze: etwa der auf Schienen laufende, aus Zerrspiegeln zusammengesetzte Vorhang und Halbrundhorizont, mit dem Ausstatter Jan Steigert die nicht nur optischen Täuschungen dieser Welt sinnfällig machte. Die dröhnenden Brandreden Präsident Bushs passten ebenso zur aktuellen Bedrohungslage wie der poppige Atomic-Cocktail des eingesetzten Liedgutes und die Übernahme der Weltherrschaft durch die schließlich in amerikanischer Uniform steckende Oberschwester. Sogar Ansätze zu leiser, stimmiger Komik gab es, wie die fast zärtliche Verbrüderung der drei Physiker beim Verspeisen von Leberknödelsuppe. Dennoch: Nonsens schlag krachend zu, Bombenstimmung allenthalben. Und heftiger Applaus.

Des Wahnsinns fette Beute

RHEIN-NECKAR-ZEITUNG vom 23.04.2007

Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“ als turbulente Comedyshow im Nationaltheater Mannheim

von Monika Frank

Hollywood lässt in vielen Musik- und Bildzitaten grüßen, und stilistisch ist das Ganze eine verwegene Mischung aus der Tradition von Varieté, Revue und Music Hall mit heute gängigen Comedyformaten. Der Schauplatz Irrenhaus rechtfertigt jede Art von Wahnsinn, dachte wohl André Bücker und ließ der eigenen Fantasie und der Spielfreude seines Ensembles freien Lauf. Der 38-jährige Regisseur, zurzeit Intendant in Halberstadt, hält sich wortgetreu an die Vorlage, und doch wird sich manch irritierter Zuschauer fragen, ob er hier wirklich Dürrenmatts tiefgründige Komödie „Die Physiker“ gesehen hat, jenen Schulklassiker aus den Zeiten des Kalten Krieges, in dem es um die atomare Bedrohung der Welt, die Verantwortung der Wissenschaft und die Skrupellosigkeit von Ökonomie und Politik geht. Bückers Inszenierung, die bei der Premiere im Schauspielhaus des Mannheimer Nationaltheaters vor allem vom jüngeren Teil des Publikums gefeiert wurde, richtet ihren Focus nicht mehr auf die ethisch-moralische Fragestellung des Stücks, mit der die Regie nicht allzu viel anzufangen weiß. Das ist ebenso schade wie das Übermaß an Klamauk, das den Text gelegentlich total zudröhnt. Vom Ansatz her gibt es gegen die Übersteigerung zur Farce jedoch nichts einzuwenden. Handlung und Figuren sind schon in der Lesefassung mehr als grotesk, und so ernsthaft bedrohlich wie zu Zeiten der unvergleichlichen Therese Giehse als dämonisches Fräulein Doktor von Zahnd kann man „Die Physiker“ heute vielleicht wirklich nicht mehr spielen, in Anbetracht all der ambivalenten Erkenntnisse und Erfahrungen, mit denen wir inzwischen zu leben und zu kokettieren gelernt haben.
Almut Henkel ist eine bedeutend lebenslustige Verkörperung der herrschsüchtigen Anstaltsleiterin, zeigt viel Bein in hochgeschlitzten Seidengewändern und trinkt mühelos jeden Mann unter das rollende rote Sofa, das in Jan Steigerts elegantem Bühnenbild – eindrucksvoll: der verspiegelte Vorhang, der sich zur Salonrückwand einrollen lässt – heftig strapaziert wird. Betreut von spärlich bekleideten Krankenschwestern (schön wie die junge Rita Hayworth: Silja von Kriegstein), die wie Abziehbilder amerikanischer Pinup-Girls der 50er Jahre durch den Raum stöckeln, gestaltet sich das Dasein für die Patienten dieser Privatpsychiatrie recht angenehm: Beutler, genannt Newton (Simon Zagermann) braucht auf Cognac und Zigarren nicht zu verzichten, Ernesti, genannt Einstein (ganz in Weiß und knuddelig wie Eisbärchen Knut: Sven Prietz) wird von Fräulein Doktor liebenvoll in den Schlaf gesungen, und beide haben nach ihren Morden an den Schwestern keinerlei Sanktionen zu befürchten, wie Kommissar Voss neidvoll einsehen muss, den Roman S. Pauls mit Glatze und Lutscher als Kojak-Parodie anlegt. Christian Baus, der nicht nur als falsettierender Ossi-Proll Sievers, sondern zuvor schon in der zum Guru mutierten Version des Missionars Rose köstliche Karikaturen liefert, wird übertroffen nur noch von Peter Pearce in der Rolle der Oberschwester Marta Boll, die bei Bücker am Ende alle anderen austrickst.

Interview zu »Die Physiker«

Dramaturgin Stefanie Gottfried im Gespräch mit Regisseur André Bücker

Was ist das zentrale Thema des Stückes?

Die Wissenschaft im Spannungsverhältnis von Mächten. Zur Entstehungszeit des Stückes standen sich die beiden Supermächte USA und Sowjetunion im Kalten Krieg waffenstarrend gegenüber. Die Figur des Möbius tritt für das vernunftgemäße Handeln der Wissenschaftler ein, damit die Welt nicht untergeht. Der Kernsatz des Stückes heißt: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“. Deshalb müssen die Wissenschaftler in die innere Emigration, ins Irrenhaus, als Wahnsinnige lebend, nicht mehr ernst genommen von der Welt. Aber das Stück weiß auch, dass dies fast unmöglich ist.

Heißt das, dass man nicht mehr forschen soll?

Nein. Es heißt, dass man verantwortlich mit den Ergebnissen der Forschung umgehen muss. Auch wenn es bisher nie wirklich gelungen ist. Trotzdem ist es unsinnig zu fordern, man solle gewisse Dinge nicht denken. Was denkbar ist, wird auch gedacht. Dürrenmatt meint nur, dass man so weit kommen muss in der Evolution, in der menschlichen Entwicklung, in der moralischen Verantwortlichkeit, dass man gewisse Erkenntnisse bewusst nicht verwertet, das hieße: Wir haben die Atombombe, aber wir wenden sie nicht an. Im Stück wird die Verantwortung den Wissenschaftlern überlassen,

nicht etwa den Politikern…

Das stimmt. Denn sie sind diejenigen, die originär schaffen, die ihr Wissen verfügbar machen. Aber der Unterschied ist: Die Wissenschaftler machen das Wissen verfügbar, die Politiker machen das Wissen verwertbar. Sobald irgendeine Errungenschaft der Wissenschaft in die Hände der Politik gerät, wird der ökonomische Kreislauf angeworfen, die Verwertungsmaschinerie beginnt und der Prozess ist nicht mehr zu stoppen.

Es heißt im Stück: „Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: Der Untergang der Menschheit ist ein solches…“

Das stimmt. Aber man muss sich auch in die Lage von vor 1945 versetzten. Wo der Untergang der Menschheit gleichgesetzt wurde mit der eigenen Niederlage. Dass da nach der Atombombe geforscht wurde, ist sogar verständlich. Trotzdem hat diese Forschung vielen Wissenschaftlern auch damals schon extreme Kopfschmerzen bereitet. Etliche haben auch nicht wirklich erfasst, was passiert, wenn ihre Erfindung in die Kette der Verwertung kommt. Das sind ja zuerst einmal Formeln, Experimente und komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge. Was passiert, wenn man sie anwendet auf eine gewisse Situation?

Sind „Die Physiker“ ein Lehrstück?

Nicht wie etwa Brechts „Galilei“, auch kein Dokumentarstück wie Kipphardts „Oppenheimer“. Die Figuren sind bei Dürrenmatt keine Ideenträger, aber das Stück ist schon auch didaktisch aufgebaut. Man kann den Gedankengängen der Wissenschaftler sehr gut folgen. Die Figuren sind sehr klar. Die Gedanken eindeutig formuliert. Es liegt eine große Dimension dahinter, aber die Weisheiten, die gesagt oder genannt werden, sind griffig.

Wie gehst du mit dem didaktischen Charakter des Stückes in deiner Inszenierung um?

Es gibt Stücke, die sich einem erst auf der Bühne näher erschließen. Dieses Stück gilt ja fast als Lesedrama. Aber die Figuren sind so gut geschrieben, dass sie auch extreme theatrale Vorgänge auf der Bühne sehr gut aushalten. Wenn man das Stück ins Spiel bringt, macht es die Figuren lebendiger, plastischer. Es hebt sie über didaktische Tendenzen hinaus. Man darf auch nicht vergessen, dass das Stück in hohem Maße komödiantisch ist. Damit ist es ziemlich einzigartig. Eine Komödie, die so gut zugänglich ist und trotzdem Tiefgang hat, kenne ich sonst nicht. Ich versuche, die Farce sehr hoch zu treiben.

Dürrenmatt sagte, die Tragödie sei auf der Bühne nicht mehr möglich…

Ja, die Wirklichkeit hat sie überholt, alles in der Realität ist viel tragischer als das Theater je sein könnte. Dadurch ist die Komödie ein geeignetes Mittel, aus der Komik Spannungsmomente aufzubauen, um dann die ganz ruhigen Momente des Absturzes zu schaffen. Wo man auf einmal über das Lachen zu einer Erkenntnis kommt. Das ist auch das Interessante bei der Arbeit, solche Momente zu finden.

Welche Bezüge siehst du im Stück zur heutigen Situation?

Die drängen sich ja auf. Der Iran als Schwellenland zur Atommacht, Nordkorea mit Atomtests, Globalisierung, die Ausbeutung der Wissenschaft für ökonomische Zwecke, Machtblöcke, die aufeinander prallen. Das politische Koordinatensystem hat sich zwar geändert, die Sowjetunion gibt es nicht mehr, aber wenn man China als aufstrebende ökonomische Supermacht und riesige Militärmacht nimmt und wenn man Russland betrachtet, ist das immer noch ein Block, der im Gegensatz zu Amerika steht und wo darum gerungen wird, Hegemonien zu schaffen. Und natürlich die Gefährdung der Welt. Die Welt am Abgrund. Nicht unmittelbar am atomaren Abgrund, aber am ökologischen Abgrund.

Welche Auswirkungen hat das auf deine Anlage der Figuren?

Eine Figur wie die der Frl. Dr. von Zahnd hat ja auch etwas James-Bond-Mäßiges. Ein Bösewicht, der einen weltumspannenden Konzern aufbaut, der bis ins Kleinste alles regiert. Irrwitzige Vormachtstellungen, die gibt’s ja heute noch, da muss man sich nur Microsoft ansehen. Ich will nicht sagen, dass von Zahnd Bill Gates ist, aber die Assoziationen gibt es natürlich. Der Oberpfleger ist ein fieser Proll von nebenan, ein Werkspolizist. Es geht mir darum die Korruptheit der Figuren herauszustellen und provozierende Bezüge herzustellen. Die Oberschwester übernimmt gegen Ende die Macht – das ist eine etwas freie Interpretation und Zuspitzung – jedenfalls, alle verbergen ihre wahre Identität, nicht nur die drei Physiker. Es geht um Camouflage. Alle Figuren tricksen und täuschen, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Letztlich ist das das Sinnbild von Großmachtpolitik, das Handwerk der Diplomatie, der Agenten.

Das Stück ist auch ein Krimi…

Ja. Und zwar einer im Irrenhaus. Das eröffnet unglaubliche Spielmöglichkeiten. Denn in einem Irrenhaus darf man sowieso alles. Der Inspektor kann die Physiker nicht verhaften, denn sie sind ja irre. Und Irrsein ist erst mal nicht definiert. Es ist das Abweichen von der angeblichen Normalität. Und dann stellt sich Frage, was gibt es Irreres als in einem Irrenhaus ganz normal zu sein. Einem Irrenhaus, das die Welt im Kleinen ist. Das ist schauspielerisch interessant, das ist für die Proben interessant.

Du arbeitest in deiner Inszenierung mit popkulturellen Zitaten…

Ja, die gibt es, in den Kostümen und in den Spielweisen. Weil Wissenschaft Pop geworden ist. Man denke nur an das Bild, auf dem Einstein die Zunge herausstreckt. Das ist bekannt wie die Rolling-Stones-Zunge. Oder andere Bilder aus der Ikonografie des 20. Jahrhunderts, etwa das Peace-Zeichen oder der Che-Guevara-Kopf. Der Astrophysiker Stephen Hawking ist ebenfalls ein Popstar. So funktioniert Medienkratie. Alles wird Pop und Bild, und ist damit nicht mehr gefährlich. Das wahre Ausmaß der Bedrohung erstickt in der Bilderflut. Indem wir bewusst mit diesen Mitteln spielen, entlarven wir sie.

Verhält es sich mit der Musik in deiner Inszenierung ähnlich?

Musik ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeiten. In diesem Fall verwende ich amerikanische Musik aus den 40er, 50er und 60er Jahren. Da gibt es eine riesige Menge von Songs, die die Atombombe verherrlichen. Sie haben einen mitreißenden Rhythmus, gehen von Country bis Rockabilly oder Calypso. Sie beschreiben auf ganz leichte Art und erschreckend unkritisch etwas ganz Katastrophales. Und diese Musik benutze ich, um die Inszenierung zu umrahmen und gewisse Situationen zu konterkarieren, ironisch zu brechen. Es ist der Tanz auf dem Vulkan. Eine apokalyptische Revue rund um die Atombombe.

zu »…und frei, in stiller Selbstgewalt«

DIE ZEIT DER STEINE

Halberstadt: Projekt mit Cage und Bach, Theater und Tanz

Die Deutsche Bühne 3/2007

von Michael Laages

Das weltweit nachhaltigste Musikprojekt findet derzeit in der Burchardikirche in Halberstadt statt: Dort wird die Orgelkomposition „as slow as possible (so langsam wie möglich)“, von John Cage, noch 632 Jahre lang (ur-)aufgeführt. Weil in Halberstadt 639 Jahre zuvor die erste Kirchenorgel gebaut wurde, begann dort im Jahr 2000 im Rahmen der Hannoveraner Weltausstellung das auf 639 Jahre ausgelegt, so abstrakte wie fundamentale Projekt.

André Bücker und Choreograph Jaroslaw Jurasz treiben immensen Aufwand für ihre theatrale Anknüpfung daran mit dem Hölderlin-Titel „... und frei, in stiller Selbstgewalt“. Ballett, Chor und Orchester des Theaters sowie die Sopranistin Kerstin Pettersson zwingen darin Texte von Heiner Müller und eben Friedrich Hölderlin mit Kompositionen von Cage und Johann Sebastian Bach zusammen. Und kein besserer Raum ist denkbar für diese Begegnung über die Zeiten hinweg als gerade dieses Theaterhaus: gemauert (wie jeder und jede noch heute erkennt beim ersten Blick auf ziegelrote Wände) aus den Trümmersteinen des vorigen Krieges. Die Räder eines Uhrwerks prägen Alrune Seras Bühne und markieren nicht nur die Grundstruktur von Musik – als Schwingung in der Zeit -, sondern lassen auch die vermeintlichen Antipoden Cage und Bach eng zusammen rücken. Dann hören und schauen wir einer Art gut sortierter Probe zu – denn Choreograph Jurasz folgt offensiv dem improvisatorischen Element in der Musik von Cage wie von Bach. Immer wieder verteilen sich Akteure im Raum, der Chor rezitiert und singt „Four“, die Cage-Komposition von 1989 über die Buchstaben im Namen des US-Bundesstaates Oregon, mitten im Theater-Raum und folgt dabei Bewegungssignalen der Tänzerinnen und Tänzer. Derweil präpariert Musikdirektor Johannes Rieger das Klavier – und markiert mit der Stehlampe daneben Anfang und Ende des Abends: als sei das die Hausmusik bei Riegers daheim. Der Abend ist komisch, aber auch meditativ. Und nach zwei Stunden blanken Abenteuers müsste es für Theaterkollegen aus aller Welt ganz und gar unfassbar scheinen, dass solch ein Kraftakt, solch eine Mutprobe nicht etwa in Berlin oder Hamburg, München, Frankfurt oder Köln zu bestaunen ist – sondern zwischen den Steinen von Halberstadt.

Nordharzer Städtebundtheater zeigt ungewöhnlichen Theaterabend zu Johann Sebastian Bach und John Cage

Mitteldeutsche Zeitung vom 05.02.2007

Von Andreas Hillger

Halberstadt/MZ. Den Namen des Täufers trugen sie beide, obwohl der Ältere auf die deutsche Variante Johann und der Jüngere auf die englische Entsprechung John hörte. Zwischen dem Tod des Ersten und der Geburt des Zweiten vergingen jedoch 162 Jahre – ein nach Menschenmaß unüberwindlicher Abstand, der auch musikalisch Welten trennt. Wer aber in Halberstadt Bach sagt, muss auch Cage sagen – nicht zuletzt deshalb, weil im dortigen Burchard-Kloster seit sechs Jahren das Orgelstück „As Slow As Possible“ erklingt, das damit noch nicht einmal ein Hundertstel der angestrebten Dauer von 639 Jahren bewältigt hat.

Dem Nordharzer Städtebundtheater gibt diese Konstellation nun Anlass für einen Tanztheater-Abend, der von Intendant André Bücker gemeinsam mit dem Choreografen Jaroslaw Jurasz inszeniert wurde. Unter den Schwingrädern eines Uhrwerks, die Ausstatterin Alrune Sera über die Bühne hängen lässt, erweist sich das Stück als eine Zumutung im besten Sinne – also als ein Unternehmen, das von allen Beteiligten großen Mut verlangt und mit den Gewohnheiten auf beiden Seiten der Rampe radikal bricht.

Das beginnt mit solistischen Herausforderungen für Musiker, die ihren alltäglichen Platz im Orchester-Tutti haben - und führt über das rhythmische Sprechen der Chörsänger bis zur schauspielerischen Profilierung der Balletttänzer. Am eindrucksvollsten lässt sich die genre-sprengende Qualität der Inszenierung am Beispiel des Dirigenten Johannes (!) Rieger beobachten, der sich am präparierten Klavier zu einem wunderlichen Pianisten wandelt und den im Parkett platzierten Chor in einer marthalerischen Mischung aus Präzision und Überdruss dirigiert.

Diese Kunstfigur, die mit dem Zuschlagen einer Saaltür und dem Anschalten einer Stehlampe den Auftakt setzt, löst nicht nur den bei Hölderlin entlehnten Titel „...und frei, in stiller Selbstgewalt“ ein, sie fängt selbst gewagteste dramaturgische Konstruktionen auf. So mag der Übergang von Bachs Arie „Heil und Segen“ zu Cages Klavierstück „In the Name of the Holocaust“ in der Papierform blasphemisch wirken, der hohe Abstraktionsgrad der Musik und die Genauigkeit ihrer Interpretation aber nimmt diesem inhaltlichen Wagnis die Schärfe.

Generell ist es überraschend, wie robust sich die fragilen Stücke in der Verbindung erweisen: Selbst verspätete Premieren-Zuschauer oder das unvermeidliche Piepsen einer Digitaluhr bekommen dort zeichenhafte Kraft, wo man sie normalerweise als empfindliche Störung empfinden würde. Dass man Bachs Werken ihre frappante Modernität ablauschen kann, während Cages Musik mit ihren perkussiven Elementen eine archaische Kraft gewinnt, wirkt in dieser Konfrontation der Zeiten folgerichtig – zumal Zeit und Dauer selbst Thema der Recherche werden.

„In der Nacht gehen die Uhren langsamer“, flüstert die vielseitig virtuose Sopranistin Kerstin Pettersson in den Nacken des Zuhörers, die „Hymne an die Nacht“ von Novalis kommt ebenso zu Gehör wie Ausschnitte aus Cages Tonband-Tagebuch. Als Bachs pathetische Todeserinnerung „Es ist der alte Bund“ unmittelbar in lakonische Aufbruchsstimmung mündet, ist dies ein stimmiges Bild für dieses Paradoxon: Von der eigenen Sterblichkeit zu wissen, ohne damit dauerhaft leben zu können.

Eine andere Qualität des Cross-over-Projekts ist nur scheinbar widersinnig: Gerade die Vereinzelung jener Interpreten, die sich sonst meist in der Masse verbergen kann, stiftet eine Gemeinschaft auf höherer Ebene. Das kleine, nur vier Paare umfassende Ballett-Ensemble ist dafür beispielhaft: Jeder der Tänzer darf sich in maßgeschneiderten solistischen Aufgaben bewähren – und bringt das gewonnene Selbstbewusstsein auch in die Gruppe ein. Nie zuvor sah man Juraszs Compagnie so souverän und leicht, selbst der als Leitmotiv gewählte Blick durch das Gitter der Finger und über den Fächer der Hand wirkt nicht überspannt.

Wann immer aber das Gewicht der Texte und Töne in Gravität zu münden droht, deuten die beiden Regisseure augenzwinkernd auf die Mechanik der Spieluhr oder verkleiden ihre Tänzer mit ironischen Accessoires. Da tritt dann die Barock-Perücke neben den Cowboy-Hut: Hallo Johann, hello John!

Wohltemperiert und wohl(?)präpariert

Getanztes Klangexperiment im Spannungsfeld von Cage und Bach

Volksstimme vom 05.02.2007

Die von der Volksstimme präsentierte Premiere des Tanzabends „…und frei, in stiller Selbstgewalt“ war nicht ganz ausverkauft. Zu Unrecht, wie viele der Premierengäste nach der Aufführung feststellten.
Helga Scholz: „Ich bin mit etwas Beklemmung hergekommen. Cage und Bach – ob mir das gefällt? Ich muss sagen, ich bin begeistert. Eine großartige Leistung, eine sehr emotionale Inszenierung, Cage war gar nicht so schräg, wie ich befürchtet hatte. Schön, wie die Tänzer klassische Elemente und Ausdruckstanz vermischt haben.“
Sabine Klamroth: „Einfach toll. Die ganze Inszenierung war einfach spitze.“
Klaus Günther: „Ein bewegender Theaterabend.“
Christel Becker: „Die Leistungen der Künstler waren sehr beeindruckend. Über das Ganze muss ich aber erstmal noch nachdenken. Sehr bewegend, wie das Thema Tod und Sterben aufgegriffen wurde.“
Sabine Becker: „Ich bin völlig überrascht. Was für ein Abend! Gut, gerade beim Gesang waren Cages Tonschöpfungen schon etwas ungewohnt, aber der Mann hat klasse Musik gemacht. Spannend fand ich, wie modern Bach zum Teil klang und wie gut das Bachstück das präparierte Klavier zum Schluss vertrug. Der Abend ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle – witzig, traurig, melancholisch, sehnsuchtsvoll. Sehr beeindruckend. Ich schaue mir das nochmal an.“

Mit dem für Stadttheaterverhältnisse bisher einmaligen, hoch ambitionierten Tanztheaterprojekt „…und frei, in stiller Selbstgewalt“ begeben sich Intendant Andre Bücker, Ballettmeister Jaroslaw Jurasz und ein souveräner Johannes Rieger mit Orchester, Ballett, Chor und der Sopranistin Kerstin Pettersson auf das Minenfeld experimentellen Theaters.

Von Jörg Loose

Halberstadt. Bei Bach ist die Zeit wohlgeordnet und geschieden in ganze, halbe, viertel, achtel … Noten und erst wenn diese Vorgaben exakt eingehalten werden, entsteht eine perfekte musikalische Lobpreisung der Schöpfung. Über 300 Jahre später hält bei John Cage das Zufällige im Leben als Kompositionsprinzip Einzug in die Musik. André Bücker lässt in seiner Inszenierung diese Extreme getanzt, gesprochen und gesungen höchst unkonventionell und eindrucksvoll aufeinanderprallen und bietet dem Publikum jede Menge intellektuelle Reize. Im Folgenden nun, bruchstückhaft und zufällig ausgewählt, einige Reflexe.

Interpretatorisch: Während die Uhrpendel auf der Bühne planetengleich in ewiger Wiederkehr um ein unerreichbar imaginäres Lebenszentrum kreisen, die erklingende Musik als stets verheißende, aber niema1s gebärende Hoffnung die Azimute* der Antipoden Bach und Cage durchmisst, zappeln die Tänzer in niedrigsten Instinkten und göttlichen Gaben als Prinzip Mensch in den Fängen des Großmeisters unserer Existenz – dem einzig existierenden Perpetuum mobile unserer Unvollkommenheit – der Zeit. Aber lassen wir solcherart Ergüsse. Wer nicht halbwegs auf Kopf und Mund gefallen ist, kann schließlich aus der Emanation** eines rüstigen Harzkäses die Welt erklären.

Kulinarisch: Also dieser Cage, im Theater kann er ja machen, was er will, aber in meine Küche kommt der mir nicht! Zufall in der Kunst – alles Schwachsinn! Kochen ist schließlich auch Kunst, und die heißt: Nudeln exakt acht Minuten, Eier exakt viereinhalb Minuten usw. Setzen Sie mal ihrem Ehegatten ein Mittagessen vor, bei dem der Zufall die Zutaten oder die Garzeiten regierte – na Prost Mahlzeit!

Emotional: Stark inszenierte Texte (Hölderlin, Müller, Novalis), stark musizierte (Orchester, Jens Herrmann am Cello wunderbar) und getanzte Nummern – ich habe mich während der Premiere keine Sekunde gelangweilt, und doch war mir das Emotionale irgendwie zu intellektuell.

Visionär: Ich werde Komponist – mein Kompositionsprinzip in einer zunehmend sprachlosen Welt: Musik ohne Töne!

Menschlich: Künstler, bei denen nicht ein emotionaler Ziel- und Ausgangspunkt das Schaffen bestimmt, sondern ein – wie auch immer geartetes intellektuelles Prinzip – sind mir grundsätzlich suspekt, besonders ein Mann wie Cage, den es „rasend macht, wenn zwei Dinge im Gleichklang geschehen“. Aber ich spüre auch so etwas wie Mitleid, er war wohl ein höchst einsamer Mensch.

Persönlich: Dass zum Schluss der wohltemperierte Bach auf einem wohlpräparierten Klavier endet, habe ich mir bereits am Anfang gedacht. Vermutlich ist das intellektuell notwendig und konsequent, aber irgendwie auch eine (zugegeben geniale) Frechheit!

Dialektisch: Nie hat Bach meinen Ohren mehr geschmeichelt als nach einem Stück von Cage!

Philosophisch: Ohne den klaren, zwingenden Handlungsrahmen einer Idee oder eines Bildes wird (tänzerische) Freiheit in einzelnen Szenen mitunter zu (tänzerischer) Beliebigkeit, und die „Spurensuche in Raum und Zeit“ tappt in eine Sackgasse. Wenn auf ein Holocaust-inspiriertes Stück Cages ein infantiler Stuhltanz zu einem Brandenburgischen Konzert folgt, dann ist dies alles sicher der Gattung Mensch eigen, aber der Grat zwischen Gipfel und Absturz wird extrem schmal.

Musikhistorisch: Dass Bach als „Anfang und Ende aller Musik“ ein kaiserlicher Thron in der Musikgeschichte zusteht, ist unbestritten. In Gesprächen über John Cage kommen mir unwillkürlich des Kaisers neue Kleider in den Sinn. Ob sich ein Komponist wie Cage als kulturelles Pflaster eignet, sei dahingestellt. Was tut der gemeine Intellektuelle, was tut eine angeschlagene Stadt nicht alles, um sich vom Mittelmaß abzusetzen. Schilda war ja auch irgendwie anders. Gut, warten wir noch runde 650 Jahre! Dann wissen wir vielleicht, ob Cage mehr als eine provozierend-musikalische Fußnote im Lexikon der Musikgeschichte war.

Letztendlich: Ob mir das ganze gefallen hat, weiß ich selbst noch nicht. Aber darum geht es im Theater ja nicht (immer). In jedem Fall war es neu, auch auf- und anregend, provozierend, spannend und eine höchst willkommene Anregung, sich mit einer existienziellen Randbedingung unseres Lebens (der Zeit) auseinander zu setzen. Ich möchte den Abend keinesfalls missen. Wer sich anspruchsvoll überraschen lassen möchte, der sollte mal wieder ins Theater gehen.

(* Azimute: Bestimmungswinkel für Gestirne;
** Emanation: Ursprung aller Dinge vom göttlichen Ureinen, Anm. der Red.)

Die Musik von Bach und Cage in einem Raum- und Klang-Erlebnis

Uraufführung im Nordharzer Städtebundtheater: „...und frei, in stiller Selbstgewalt“

Magdeburger Volksstimme vom 05.02.2007

Die Uraufführung des Tanz-Theater-Projektes „...und frei, in stiller Selbstgewalt“ für Sopran, Chor, Ballett und Orchester mit Musik von John Cage und Johann Sebastian Bach wurde in Anwesenheit zahlreicher Mitglieder der in Halberstadt ansässigen John Cage-Stiftung zu einem großen Erfolg fürs Nordharzer Städtebundtheater.

Von Dr. Herbert Henning

Halberstadt. Anfang und Ende dieses außergewöhnlichen Tanz-Theater-Musik-Projektes von André Bücker und Jaroslaw Jurasz ist der Musik Johann Sebastian Bachs vorbehalten. Aus der „Kunst der Fuge“ erklingt „Contrapunctus I“ und markiert gleichsam das Credo dieses Abends, der die verschiedenen Formen von Theater-Kunst, die Zuschauer inbegriffen, in einer spannungsgeladenen Klang-, Zeit- und Rauminstallation vereint.

„Bach ist Anfang und Ende der Musik“ (Max Reger). Das Miteinander und Gegeneinander der Klangwelten von Johann Sebastian Bach und John Cage haben André Bücker und Jaroslaw Jurasz als „bildhaftes Hören und musikalisches Sehen“ in dieser Kunstperformance als Experimentelles Theater realisiert.

Vor allem durch die Instrumentation der Bachwerke „Contrapunctus I“ und „Canon a 2 per tonos“ aus „Das musikalische Opfer“ durch MD Johannes Rieger werden auch erstaunliche Zusammenhänge zwischen Cage und Bach hörbar und als Raum-Klang-Erlebnis „fühlbar“.

Viele Parallelen im Werk beider Komponisten

Das Prinzip einer in seinen Kompositionen angestrebten „göttlichen Ordnung“ verwirklichte Johann Sebastian Bach in höchster Kunstfertigkeit. Er komponierte nach Strukturen, die nicht selten über Zahlen-Symbole zu erklären sind. Seine Kantaten, Oratorien und Passionen spiegeln diese Ordnung wider.

John Cages „Anti“-Ordnung, seine vom Zufall und von Zufallssteuerung bestimmten Klanguniversen, die Verfremdung der Instrumente („präpariertes Klavier“) und die Verwendung neuer Klanginstrumente (Schlagzeug und Percussion) sowie Vocalisen der Stimmen als Instrumente bilden aber nur einen scheinbaren Widerspruch zur strengen Ordnung von Bach.

Es gibt im kontrastreichen Werk beider Kompöonisten auch viele Parallelen. André Bücker und der Choreograf Jaroslaw Jurasz thematisieren Widersprücher und Parallelen durch die Metapher „Mensch und Zeit“. Unendlichkeit, Vergänglichkeit, Moment, Simultanität, Wiederholbarkeit, symbolisiert durch ein riesiges sich bewegendes und ruhendes Räder- und Pendelwerk einer Uhr, die frei im Bühnenraum schwebt (Ausstattung: Alrune Sera), werden durch Tanz und Bewegung, chorisch gesprochene Texte von Friedrich Hölderlin und Novalis, durch ein Gedicht von Heiner Müller, die Tonbandstimme von John Cage (Tagebuchnotate) und immer wieder durch dem Cage-Prinzip folgende Alltagsgeräusche (Kindergeschrei, Vögelgezwitscher, Zeitansagen, Crashgeräusche eines Autos, verzerrte Radiostimmen) zu einer virtuellen Klangwelt. André Bücker nutzt den ganzen Theaterraum. Der bestens vorbereitete Chor agiert bei John Cage „Four 2“ (Improvisation zu den sechs Buchstaben des Wortes Oregon) und dem Hölderlin-Text aus dem Zuschauerraum.

Bei Cages „Five“ bestimmen die Instrumente (Klarinette, Flöte, Tuba, Sopranstimme, Vibrafon) im Zuschauerraum verteilt die Tongebung. Es entsteht eine Totalität im Klangempfinden, mehr noch: Das In-Beziehung-Setzen von Musik, Klang, Text und Bewegung verleiht Zufall, Chaos, Ordnung und Freiheit einen zutiefst emotionalen Sinn.

Mitglieder des Orchesters mit den Solisten Alexander Betz und Dimon Balev (Violine) sowie Jens Herrmann (Violoncello) spielen mit äußerster Konzentration. MD Johannes Rieger meistert mit Bravour die Cage-Stücke am „präparierten Klavier“, wobei die nur auf dem geschlossenen Instrument geklopften Klavierstücke „A Flower“ und das Klavier-Furiose des getanzten „Baccanale“ von Cage Glanzstücke sind.

Getanzte Experimente mit der Musik

Die solistisch hochgeforderte Ballettcompany beeindruckt vor allem bei den tänzerischen Solo-Improvisationen zu den Cage-Stücken und zu den Texten von Novalis („Hymne an die Nacht“). Vor allem Wendy Beeckman, Jana Mattiesson und Timo Bartels überzeugen hier. Die immer neuen freien „Erfindungen“ von Hand-, Arm- und Beinbewegungen, das Sich-Treiben-Lassen von Pose zu Pose, die exaltierten Verquerungen des Körpers und das tänzerische „Experimentieren“ mit der Musik als körperliche Kommunikation mit den Instrumentalisten zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung vor allem mit den Kompositionen von John Cage.

Schöne Momente bei den getanzten Choreografien von Jaroslaw Jurasz zum „Brandenburgischen Konzert No. 3“ und dem „Präludium c-Moll“ aus der Cello-Suite No. 5 von Bach (Gabriella Gillardi/Julien Avril).

Mit ausdrucksvoller Stimme „wandert“ Kerstin Pettersson als Mittler zwischen den Klangwelten und beeindruckt mit Bach-Kantaten ebenso wie mit den Liedern von John Cage und Reiner Müllers „gehauchtem“ Text „Leere Zeit“, sie beherrscht mühelos die Vocalisen über mehrere Oktaven.

Ein Abend voller musikalischer Hochspannung, klanglicher Überraschungen und virtueller Erlebnisse, der vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.

zu »Faust«

Goethes Faust ohne Himmel und Hölle

Volksstimme Magdeburg vom 09.10.2006

Von Gisela Begrich

Quedlinburg. Goethes Faust verfehlt selten seine Anziehungskraft. Auch im Nordharzer Städtebundtheater füllen die Besucher das Große Haus in Quedlinburg zur Premiere am Sonnabend fast bis auf den letzten Platz. Ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie die Inszenierung von André Bücker. Der Regisseur reißt dem Werk allen Anspruch aus der Seele und drückt ihm den Stempel des Banalen auf.

Die Spielorte sind jeweils in riesigen Lettern zu erlesen.

Die Schauspieler kommen aus dem Zuschauerraum heraus auf die Bühne (Alrune Sera, die auch für die Kostüme zeichnet), die beständig ein konkreter Raum der Beliebigkeit bleibt. Zwei Damen und drei Männer. Die Message: diese Geschichte könnte auch unsere sein. Das Vorspiel sprechen die Akteure im Chor. Will heißen: Wir alle sind austauschbar, es zählt allein die Information.

Das Gespräch zwischen Gott und Mephisto erledigt der Darsteller des Teufels, Mathias Kusche, solistisch, indem er zwischen dem Schöpfer und seiner Kreatur wechselt. Es gibt weder Himmel noch Hölle. Mit dieser Entscheidung löst Bücker das Werk aus seinen Fugen und öffnet der Belanglosigkeit Tür und Tor. Die Konflikte erfahren keine Verortung, mehr noch, sie lösen sich in alltägliche Banalitäten auf. Eine solche Weltsicht mag vertretbar sein. Doch die Zurückweisung einer Deutung ist noch keine neue Interpretation. Und was in Dreiteufels Namen verführt einen so bewährten Theaterregisseur dazu, einem Werk wie Goethes Faust jeden Geist, jeden Anspruch auszutreiben und stattdessen lediglich in Trivialitäten zu waten?

Der Faust, verkörpert von Sebastian Müller, begießt sich, als er aus Lebensüberdruss den Selbstmord erwägt, mit einer leicht entzündbaren Flüssigkeit. Die Hexenküche präsentiert sich als ein Küchenstudio mit Models. Auerbachs Keller gerät zu einer schlechten Kabarettnummer über deutsche Fußballfans. Marthe arbeitet offensichtlich als Prostituierte, und sollte sie es nicht tun, hantiert sie doch mit all diesen Utensilien aus dem Hause Uhse, um den nächstbesten Mann mit allzu drastischen Offerten ins Bett zu locken. Selbst Gretchen agiert mit beständiger Gestik, die Schenkel verhalten zu spreizen.

Wenn sich Mephisto mehrfach in wechselnden Kostümen zeigt, als Frau auftritt oder die Sprechweise eines Schlagerstars recht und schlecht imitiert, muss der Zuschauer schon viel Geduld investieren, um dies als einen Versuch zu akzeptieren, dass das Böse und die Schuld in vielen Gestalten Heimat besitzt. Aber das Schlimmste oder Traurigste: Müller und Kusche liefern über die 150 Minuten hinweg einen Faust und einen Mephisto ohne Sinn, Verstand und Intellektualität ab. Zwischen ihnen gibt es weder Partnerschaft noch Konflikt. Was bleibt, sind Deklamation und fatale Gags.

Kleiner schauspielerischer Lichtblick: Margit Hallmann als Marthe und Lieschen – handwerklich gediegen und gut von einander abgesetzt.

Das Bild im Dom unterbricht das oft so konturlose Gewese des Abends: Jens Trampen (auch Valentin) bedrängt als böser Geist Gretchen. Es geht also doch: Die Szenerie des Dichters verworfen, aber seiner Intension gefolgt.

Hier und in der Kerkerszene gewinnt die Inszenierung Niveau und Ernsthaftigkeit. Elisa Ottersberg als Gretchen legt dann ihr kindlich-liebliches Lispeln ab und verkörpert eindrucksvoll eine Frau, die rettungslos ohne einen Ausweg im Leben ist. Und man wünschte, dass der Himmel, den sie anruft, nicht leer ist. Aber Gott ist tot, und es gibt kein „Gerettet“. Stattdessen endet der Abend, indem Gretchen von allen verlassen auf der Bühne steht und selbstvergessen, voller Liebe „Heinrich“ vor sich hin fl üstert. Das fasziniert, aber balanciert hart am Rand des Kitsches.

Das kann verwundern bei einem Regisseur, der in der Walpurgisnacht das latent Grausame der volkstümlichen Musik aufdeckt und als Mittel nutzt.

Diese Musik, so dümmlich und populistisch sie auch immer in den Hitparaden daherkommen mag, nimmt ihre Berechtigung aus der Begeisterung des Publikums. Ob dieser Faust das tut, bleibt abzuwarten. Aber sollte eine Theateraufführung nicht in jedem Falle auch durch Brillanz des Geistes beglücken?

Offene Debatte um einen Verriss

Volksstimme Magdeburg vom 13. Oktober 2006

Der kritischen Volksstimme-Rezension von Gisela Begrich zu André Bückers „Faust“-Inszenierung am Nordharzer Städtebundtheater folgte ein ambitionierter schriftlicher Widerspruch des Regisseurs. Wir baten unsere Rezensentin um eine Reaktion zu diesem Schreiben. Wir veröffentlichen hier beide Texte (von der Redaktion leicht gekürzt).

Der Brief des Regisseurs

In der Ausgabe der Volksstimme vom 9. Oktober ist eine Rezension der Premiere „Faust“ am Nordharzer Städtebundtheater von Gisela Begrich unter der Überschrift „Goethes Faust ohne Himmel und Hölle“ zu lesen. Die in diesem Artikel gemachten Aussagen können nicht unwidersprochen bleiben.

Ich gehe bewusst nicht auf die Wertungen ein, die Frau Begrich selbstverständlich freistehen. Der Text ist aber in seiner Kombination aus Auslassungen, Unwahrheiten und Suggestion gefährlich.

Frau Begrich behauptet, die Hexenküche „präsentiert sich als Küchenstudio mit Models“. Dazu stelle ich klar, das von einem „Küchenstudio“ keine Rede sein kann, da sich keinerlei Küchenmöbel oder entsprechende Requisiten auf der Bühne befinden. Allein die Hexe und Helena sind dort, um Faust stückgemäß in Versuchung zu führen. Woher Frau Begrich ihre Deutung nimmt, ist mir schleierhaft.

Frau Begrich behauptet, dass Frau Marthe in meiner Inszenierung wohl „offensichtlich als Prostituierte“ arbeite, „hantiert sie doch mit all diesen Utensilien aus dem Hause Uhse...“ Dazu stelle ich fest, dass an keiner Stelle in der Aufführung irgendwelche derartigen Utensilien auftauchen. Auch hantiert niemand damit oder benutzt irgendwelche Gegenstände in der unterstellten Form. In der angesprochenen Szene benutzt die Darstellerin der Frau Marthe gar keine Requisiten!

Eine Zeile weiter behauptet Frau Begrich: Selbst Gretchen agiert mit beständiger Gestik, die Schenkel verhalten zu spreizen. Diese Behauptung ist schlicht unwahr, Gretchen verhält sich in der ganzen Aufführung kein einziges Mal in der unterstellten Art und Weise! Frau Begrich erweckt durch ihre Unwahrheiten den Eindruck, als handele es sich um nahezu pornografische Darstellungsweisen. Dies ist vollkommen unzutreffend! Ist das alles noch Fantasterei oder schon Wunschdenken?

Weiter im Text behauptet Frau B., das „Gerettet“ am Schluss von Goethes Faust gäbe es in meiner Aufführung nicht. Das ist unwahr! Wahr hingegen ist, dass die Worte „Ist gerettet“ laut und deutlich und für jedermann vernehmbar am Ende vom Darsteller des Faust gesagt werden, nachdem er erkennt, dass Gretchen in Gott die Erlösung gefunden hat. All das zeigt die Inszenierung mehr als deutlich. So läuft denn auch die von Frau Begrich aufgestellte Behauptung, es gäbe in dieser Inszenierung keinen Gott, weder Himmel noch Hölle, ins Leere. Wie könnte Gretchen in Gott Erlösung finden, wenn keiner da wäre, bzw. sie nicht an ihn glauben würde ?

Wie geht das? Wie kommt Frau Begrich zu diesen Beobachtungen ? Wie kann sich eine Person, die noch nicht einmal zur korrekten Wiedergabe eines Sachverhalts fähig ist, zum Scharfrichter der Kunst aufschwingen? Ich weiß nicht, was Frau Begrich mit dieser üblen Polemik bezweckt. Höhepunkt ist die nur halb verschleierte Diffamierung des Publikums am Ende ihrer Suada, indem sie verschweigt, dass die Besucher der Premiere die Aufführung lange und enthusiastisch mit vielen „Bravo“ -Rufen gefeiert haben.

Die Reaktion der Kritikerin

Niemand freut sich, wenn seine Arbeit in den Augen anderer misslingt, am wenigsten ein Künstler. Schließlich arbeitet ja jeder nach bestem Wissen und Gewissen. Aber das habe ich im Falle dieser Faust-Kritik auch getan. Und sie ist so und nicht anders geworden, weil ich sie eben nach bestem Wissen und Gewissen schrieb.

Ich will kurz auf einige Konkreta von Herrn Bückers Brief eingehen:

Nein, es gibt keine Küche auf der Bühne, aber ich hatte die Assoziation: das ist keine Hexenküche, sondern ein Küchenstudio.

Nein, Frau Marthe hat keine Peitsche, doch trägt sie Mieder und Strapse, sprich eine Kleidung, wie sie im Hause Uhse zu beziehen ist und gebärdet sich entsprechend.

Was die Künstler ausdrücken wollen, ist die eine Seite, was ein Zuschauender assoziiert, ist die andere Seite.

Stimmt, auf der Bühne wird „gerettet“ gesagt, aber eben von Faust, also nicht vom Herrn oder einer Stimme, die eine höhere Macht, die auch zu Beginn des Stückes nicht etabliert wird, symbolisieren könnte.

Nein, Gretchen wird in der Inszenierung nicht der Glauben abgesprochen. Aber das habe ich auch nicht geschrieben.

Dass Meinungen über eine Aufführung auseinandergehen können, halte ich für normal. Ich erinnere an die Einstiegsinszenierung von Tobias Wellemeyer in Magdeburg, „Nathan der Weise“, die ich toll fand, und der Rezensent der „Mitteldeutschen Zeitung“ „verrissen“ hat. Dieses Mal nun schrieb ich einen „Verriss“ und jemand anderer vielleicht das Gegenteil. Für und Wider gehören zur Kunst, finde ich jedenfalls, auch wenn es wehtun kann.

Natürlich will ich dem Nordharzer Städtebundtheater nicht schaden! Und warum sollte ich ihm denn schaden wollen? Ich wüsste dafür beim besten Willen kein Motiv!

Ich schätze und achte die Arbeit dieses Theaters hoch, weil dort unter schwierigen Bedingungen seit vielen Jahren gutes Theater gemacht wird. Ich habe dessen Produktionen meistens gut besprochen, allerdings nicht aus Mitleid oder taktischen Gründen, sondern weil mich die Qualität überzeugte. Das kann ich auch über den Regisseur Bücker sagen, dessen Inszenierungen von „Jedermann“, „Hauptmann von Köpenick“, „Sein oder nicht sein“ oder „Emilia Galotti“ mich beeindruckten; und genau das schrieb ich auch in den Kritiken. Jetzt sah ich eine Arbeit von ihm, die mich in keiner Weise überzeugte und wagte das auch zu schreiben.

Angemerkt: Hingehen!

Theater ist ein spannender Vorgang. Auch deshalb, weil die angebotene Sicht der Theaterleute auf das Stück und die daraus entstehenden szenischen Bilder nur die eine Seite der Medaille sind. Ob das Publikum (darunter der Kritiker) diese Sicht wahr- oder übernimmt, ist die andere Seite.

Und auch im Nordharzer „Faust“ stellen sich diese Fragen auf recht brisante Weise. Eine gültige Antwort muss man schon selber finden. Als Zuschauer. Deshalb unser Rat: Hingehen! Jürgen Hengstmann

Das gewaltige Rauschen aus der Black Box

Volksstimme vom 12. Oktober 2006

Von Jörg Loose

Quedlinburg. Goethes „Welttheater“ Faust auf die Bühnen des Nordharzer Städtebundtheaters zu bringen ist zuallererst Herausforderung, Wagnis und Verdienst. So wuchten Intendant André Bücker, Ausstatterin Alrune Sera, der Komponist Daniel Dohmeier und Sebastian Müller (Faust), Mathias Kusche (Mephisto), Elisa Ottersberg (Margarete) sowie Margit Hallmann und Jens Tramsen in weiteren Rollen den gewaltigen Brocken auf die kleine Bühne des Marschlinger Hofes. Dass es dabei nicht ohne schmerzhafte Schnitte, ja Amputationen abgeht, ist unausweichlich.

Originelle Brücken ins Heute schlagen

Die Darsteller übernehmen teilweise mehrere Rollen, andere Figuren entfallen ganz. Das gleiche Schicksal ereilt ganze Szenen. Besonders die, in denen Mephisto Faust in die kleine Welt der niederen Genüsse einführt, werden drastisch verkürzt und umgeschichtet. Hier beweist Bücker sein Talent, über sinnfällige inhaltliche Kompatibilitäten originelle Brücken ins Heute zu schlagen. Da wird die Spießbürgerschar aus Auerbachs Keller zur Versammlung dumpf nationaler Fußballfans, eine Hexe zur Puffmutter, die Faust als Verjüngungstrank eine Heroinspritze verabreicht, die Walpurgisnacht wird zum punkigen Volksmusikantenstadl. Das ist anregend, plausibel, erfrischend und fokussiert die Inszenierung gänzlich auf die „zwei Seelen in einer Brust“, auf das Januspaar Faust/Mephisto.

So geglückt die Lösung dieser und weiterer Szenen ist, so wenig vermochte mich der Gesamteindruck der Inszenierung zu fesseln und zu überzeugen. Die Regie will weder „zelebrierte Sprache“ noch „szenische Opulenz“, sondern „Bühnenspiel“ in „zitierten Orten“ um den „Faust“ von der Pflicht eines deutschen Weihespiels zu einem deutschen Vergnügen zu machen. Schön und gut, das ist ein löblicher Vorsatz. Aber mich interessiert im Theater vor allem, dass da eine nachvollziehbare, fesselnde Geschichte mit glaubwürdigen Charakteren erzählt wird, die mich über die Emotion im Kopf berührt.

Verzicht auf ein Bühnenbild

Wie man das dann nennt, ist mir egal. Und hier ist die Inszenierung defizitär. „Zitierte Orte“ bedeutet im konkreten Fall den fast vollständigen Verzicht auf ein Bühnenbild, auf einen für das Publikum plausiblen Ort des Geschehens. Die Bühne gleicht einer riesigen Black Box, einem verborgenen neutralen Raum, mit jeweils einer Sitzreihe an den Seiten, auf der die gerade nicht aktiven Darsteller das Geschehen verfolgen. Über einen Projektor werden die Szenenbezeichnungen als riesiger Schriftzug eingeblendet. Sie sollten ihren „Faust“ mitunter schon recht gut kennen, um den Text inhaltlich zuordnen zu können, wenn sie ihn denn verstehen. Denn „Bühnenspiel“ als Gegensatz zu „zelebrierter Sprache“ bedeutet hier unter anderem, dass (vor allem Fausts) Texte vielfach, wenn auch nur der geringste Verdacht von Pathos entstehen könnte, in einem Tempo und zuweilen in einer Lautstärke vorgetragen werden, dass es schon mal schwer fällt Silben, Worte oder Sätze aufzulösen. Von der Möglichkeit einer sinnlichen Durchdringung im doppelten Wortsinn für das Publikum will ich noch gar nicht reden. Dieser Faust kann ganz offensichtlich nicht verweilen, selbst nicht beim Text. Das Pathos, der emotionale Appell an das Publikum, hat zurzeit einen anrüchigen Beigeschmack und ist auf deutschen Bühnen nicht erwünscht.

Sparsame Gestik und Mimik

Dazu kommt ein Weiteres. In Faust und Mephisto finden sich bei Bücker Prinzipien auf der Bühne, keine realen Wesen. Beim Teufel, der uns in allen möglichen Varianten des Bösen entgegentritt, ist das noch einleuchtend. Aber Faust ist doch zuallererst ein Mensch. Wenn auch ein zweifelnder, suchender, sich verirrender. Und als solcher ist er, in der meist sparsamen Gestik und Mimik, die ihn oft unbeteiligt, hilflos, zu sich selbst redend wirken lässt und in den streng an den Körper angelegten Armen, die fast eine Zwangsjacke suggerieren, nur sehr beschädigt erkennbar. Einzig Margarete ist als Mensch gezeichnet. Hier ist auch heutiges, jugendliches Gefühl geformt. Nur zu ihr kann der Zuschauer eine emotionale Bindung aufbauen. Ihr ist eine Natürlichkeit eigen, der es den anderen Figuren mangelt. Sie, die im Räderwerk der Prinzipien (Faust, Mephisto) und Karikaturen (Marthe, Lieschen, Hexe) untergeht, ist das einzige Wesen von realem Fleisch und Blut, der einzige Identifikationspunkt auf der Bühne.

Die sparsam eingesetzte Musik von Daniel Dohmeier geht, anders als bei Emilia Galotti, über Atmosphärisches nicht hinaus, setzt aber sehr schöne, harmonische Kontrapunkte.

Die Black Box der Bühne verwandelt Goethes Tragödie in eine faustische Lawine. Die ist in ihrem Wortrausch wohl gewaltig, aber sie bewegt kalten, wenn auch funkelnden Schnee und nicht den Zuschauer. Der wird begraben.

Riss in der Himmelhölle

Mitteldeutsche Zeitung vom 14.10.2006

Von Andreas Hillger

Quedlinburg/MZ. Am Ende hatte selbst Goethe alle Hoffnung aufgegeben: „Der Faust ist doch ganz etwas Inkommensurabeles“, sagte er im Januar 1830 zu Eckermann, „und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich“. Dass der Klassiker sein Lieblings-Wort vom „Unvergleichbaren“ hier auf sein Lebens-Werk anwandte, hatte guten Grund: Dem „Faust“ ist – wie nicht zuletzt Peter Steins ungestrichene Fassung bewiesen hat – in Gänze auf dem Theater nicht beizukommen.

Wenn man sich aus dem Textgebirge jedoch jenen Teil herausschlägt, dem ein vitales Interesse gilt, kann eine sehenswerte Skulptur entstehen. Am Nordharzer Städtebundtheater entwickelt Intendant André Bücker seine Lesart nun unmittelbar aus dem Text: Die Zueignung beruft fünf Menschen zu Darstellern auf die Bühne, das Vorspiel auf dem Theater ist eine chorische Verabredung – und in Alrune Seras Bühnen-Kubus steht jeder projizierte Szenentitel für einen Ort. Dass der Himmels-Prolog zur schizophrenen Zerreißprobe zwischen Gut und Böse wird, die Mephisto in sich austrägt, ist die erste der desillusionistischen Überraschungen.

Davon gibt es fortan etliche: Bücker schneidet tief in die Verse, er benutzt sein stets präsentes Quintett wie einen akustischen Textmarker und wirft mit etlichen Lieblingssätzen auch den Famulus Wagner und den Schüler über Bord. Es ist eine schmerzliche Tour de Force, die Auerbachs Keller als schwarzrotgoldene Karikatur und die Hexenküche als laszive Anekdote überzeichnet. Seinen Grund aber findet der atemlos ernsthafte Beginn erst, als das Stück zur Ruhe kommt.

Zwischen „Mein schönes Fräulein“ und „Ist gerettet!“ nämlich ereignet sich eine Tragödie, die den Pop-Literaten mit der markanten Brille und den Cowboy-Stiefeln auf sein historisches Vorbild zurückwirft. Die elementare Liebe, mit der ihm Gretchen (Elisa Ottersberg) in naivem Ernst begegnet, heilt Faust (Sebastian Müller) nicht nur von jener Übersättigung, die er als Hunger missversteht und zuvor mit Selbstverbrennung oder Drogenkonsum bekämpfen wollte. Sie entfremdet ihn auch jenem zynischen Mephisto, den Mathias Kusche als Seiltänzer zwischen Temperamenten und Geschlechtern zeichnet – und der niemanden außer der verzweifelt erotischen Marthe (Margit Hallmann) zu fürchten hat.

Nachdem das hoch motivierte Ensemble bis hierhin durch eine von großen Lettern behauptete Welt gerannt ist, kommen die Figuren nun bei sich und beieinander an. Und damit enden auch die von Daniel Dohmeiers Musik perfekt begleiteten Rock'n'Roll-Zitate zwischen „Highway to Hell“ und „Stairway to Heaven“, mit denen Bücker den Text in die Gegenwart geöffnet hat. Ein freier Fall in Zeitlupe bindet hier das Interesse jenseits des Erwartbaren – und endet in quälend schöner Erlösungs-Phantasie, die den Weg zum zweiten Teil weist, ohne den der erste Fragment bleibt.

Faust im neuen Gewand

Das Städtebundtheater setzt bei seiner Faust-Inszenierung im Lessingtheater auf den Gegensatz von alter Sprache und modernem Gewand.

Braunschweiger Zeitung vom 04.12.2006

Von Marion Kanther

WOLFENBÜTTEL. Heinrich Faust ist einer von uns, Mephisto als Teufel in Menschengestalt ist allgegenwärtig. Margarete/Gretchen und Bruder Valentin sowie Marthe sind unter uns.

Die Hauptperson in Goethes Tragödie „Faust“ lösen sich während der einleitenden „Zuneigung“ aus Volkes Mitte (dem Publikum im Lessingtheater) und schlendern suchend zur Bühne. Mephistos schwarzer Einkaufsbeutel trägt die Aufschrift „Stairway to heaven“ (Treppen zum Himmel). Dem Dichterwort folgend, beginnen sie ihr Spiel, um die Zuschauer trefflich zu unterhalten.

Auf zweieinhalb Stunden und fünf Darsteller komprimierte André Bücker den Klassiker der Weltliteratur, mit dem das Nordharzer Städtebundtheater in Wolfenbüttel gastierte. Für die Vorbereitung seiner Inszenierung nahm er sich ein Jahr lang Zeit, wie die Dramaturgin Ann-Kathrin Hanss bei der Einführung berichtete.

Bückers Interpretation des „Faust“ konzentrierte sich auf zwei Seelen, die jeder Mensch in seiner Brust hat, und stellte diese Widersprüchlichkeit im Lichte heutigen Strebens nach immer neuen Herausforderungen dar.

Egoismus und Selbstverwirklichung, Vergnügungssucht und die Gier nach dem ultimativen Kick vermittelten die Schauspieler allein durch ihre Darstellung. Aus ihren Mündern sprach jedoch der authentische Goethe. Dichtung des 19. Jahrhunderts und Jetztzeit-Action standen im krassen Gegensatz zueinander.

Die Wirkung von Nähe und Distanz verstärkte der Regisseur noch zusätzlich durch den Einsatz von Mikroports, Video-Projektionen und den technischen Möglichkeiten, Sprache zu verzerren. Vor dem Hintergrund eines minimalistischen Bühnenbildes, das sich in Schwarz-Weiß-Effekten erschöpfte, bekam die Rolle des Mephisto, dargestellt von Mathias Kusche, optimale Dominanz. Die Facetten teuflischer Verführungskunst konnte er in wechselnden Verkleidungen ausspielen. Seine Talente gipfelten in einer Parodie auf Michael Jackson und den obszönen Handgriff an die Männlichkeit. Auch Margit Hallmann als Marthe, Hexe und Lieschen bekam Rollenbilder zugeordnet, die als realistische Darstellungen dem heutigen Zeitspiel entsprachen. In der Figur des Faust blieb Sebastian Müller der augenfällig rastlos Suchende nach Erfüllung seiner Begierde, ein äußerlich unscheinbarer Jedermann, der sich nicht hinter die Stirn gucken lässt.

Der Wandlungprozess der Margarete machte Elisa Ottersberg deutlich, die in ihrer Darstellung mit der Entwicklung der Rolle wuchs. Jens Tramsen als Valentin vervollständigte das Team.

Die Gymnasiasten unter den Theaterbesuchern bekundeten ihr Gefallen an der Aufführung mit Beifall und Pfiffen.

zu »Otto und Theophano«

Triumph des Musikalischen

Volksstimme Magdeburg 18. September 2006
Von Dr. Herbert Henning

Die Premiere der Oper „Otto und Theophano“ von Georg Friedrich Händel als künstlerischer Beitrag zur Europaratsausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ wurde zu einem außergewöhnlichen Erfolg für das Nordharzer Städtebundtheater. Langanhaltender Beifall und Standing Ovations honorierten die Leistungen der Sänger, Tänzer und Musiker des Orchesters, das von einem Continuo-Ensemble mit barocken Instrumenten der Berliner Lautten Compagney verstärkt wurde.

1723 erlebte in London Georg Friedrich Händels „Otto, Re di Germania“ ihre Uraufführung, als eine für die damalige Zeit „moderne, zeitgenössische“ Oper im Stil der italienischen Musik komponiert und mit dem Prunk des barocken Theaters in Kostüm, Malerei und Architektur. Das Historische der Handlung um die Hochzeit des deutsch-römischen Kaisers Otto II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophano und die politischen Ränkespiele ordneten sich damals den „Gesetzen“ der Barockoper, die zuallererst ein „Fest für die Sänger“ war, unter. Immer wieder aber findet man in den Händel-Opern mit ihren historischen Figuren aktuelle Bezüge zu politischen Ereignissen ihrer Entstehungszeit.

In der Oper erlebt man politische Ränke und Intrigen aus 100 Jahren Anfangszeit der Ottonen in einer Handlung von zwei Tagen vor der Hochzeit von Otto und Theophano in Rom. Machtstreben, Intrigen, Entführung und Gewalt, die zuweilen etwas Erotisches hat, treiben die Menschen um, deren Handeln politisch motiviert ist. Die Art und Weise, wie heute politische Konflikte ausgetragen werden, unterschiedet sich nicht wesentlich. Gewalt ist gegenwärtig.

Regisseur André Bücker und Peer Palmowski (Ausstattung) finden für diese Überlegungen ein interessantes, tragfähiges Inszenierungskonzept. Mit einer „V.I.P.-Lounge“ auf einem Airport in einer futuristisch-funktionalen Architektur, in der sich Symmetrie, Perspektive, Muster und Ornamentik barocker Musik sinnfällig widerspiegeln, haben sie einen Ort für das politische Geschehen beim Aufeinandertreffen von Menschen, die alle unterwegs und noch nicht angekommen sind. Dieser unpersönliche, kalte, auch geheimnisvolle Ort, ein Niemandsland, wird zum Mittelpunkt von Weltpolitik, wenn die Hochzeit von Otto und Theophano verhandelt, hintertrieben und schließlich vollzogen wird. Dass hier aber trotz allen politischen Kalküls Menschen, getrieben von Liebe und Hass, agieren, zeigt Bücker durch eine zweite „virtuelle“ Spielebene, wenn Tänzer des Ballettensembles die in den Barockarien sich offenbarenden Gefühlswelten in sinnliche Bewegungen „übersetzen“ und so Assoziationen zur Musik Händels pantomimisch-tänzerisch herstellen. Hier gelingen André Bücker und Jaroslaw Jurasz (Choreografie) zum Teil ausdrucksstarke Bilder, wenn zum Beispiel Gismonda am Boden gekrümmt den nahen Tod ihres Sohnes Adalberto beklagt und wie von einem anderen Stern ein Astronaut fast schwebend diesen ergreifenden Gesang tänzerisch kommentiert.

MD Johannes Rieger sichert mit dem glänzend spielenden Orchester und einem Continuo-Ensemble der Berliner Lautten Compagney (Ulrike Becker, Christine Tschirge, Julian Behr, Hans-Werner Apel), die auf historischen Instrumenten die Rezitative und die Tutti-Arien begleiten, höchste musikalische Qualität. Exzellent das Zusammenspiel des Orchesters mit der Lautten Compagney, das eine beeindruckende Textverständlichkeit der Sänger in den Rezitativen und barocken Arien von Anfang an garantiert. Und es war ein wirkliches „Fest der Sänger“. Der junge Counter-Tenor Steve Wächter als Otto verzauberte mit seiner Altus-Stimme, Katharina Warken als Gismonda brillierte mit ihrem Gesang. Die Mezzo-Sopranistin Barbara Buffy sang und spielte mit Burschikosität die unglücklich in Adalbero (Xiaotong Han mit tenoralem Glanz) verliebte Mathilda. Juha Koskela als Emireno überraschte einmal mehr durch seine baritonale Stimmgewalt. Die Aufführung wird durch Kerstin Petersson als Prinzessin Theophano mit ihrer ausdrucksvollen Stimme (wunderbar ihre ariosen barocken Verzierungen) und ihrem leidenschaftlichen Spiel „zwischen den Fronten“ vollends zum Triumph des Musikalischen.

Das Volk darf nicht handeln, aber tanzen

Mitteldeutsche Zeitung Kultur 19. September 2006
André Bücker inszeniert in Quedlinburg Händels „Otto und Theophano“

Von Andreas Hillger

Quedlinburg/MZ. Das erste Wort hat die Chef-Stewardess. Vorbildlich wird das Publikum über die Notausgänge und den Gebrauch der kleinen Tüten belehrt, gegen Erstickungsgefahr bei Lachanfällen gibt es Sauerstoffmasken und gegen Tränen der Rührung Schwimmwesten. Aber selbst wenn man all diese – auf Italienisch vorgetragenen – Instruktionen missverstanden haben sollte, ist der Hinweis auf den Gebrauch der Sicherheitsgurte eindeutig: Schnallen Sie sich an – das Nordharzer Städtebundtheater startet durch!

Schulterschluss

Mit Georg Friedrich Händels Oper „Otto und Theophano“ ist dem Intendanten André Bücker ein Saison-Auftakt geglückt, dessen organisatorische Konstruktion der verwirrenden Handlung ebenbürtig ist. Gefördert von der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik und mit aktuellem Bezug auf die Ottonen-Schau in Magdeburg und Berlin angesetzt, lebt die Inszenierung vom Schulterschluss der Generalisten mit den Spezialisten. Das Orchester des Hauses nämlich musiziert gemeinsam mit vier Musikern der Lautten-Compagney Berlin, die dem modernen Klang ein historisch instrumentiertes Continuo beifügen.

Selten war ein solches Gerüst so wertvoll wie in diesem Fall, der durchaus als Modell für den Umgang mit Barockmusik im Stadttheater gelten darf. Dass sich die Regie für eine heutige Perspektive entscheidet, ist kein Widerspruch zu dieser musikalischen Melange. Peer Palmowski hat als Schauplatz einen Transitraum entworfen, in dem der emotionale Ausnahmezustand die Regel ist. Machtmenschen auf der Durchreise warten an der Bar auf ihren Abflug, Abschiebehäftlinge werden vorbeigezerrt, Putzfrauen und Wachmänner träumen sich in die Sonne – und obwohl das Handgepäck längst durchleuchtet wurde, ist bei Bedarf immer eine Waffe zur Hand.

Bücker garniert diese Welt mit ironischen Zutaten, zu denen die Krone im Koffer ebenso wie die Absatz-Probleme der Karriere-Frau gehören. Und er kontert sie durch einen massiven Ballett-Kommentar in den Arien. Der Tanz befällt hier nur den Untertan, der selbst als Pauschaltourist noch zum Gleichschritt neigt. Das Volk kann zwar nicht handeln, doch es darf tanzen. Das mag man fatalistisch nennen, originell und aufführungspraktisch begründbar aber ist es auf jeden Fall. Und da man in Quedlinburg zudem über sechs Solisten verfügt, die sich ihre Aufmerksamkeit immer neu verdienen, ist auch die Konzentration nicht in Gefahr.

Mit Steve Wächter als Otto ist ein Altus zu entdecken, der über Kraft wie Schmelz verfügt und den man sich im Barockland Sachsen-Anhalt merken sollte. Kerstin Petersson erweist sich in der Rolle der Theophano als überragende Ensemble-Stütze, der Katharina Warkens Gismonda als Gast glänzend zur Seite tritt. Barbara Buffy gibt ihrer Matilda als Dritte unter Gleichen eine tragische Aura. Und mit dem bärenstarken Juha Koskela (Emireno) sowie dem drahtigen Xiaotong Han (Adalberto) begegnet man einem Ganoven-Pärchen, wie es gegensätzlicher kaum sein könnte – wobei der asiatische Tenor mit seinem Buffo-Timbre auch in Stilfragen exotisch wirkt.

Mut und Eigensinn

Aber das korrespondiert ja durchaus mit dem musikalischen Eigensinn, der hier von großem Mut getragen wird. Natürlich hört man gelegentlich die Grenzen des Städtebund-Orchesters. Aber das hat eben auch mit den Quantitäten eines Ensembles zu tun, in dem es auf den Einzelnen noch stärker ankommt als in größeren Häusern. In magischen Momenten aber, wenn Papierflugzeuge aus dem Bühnenhimmel in das Parkett segeln, hebt die Inszenierung ab. Bis dann am Ende alle stehend applaudieren.

Grandioses Ringen um Macht

Mitteldeutsche Zeitung 19. September 2006
„Otto und Theophano“: Gefeierte Händel-Inszenierung am Nordharzer Städtebundtheater

Von Rita Kunze

Quedlinburg/MZ. Spontane Bravo-Rufe und am Ende Beifallsstürme und stehende Ovationen in einem ausverkauften Haus – besser hätte die Premiere zu Händels Oper „Otto und Theophano“ am Samstag im Großen Haus am Marschlinger Hof nicht enden können. Das Publikum war begeistert von Sängern, Musikern und Tänzern, die sich am Nordharzer Städtebundtheater in Höchstform präsentierten.

Mit seinem ehrgeizigen Projekt trifft Intendant André Bücker den Nerv der Zeit. Händel hat seine auf mittelalterlicher Historie basierende Oper 1723 zeitgenössisch aufgeführt und Bücker tut Gleiches. „Mobilität sichert die Macht“, sagt er zu seiner Inszenierung, und Machtpoker ist zeitlos: Warum soll er also nicht in einer Flughafenhalle gespielt werden. In dem anonymen und zugleich doch hochoffiziellen Raum werden Hoffnungen geweckt und Intrigen gesponnen, wird geliebt, gehasst, stranden verwirrte Seelen. Für alles ist Platz auf der von Peer Palmowski gestalteten Bühne; sie ist kühler, sachlicher Hintergrund für die großen Gefühle, denen die Protagonisten mit wahrer Hingabe verfallen.

Anrührend singt Katharina Warken die Arie der Gismonda, die um ihren totgeweihten Sohn Adalberto fürchtet. Der ist Opfer ihrer eigenen Intrige und zu allem Unglück wirklich verliebt in Theophano, die ihm jedoch die kalte Schulter zeigt. Ausdrucksstark verkörpert Kerstin Pettersson die byzantinische Prinzessin, die sich, allein in der Fremde, an all ihre Hoffnungen klammert. Und die verkörpert ihr zukünftiger Ehemann Otto II. Ein selbstbewusster junger Herrscher, für den die Nordharzer den jungen Dresdner Countertenor Steve Wächter verpflichteten. Der überzeugte nicht nur stimmlich; lässig, fingerschnippend macht er die Bühne zu seiner. Den Hörgenuss komplett machen Barbara Buffy a.G. als Ottos Cousine Mathilda und Juha Koskela (Emireno, Halbbruder Theophanos), der mit seinem tiefen Bariton Kraft und Wagemut bis in die letzte Reihe trägt. Ballettmeister Jaroslaw Jurasz ergänzt mit seiner Compagnie das opulente Werk um phantasievolle Traumbilder; Stewardessen und Piloten werfen im Reigen kleine Papierflugzeuge in den Raum, Putzfrauen schwenken im Takt die Besen zu Händels Musik.

Die zeigte Musikdirektor Johannes Rieger mit seinem Orchester als prachtvollen Klangteppich, kunstvoll geschmückt mit dem Einsatz der Berliner Lautten Compagney. Die Zusammenarbeit mit dem renommierten Berliner Ensemble schien die Nordharzer Musiker geradezu zu beflügeln – sie schwangen sich auf zu schönsten Tönen.

„Otto und Theophano“, wieder am 15. Oktober, 15 Uhr im Großen Haus Quedlinburg, Karten unter 03946/96 22 22

Mit dem Düsenjet ins Mittelalter

Volksstimme Halberstadt 21. September 2006
Zum Saisonauftakt der aktuellen Spielzeit präsentierte Intendant André Bücker die Händel-Oper „Ottone, Re di Germania“. Im Rahmen der Europarats- und Landesausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806“ entstand die Produktion als Gemeinschaftsprojekt mit der Ständigen Konferenz Mitteldeutscher Barockmusik.

Von Jörg Loose

Quedlinburg. Wohin die Reise geht, wird noch vor dem ersten Ton klar. Eine Stewardess weist das auf der Flugreise ins mittelalterliche Rom befindliche Publikum mit den obligatorischen Sicherheitshinweisen (leider in Italienisch) auf Gefahren und Tücken hin. Als in einem frechen Anflug von Ironie neben den unvermeidlichen Schwimmwesten auch der Gebrauch von Brechtüten erläutert wurde, schwante mir kurzzeitig Böses zum folgenden Opernabend. Aber hier kann ich beruhigen. Auch wenn die Inszenierung kein letztes Wort zur sicher nicht einfachen Umsetzung Händelscher Opern in der Gegenwart sprach, war doch ein anregender Opernabend zu erleben, und die ordinäre Tüte blieb ein Gag und nicht notwendiges Utensil.

Bücker situiert die Handlung – eine „daily-Soap“-reife Abfolge von Verwicklungen im Vorfeld der Hochzeit Otto II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophano von 972 zur Besiegelung des Friedens zwischen beiden Reichen – in eine neuzeitliche Flughafenlobby. Hier schluckt der Otto-Normalverbraucher in Sachen Oper schon mal gewaltig. Aber die Lächerlichkeiten eines reinen Kostümspektakels werden so umgangen und plausibel ist das Ganze allemal. Der Mobilitätszwang zur Machtausübung damals wie heute lässt vielfältige Parallelen zu. Zugleich bot sich so ein einheitliches (kühl-steriles) Bühnenbild (Peer Palmowski) ohne Umbaupausen für ein flüssiges Spiel an.

Hochzeiten sind im mittelalterlichen Formel-Eins-Zirkus der Macht so was wie friedliche Boxenstopps – (Macht) Einholen ohne Überholen. Die handelnden Akteure des Nordharzer Boxenstopps nehmen sich weitestgehend ernst. Die notwendigen Brechungen, um die Telenovela mittelalterlicher Jetset-Politik nicht in lächerliche Peinlichkeiten abgleiten zu lassen, überträgt Bücker dem Ballett, das als Putzkolonne, Sicherheitskräfte, Feuerwehr, Stewardessen, Bodenpersonal oder Urlauber in Erscheinung tritt. Das funktioniert aber nicht immer. Zu oft ergeben sich die Einlagen nicht unmittelbar aus der Handlung, wirken mithin etwas beliebig und aufgesetzt, als reine Staffage einer Flughafenatmosphäre.

Händelarien sind immer hochemotionale Momentaufnahmen der Figuren. Diese Emotionen werden nur teilweise bedient. Die mitunter parallel zu den Arien laufenden Aktionen stören den Aufbau einer Stimmung, eines emotionalen Spannungsbogens und behindern damit eine Bindung und Identifikation des Publikums mit den Protagonisten. Weniger Beiwerk und mehr Vertrauen in die Kraft Händelscher Musik wäre zuweilen angeraten gewesen. Aber immer, wenn die getanzten Zugaben in Beziehung zum Seelenzustand der Figur standen, ergaben sich überraschende Momente poetischer Schönheit. So zum Beispiel der verirrte, einsame Kosmonaut in einer ihm fremden Welt, während der wehmütigen Arie „Komm mein Sohn, tröste mich“ (wunderbar Katharina Warken). Das war schon fast wieder genial.

Absolute Klasse darf dem musikalischen Gesamteindruck attestiert werden. Johannes Rieger serviert mittelalterlichen Händel meisterlich. Scharfe, rhythmische Akzentuierungen wechselten mit seidenweichen Klangteppichen. Sie boten ein prachtvolles, fein ausbalanciertes musikalisches Gewebe, das durch die Mitwirkung der Spezialisten alter Musik, der Lautten Compagney Berlin, seine virtuose, barocke Adelung erfuhr. Auf diesem Teppich lustwandelt eine zumeist bestens aufgelegte Sängerschar. Steve Wächter (Kaiser Otto) als falsettierender Altist besticht mit strahlendem Barockklang und sparsam verzierten Koloraturen, während sein Spiel etwas ausbaufähig zwischen herrschaftlicher und süffisanter Kaisermiene pendelt. Kerstin Pettersson (Theophano) gibt das unschuldig naive Jetset-Girl und punktet mit (fast zu) kräftigem Gesang. Anders Katharina Warken (Gismonda) als bösartig intrigante Tyrannenwitwe. Mit lyrischem Ausdruck und dem ihr eigenen „hingehauchten“ Piano sorgte sie für Gänsehautattacken und feierte ein eindrucksvolles Comeback. Auch Barbara Buffy (Matilda) beeindruckte mit samtig rauchiger Stimme und frischem Spiel. Großartig Juha Koskela als Pirat Emireno. Mit seiner kernig-stürmischen Auftakt-Arie ging der Abend richtig los, und auch Xiaotong Han (Adalberto) als rücksichtsloser Karrierist meistert die Anforderungen mit Bravour.

Finaler Jubel feierte einen (vor allem musikalisch) viel versprechenden Saisonauftakt.

zu »Dinner for One«

Der Butler und das Bärenfell

Mitteldeutsche Zeitung, 3.1.2007
Von Uwe Kraus
Halberstadt/MZ. Der Intendant höchstselbst hieß Silvester die Gäste auf dem Landsitz der nunmehr 90jährigen Miss Sophie willkommen. André Bücker bereitet die Zuschauer auf das „ungewöhnlichste Geburtstagsdinner, das es ja gab“ vor. Gegessen und besonders getrunken wird viel, gesprochen dagegen kaum, und wer regelmäßig Silvester vor dem Fernseher saß, konnte in der Kammerbühne fast mitreden. Edith Jeschke und Norbert Zilz schlüpfen in die Rollen von Miss Sophie und Butler James im kultigen Zweipersonenstück „Dinner for One“. Da der englischsprachige 18minüter nicht synchronisiert wird, hatten es Halberstädter wie Niederländer am Sonntag gleich leicht, den beiden Erzkomödianten aus dem Musiktheaterensemble zu folgen. Norbert Zilz servierte das Standard-Menü, greift für die längst verstorbenen Geburtstagsgäste in der Reihenfolge Sherry, Weißwein, Champagner und Portwein mit zum Glas und stolpert natürlich über den platten Eisbären. Denn Sir Toby, Admiral von Schneider mit seiner knarksigen Aussprache, der eher zurückhaltende Mister Pommeroy und Mister Winterbottom, als liebster Gast der Lady, sind zwar alle dahingeschieden, aber man gibt sich traditionsbewusst: das Mahl und besonders die Alkoholitäten muss der zunehmend alkoholisierte Butler James auftischen. Zilz wie ehedem vor 43 Jahren Freddie Frinton agiert mit immer verschlungenerer Zunge temporeich und mit akrobatischen Verrenkungen beim Servieren. Legendär ist der Spruch von James vor jedem Gang „The same procedure as last year, Miss Sophie?”, dem sie entgegnet: „The same procedure as every year, James“. Wobei mit steigendem Promillepegel der Butler seinen Text immer mehr vernuschelt. Obwohl er rülpst wie im Original, die Hacken und das „Skall!“ wie im traditionellen Silvester-Film klingt, erlebt das Publikum einen echten Zilz, der nur in winzigen Detail vom TV-Dauerbrenner abweicht. Er stakst daher, wackelt mit dem Kopf und dreht die Hände steif in die Servierstellung nach oben, die Stolperer sitzen, zunehmend schwerer werden die Beine, das Huhn schießt im Steilflug quer über die Bühne, auf der nur die Bühne für den Abgang fehlt. Edith Jeschke wirkt als distinguierte Miss Sophie jünger und agiert deutlich frischer als May Warden im Film. Apart lebt sie ihre Feierlaune aus. Und letztlich endet die Feier wie jedes Jahr: Miss Sophie will nach oben. Bleibt zu hoffen, dass die am häufigsten wiederholte Fernsehsendung in der deutschen TV-Geschichte nun anhebt, ein Dauerbrenner am Nordharzer Städtebundtheater zu werden. Die enttäuschten Kartenwünsche 2006 und das Darsteller-Duo geben Gewähr, dass das Stück wie in Magdeburg, wo es Silvester sechsmal lief, bald auch im Nordharz zu „The same procedure as every year“ werden könnte. 

Lachsalven für den Silvesterkult im Harz

Volksstimme Halberstadt, 3. 1. 2007
Halberstadt. Die seit 43 Jahren zum Jahresende wohl meistgestellte Frage ist weltweit: „The same procedure as last year, Miss Sophie?“ Die Antwort von Miss Sophie und was dann folgt beschert Jahr für Jahr Silvester in mehr als 20 Ländern ungeteiltes Vergnügen und ist zum Silvesterkult avanciert. „Dinner for One oder Der 90.Geburtstag” wurde durch Freddy Frinton als James und May Warden als Miss Sophie zum Fernsehereignis, ist mehr als 240mal allein im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden und erhielt bereits 1988 eine Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde. Längst hat der kultige 18minütige Zweipersonensketch auch die Theater erobert. Es gibt „Dinner for One“ auf platt, auf sächsisch und bayerisch. In der Version „uff hessisch“ gibt es für „de Mamma“ statt „Mulligatawny-Suppe, Haddock (Schellfisch), Chicken und Fruits“ nun einfach „Dick Supp, Kardoffelpannkuch und Grie Sos met hart Eier“, und für die nicht erschienen Gäste Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pomeroy und Mr. Winterbottom „Äbbelwoi un en Likörsche“. Das Nordharzer Städtebundtheater lud zum „Dinner for One“ in die Halberstädter Kammerbühne ein und landete mit Norbert Zilz als Butler James und der wunderbaren, ganz noblen und ziemlich attraktiven Edith Jeschke als Miss Sophie und ihrem kultigen „Same procedure as every year, James!“ einen Coup. Intendant André Bücker höchst selbst führte, ganz wie in der legendären NDR-Produktion, in die „Geburtstagsfeier“ ein und lud die Gäste anschließend zum „Silvester-Sekt“ ins Foyer. Seine Inszenierung hält sich vor allem bei dem, was Butler James, der für die nicht anwesenden, längst verstorbenen Geburtstagsgäste trinken und Miss Sophie zuprosten muss, an das unvergleichliche Vorbild Freddy Frinton. Mimik, Gestik, der charakteristische gespreizte Schlurfgang mit den vielen Varianten des Einschenkens von „Cherry, Whitewine, Champaign und Port“ und des Abtragens der Speisen von Norbert Zilz sind so FreddyFrinton-authentisch, dass man noch beim Anschauen des (Fernseh)-Originals verblüfft ist. Dabei gibt es doch kleine, aber feine Unterschiede. Butler James zeigt nicht das Stolpern und Nicht-Stolpern über einen Tigerkopf, sondern in Halberstadt über einen „plattgemachten“ Eisbären. Es gibt keinen Kamin und keine Treppe für das Entschwinden von Miss Sophie und James mit den nonchalanten Worten „Well, I'll do my very best !“. Wobei bis heute unklar ist, was dann zwischen den beiden „as last year“ passiert. Szenenbeifall für gelallte Trinksprüche In Halberstadt gibt es dafür einen musikalischen Fingerzeig, denn nicht wie im Original spielt man als Musik „Charmaine“ sondern „Komm mit mir ins Chambre separé“ Natürlich wurde auch in Halberstadt „Dinner for One“ im Original gespielt und dem (fast) lupenreinen Oxford-Englisch von Norbert Zilz und Edith Jeschke ist höchstes Lob zu zollen. Lachsalven und viel Szenenbeifall für die lallenden Trinksprüche, die James anstelle der Gäste ausbringen muss, vor allem, wenn er das Glas mit der Blumenvase vertauscht und den Portwein von der Tischdecke wieder ins Glas befördert sowie nebenbei Miss Sophie samt Lehnstuhl in einen Schwebezustand befördert. Edith Jeschke und Norbert Zilz spielen mit schwarzem Humor ganz ernsthaft „very british“ und man stellt sich auch diesmal wieder die Frage, warum „Dinner vor One“ in Großbritanien nahezu unbekannt und in Grönland und Südafrika Kult ist. Auch auf der Bühne des Nordharzer Städtebundtheaters war der Sketch ein Volltreffer. Wiederholungen zu Silvester 2007 sind ausdrücklich erwünscht.

zu »Der Wildschütz«

Opernspaß in Himmelblau und Rosarot

„Der Wildschütz“ von Albert Lortzing am Nordharzer Städtebundtheater: Als Boulevardkomödie mit viel Situationskomik und Ironie hat Andrè Bücker Albert Lortzings Spieloper „Der Wildschütz“ inszeniert. Es ist ein respektables Debüt des jungen Intendanten als Opernregisseur und bietet dem Ensemble des Nordharzer Städtebundtheaters viele Möglichkeiten für eine Opernspaß mit Jux und Tollerei.

von Dr. Herbert Henning

Kein plüschiges Biedermeierambiente mit Hirschgeweih. Stattdessen Sonnenschirme und sommerliches Gartengestühl. Andrè Bücker hat wohl entdeckt, dass Lortzings Oper über die menschlichen Schwächen, die man auch als „Verwirrung der Herzen“ bezeichnen kann, zeitlos sind. Also lässt er die Oper in den 50er Jahren spielen und dieser inszenatorische Coup macht die Qualitäten des Stückes als eine Boulevardkomödie offensichtlich. Wenn es um Herzensangelegenheiten geht, singt man. Ansonsten spielt man hinreißend Komödie mit vielen ironischen Anspielungen nicht nur auf die 50er Jahre. Dabei vergisst man das Kolportagen hafte der Handlung mit Verkleidungen und Verwechslungen, den gräflichen Eskapaden als Schürzenjäger und dass der Schulmeister Sebastian Baculus seine „falsche“ Braut, die eigentlich eine Baronin und Schwester des Grafen ist und als vermeintlicher Student incognito chargiert, verkauft. Das Durcheinander wird mit Witz und Ironie und amüsanten szenischen Einfällen serviert. Der Zuschauer weiß dabei immer mehr als die handelnden Personen. Andrè Bücker hat sie mit skurrilen Marotten ausgestattet hat, die den Opernspaß komplett machen. Da hat der Schulmeister Baculus Ähnlichkeit mit Heinz Erhard und bewegt sich wie Benny von der Olsenbande „mächtig gewaltig“ durchs Stück. Klaus Uwe Rein macht aus dieser Rolle auch sängerisch ein Kabinettstückchen, und dies nicht nur mit seiner bravourösen „5000 Taler“-Arie. Gerlind Schröder als „antike“ Gräfin Ebersbach mit dem Hang zur vermeintlichen Tragödin und Sarah-Bernhard-Impetus in Geste und Mimik zeigt durchaus lüsternes Verlangen nach dem feschen Baron Kronthal, der eigentlich (unerkannt) ihr Schwager ist. Xiaotong Han parodiert sich hier selbst als leidenschaftlicher Operntenor mit großer, schmachtender Geste und feiner musikalischer Lyrik. Baronin Freimann (Schwester des Grafen) reist per Moped an und Bettina Pierags setzt mit Charme die Waffen einer Frau ein um sich den amourösen Zudringlichkeiten von Graf und Baron zu widersetzten. Die beiden spielen Minigolf oder balgen sich um die Gunst der vermeintlichen Braut des Schulmeisters auf einer riesigen roten „Wetten dass?“- Couch . Das ganze Durcheinander in Sachen Herzensangelegenheiten wird in den Ensembleszenen mit musikalischer Raffinesse besungen und dazu hat sich bei stimmungsvollen Lichtwechsel zwischen Himmelblau, Grasgrün und Rosarot (Symbole für Treue, Hoffnung, Liebe) André Bücker ein hinreißendes „Slapstick-Ballett“ mit Händen, Armen und zuweilen auch dem ganzen Körper einfallen lassen. Text und Musik in „Gebärdensprache“ - was für ein Einfall. Wie auch der Auftritt der Jäger mit Flinte als „Boygroup“ mit erotischen Hüftschwüngen, die kreischend und mit fliegender Unterwäsche von den Damen der Landbevölkerung skandiert werden. Tanga und BH als „Zierde“ der Jagdflinten!

Musikalisch ist der Abend vor allem durch die Leichtigkeit im Spiel des Orchesters unter Torsten Petzold und dem glänzend vorbereiteten, äußerst spielfreudigen Chor(Einstudierung: Marbod Kaiser) launig. Aufhorchen lässt die jungen Sopranistin Isabell Fricke als echtes Baculus-Gretchen mit kessem Charme und der finnische Bariton Juha Koskela gefällt besonders mit seiner Arie „Heiterkeit und Fröhlichkeit, ihr Götter dieses Lebens“. Das könnte Motto dieser Inszenierung sein, die an einem „alten“ Stück beweist wie modern Operntheater sein kann.

zu: Der Weig der Verheissung

Vom Elfenbeinturm zum Leuchtturm

Volksstimme vom 08.06.2007

Wiederaufführung des szenischen Oratoriums „Der Weg der Verheißung“ im Rahmen des Domfestes

Von Jörg Loose

Vor etwa zwei Jahren begann André Bücker anlässlich des 60. Jahrestages der Zerstörung Halberstadts seine Intendanz mit der Gedenkwoche „Dem gleich fehlt die Trauer“. Wenngleich Konzept und Durchführung kontrovers und heftig diskutiert wurden, so markiert sie im Rückblick doch den Beginn einer bemerkenswerten Entwicklung, für die Bücker steht. Es geht um aktuelles, politisch positioniertes Theater, das in seinem Drang nach öffentlicher Auseinandersetzung klassische Theaterformen und –orte sprengt und neue Wege einschlägt. Der Elfenbeinturm wird zum Leuchtturm, mitunter von heftigsten Wogen umbrandet, in denen naturgemäß (für Macher und Publikum) manche Untiefe lauert. Mit dem im Rahmen des diesjährigen Domfestes uraufgeführten Balletts „Der verlorene Sohn“ wurde dieser Weg inhaltlich wie künstlerisch höchst eindrucksvoll fortgesetzt. Zum Abschluss des Domfestes gab es eine Wiederaufführung des 2006 inszenierten, ersten Teiles des oratorischen Bibelspieles „Der Weg der Verheißung (Musik von Kurt Weill auf einen Text von Franz Werfel), in dem jüdische Opfer einer Vertreibung im Zentrum des Geschehens stehen.
Hier findet sich eine anonyme jüdische Gemeinde in einer zeitlosen Nacht der Verfolgung zusammen und droht am eigenen Schicksal zu verzweifeln. In der Besinnung auf die Wurzeln ihrer Religion, auf ihre Geschichte der Verfolgung und Vertreibung schreiben könnte – in der Besinnung auf die Glaubensstärke ihrer Altvorderen finden sie aber Kraft und Zuversicht, sich ihrer Bedrängnis zu stellen. Bücker macht in seiner Inszenierung Nägel mit Köpfen und konfrontiert uns, die Nachfahren der Luftkriegsopfer von 1945, mit den jüdischen Vertriebenen Halberstadts von 1942. Das sitzt und bildet inhaltlich ein Gegengewicht zur Gedenkwoche „Dem gleich fehlt die Trauer“. Und so sind es denn die konkreten „Halberstädter Szenen“ des Schauspielensembles, die mich in diesem doch sehr opulenten, szenisch gestalteten Oratorium am meisten beeindruckten und bedrückten. Die Opfer von damals mischen sich im Dom, wenige Meter vom Ort ihres Zusammentreibens und Abtransportes in die Vernichtungslager, mit den Kindern und Enkeln der Bürger dieser Stadt, die dies geschehen ließen. Und sie stellen ihrem Gott die Fragen nach dem Warum. Aber der Adressat ist nicht Gott, der Adressat ist das Publikum. Jeden springt nicht nur ein Gefühl tiefster Scham, sondern vor allem die Frage an, was hätte er selbst getan? Und wie wäre das heute, würden wir etwas Ähnliches geschehen lassen? Und wenn wir in die so aufgeklärte Festung Europa der letzten Jahre blicken, so wird klar, Gewalt gegen Andersdenkende und Minderheiten gehört eben leider nicht der Geschichte an. Dies immer wieder ins Bewusstsein zu brennen, ist ein ganz wesentliches Verdienst der Inszenierung, ist auch ein Weg der Verheißung. Das dieses jüdische Bibelspiel im nun evangelischen Dom stattfindet, dass der jüdische Kantor von einer katholischen Kanzel spricht, dass die Trittgeräusche der sonntäglichen Kirchenbesucher sich zum Glockengeläut unmerklich und schleichend in militärischen Stiefelschritt wandeln und anderes mehr gehört zu den Details der Inszenierung, die Geschichte eindringlich ins Heute transportiert.
Bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik, dieses Oratorium – für den Broadway verfasst und dort in über 150 Aufführungen erfolgreich – ist publikumswirksames Musiktheater der prallsten Sorte. Kurt Weill hat den Text Werfels und die Bibelgeschichte der jüdischen Erzväter in eine vielfältige, fast bunte Palette musikalischer Einflüsse gepackt. Da gibt es den Singsang jüdischen Gebetes, da sind orientalische Klänge, ein wenig Verdi lugt hervor, Angejazztes sowieso. Selbst der Kontrapunkt in Bach’scher Manier taucht in einem A-cappella-Satz auf. Das alles fließt in Weills dynamische und äußerst kraftvolle Musiksprache, begeistert und unterhält bestens, wie auch der äußerst vitale Totentanz Mahlers, der dem Oratorium beziehungsreich vorangestellt war. Als „Kind der DDR“ sind mir die biblischen Geschichten leider nicht sehr vertraut. (Das wenige, was ich weiß, stammt aus den Büchern von Stephan Heym und Lion Feuchtwanger.) Da ist es schade, dass die musikalische Seite der Aufführung natürlich mit den Tücken des Domes zu kämpfen hat. Für den Chor und die hinter dem Orchester positionierten Solisten war eine Textverständlichkeit praktisch nicht gegeben. Dem musischen Gesamteindruck tat dies allerdings wenig Abbruch, denn die Orchesterklänge schwebten transparent und ausgewogen durch das Langschiff des Domes und taten ihre Wirkung. Insgesamt aber großes Theater auf der Bühne der Verantwortung.

WEG DER VERHEISSUNG als bewegendes Zeitdokument

Volksstimme Magdeburg, 06.06.2006
von Dr. Herbert Henning
Der sakrale Kirchenraum des Doms zu Halberstadt zwischen Orgelempore und Hochaltar mit dem monumentalen Kreuz wird zum einzigartigen Theaterraum für ein in dieser Form einmaliges Projekt von Schauspiel, Ballett, Orchester und Musiktheater. Und es wird ein Raum, in dem Realität und Fiktion, biblisches Drama und die Verfolgung der damals noch in Halberstadt verbliebenen jüdischen Einwohner, die am 12. April 1942 am Dom für die Deportation in die Konzentrationslager zusammengetrieben wurden, verschmelzen. In seiner Bearbeitung des ersten Teils des Bibeldramas DER WEG DER VERHEISSUNG von Kurt Weill nach dem Text von Franz Werfel für ein von Musik, szenischem Spiel und Tanz konzipiertes Gesamtkunstwerk verlegt André Bücker DIE ERZVÄTER an jenen Ort, wo im April 1942 das geschah, was Franz Werfel beschrieb: „Dieses Bibelspiel ereignet sich unter einer zeitlosen Gemeinde Israels in einer zeitlosen Nacht der Verfolgung“. Diese Metapher für Zeitlosigkeit und Verfolgung wird in der szenischen Einrichtung des Oratoriums durch André Bücker und durch die von Jaroslaw Jurasz inszenierte tänzerische Umsetzung des biblischen Geschehens um Abraham und Sara, Isaak, Jacob und Rahel sowie Joseph und seine Brüder aus dem „Alten Testament“ in ungemein dichten, emotional berührenden Bildern deutlich. Sie entstehen simultan im ganzen Kirchenschiff, überlagern sich und werden immer wieder von der kraftvollen Musik Kurt Weills neu inspiriert.
Sensible Interpretation der Partitur
Johannes Rieger gelingt mit dem Orchester und dem verstärkten Chor des Nordharzer Städtebundtheaters (Einstudierung : Marbod Kaiser), in dessen Mitte die einzelnen Solisten ihre Partien singen, eine musikalisch beeindruckende, sehr differenzierte und die Akustik des Doms sehr sensibel meisternde Interpretation der klangprächtigen Partitur. Bei ihm bündelt sich das Spiel der im Dom aus Angst vor Verfolgung und Tod Zuflucht suchenden Männer, Frauen und Kinder mit ihren Fragen an ihren Rabbi, ihren Ängsten und Hoffnungen mit der biblischen Erzählung des Rabbi (Paul Batey) von den Erzvätern um Abraham und seine Nachkommen von der Kanzel des Gotteshauses und der tänzerischen Bebilderung der biblischen Geschichte von Abraham und dessen Sohn Isaak, der vom Opfertod bewahrt wird, sowie Rahel und Jacob, die sich in Liebe finden und an ihren Sohn erinnern. Die Tänzerinnen und Tänzer geben dabei durch ihre weichen, klaren Bewegungen, in synchronen Formationen und solistischen Einsprengseln eine eigene Deutung des Geschehens, bei dem sich immer wieder das biblische Geschehen mit den (realen) Szenen im Gebetshaus vermischen.
Musikalisch beeindrucken von der Orgelempore singend Juha Koskela (Stimme) und Gijs Nijkamp als Abraham, wie auch Xiaotong Han und Bettina Pierags als Jacob und Rahel sowie Ingo Wasikowski als Joseph und Angelika Kirchhof als Sara.
Die ausgefreilte Sprachkultur von Henry Klinder (Abraham), Markus Bölling (Der Fromme), Markus Kammermeier (Der Ängstliche), Sebastian Müller (Rabbiner) und Kerstin Klinder als Sara neben allen anderen machen die hochkarätige Aufführung zu einem bewegenden Zeitdokument.
Nicht von ungefähr stand am Anfang die Aufführung der Sinfonie „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith.
Die Verantwortung von Kunst
Die von dem weltberühmten Isenheimer Altar des Malers Mathias Grünewald inspirierte Komposition des verfemten Künstlers stellt Bezüge zwischen dem Verhalten der historischen Figur des Malers im Religionsstreit der Bauernkriege und dem der „nichtarischen“ Künstler im Dritten Reich her. Und die stellt die Frage nach der politischen Verantwortung der Kunst. In der musikalischen Ausformung der dreisätzigen Sinfonie gelang MD Johannes Rieger eine einfühlsame wie auch aufwühlende, in der Klangmassierung zwischen Piano und Fortissimo der Bläser ungemein ausgewogene Wiedergabe, gleichsam, als emotionale Einstimmung auf den WEG DER VERHEISSUNG, mit dessen Aufführung das Nordharzer Städtebundtheater wieder einmal überregional Aufmerksamkeit erregen dürfte.

Sühnendes Erinnern steht für Verheißung

Mitteldeutsche Zeitung, 07.06.2006
von Andreas Hillger
Der Ort kann konkret werden, weil die Zeit allgemein bleibt: „Dieses Bibelspiel ereignet sich unter einer zeitlosen Gemeinde Israel in einer zeitlosen Nacht der Verfolgung“, schrieb Franz Werfel über sein Libretto zu DER WEIG DER VERHEISSUNG. Die Geschichte jener Juden, die in einem geschlossenen Raum Schutz suchen, könnte sich also auch am 12. April 1942 in Halberstadt ereignet haben – wenn die Domgemeinde ihr Gotteshaus geöffnet hätte, um den zur Deportation Zusammengetriebenen Asyl zu gewähren. Für das Nordharzer Städtebundtheater war die damalige Verweigerung nun Anlass, dem Halberstädter Domfest einen nachdenklichen Akzent beizufügen.
Mit der Aufführung der „Erzväter“, die den ersten Teil dieses gigantischen Festspiels zur Musik von Kurt Weill darstellen, geht das gesamte Ensemble bis an seine Grenzen – und gelegentlich sogar darüber hinaus. Geschickt hat Intendant André Bücker die drei Sparten seines Hauses zu einem Triptychon aufgefächert, dem sein Musikdirektor Johannes Rieger mit Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ den dramaturgischen Rahmen gibt. Bereits im dritten Satz schreiten Chor und Gesangssolisten paarweise zu ihrer Tribüne unter der Orgelempore. Dann drängen sich plötzlich Menschen im Mittelgang – ein Kind mit einem Ball, Männer und Frauen mit Koffern.
Auch Weill und Werfel schöpfen im amerikanischen Exil aus ihrem geistigen Reisegepäck, als sie die Geschichte des jüdischen Volks erzählten. Die biblische Überlieferung war ihnen Anlass für eine Vergegenwärtigung jener Tradition, die durch die Nationalsozialisten in ihrer Heimat mit dem Tode bedroht wurde. Wenn der Choreograf Jaroslaw Jurasz diese pathetisch-poetischen Legenden von Abraham und Sara, Jakob und Rahel oder Joseph und seinen Brüdern nun zum Anlass für Tänze nimmt, die der klassischen Moderne einer Mary Wigman oder Gret Palucca nachempfunden wurden, wirkt das nur auf den ersten Blick befremdlich. Im Kontext mit dem deklamatorischen Gesang und der gestischen Musik, die freilich einige der Interpreten überfordern, ergibt sich ein würdiger Eindruck.
Es sind die kleinen Gesten, mit denen Regisseur Bücker und seine Ausstatterin Alrune Sera den sakralen Raum für ihre Figuren erobern. Da treten die Sänger und Tänzer durch den Lettner, singt der Rabbi von der Kanzel und erklingt die göttliche Stimme vor dem Orgelprospekt. Und da gibt es einen nicht von Werfel stammenden Text“ „Wir schreiben das Jahr 5403“ – die jüdische Zeitrechnung nennt ein konkretes Datum für das Ende der Halberstädter Gemeinde. Am Ende applaudieren viele Zuschauer unter Tränen. Das ist keine wohlfeile Versöhnung, sondern sühnendes Erinnern – und eine Aufführung, die hoffentlich auch beim nächsten Kurt-Weill-Fest in Dessau weit über ihren künstlerischen Wert hinausweisen darf.

zu „Top Dogs“

Die Könige im Kellerloch

Katharina Erlenwein, Nürnberger Nachrichten
„Top Dogs“ von Urs Widmer in den Nürnberger Kammerspielen: Groteske mit Gefühl für Gefallene
Von ihnen liest man kaum mal in der Zeitung, sie sind die buchstäblich grauen Eminenzen im Dreiteiler, tragen die Financial Times als Statussymbol mit sich herum, aber bis ganz nach oben haben sie es nicht geschafft: Mächtig genug, um flott mal ein paar tausend Mitarbeiter zu entlassen, waren sie. Jetzt finden sie sich unfreiwillig in einer Art Kellerverlies vom Innenarchitekten wieder, vor holzgetäfelter Wand und auf fröhlich-pinkem Velour, aber ohne Aussicht - in der effektvoll-kargen Ausstattung von Mitra Nadjmabadi. Es hat sie selbst erwischt, die Manager-Riege im Kapitalisten-Kampf, die "Top Dogs".
Regisseur André Bücker hat Urs Widmers bissige Sozialsatire der Upperclass in den Nürnberger Kammerspielen vielfach verschränkt. Sechs Männer und zwei Frauen stolzieren mit Kronen und Königsmänteln zum Zuschauereingang herein und lesen versonnen Textfragmente aus Shakespeares "Richard II.", in denen es um den "Bankrott seiner Erhabenheit" geht - offenbar, ohne den Inhalt zu verstehen. Ein Königsdrama also, um lächerliche Herrscher mit Blechkronen und Renaissance-Krägen. "White Collar-Schrott" wird später einer das nennen, was sie in der Gesellschaft darstellen.
Ins Groteske überzieht Widmer diese geschlossene Gesellschaft der Überflieger, die sich zum "Outplacement"-Seminar treffen. Bücker folgt ihm, lässt aber Spielräume für Mitleid. Unter Anleitung der resoluten Seminarleiterin (Michaela Domes) wird hier Selbsterfahrung geübt. Jeder darf mal befehlen, jeder muss sich allmählich entblättern, bis von den aufrechten Herrschern am Schreibtisch nur noch menschlicher Durchschnitt übrigbleibt. Jeder trägt einen realen Schauspielernamen, nie aber den eigenen.
So muss Herr Domes (schön verunsichert: Jochen Kuhl) erstmal laufen lernen, staksenden Schrittes über die Bühne tigern und dabei Selbstbewusstsein ausstrahlen. Man macht sicht lächerlich, nur um die scheinbare Würde des chancenreichen Management-Hais zu wahren.
Ähnliche Leibesübungen bis hin zum (lang ausgewalzten) Tai-Chi oder Kickboxen unterbrechen immer wieder Widmers sarkastischen Text: Selbstgefällig erzählt Herr Schebesch (Stefan Lorch), er habe "keinerlei Probleme" mit seiner Entlassung - nur seine Frau landete in der Psychiatrie. Herr Matschuck (Pius Maria Cüppers mit vollem Komik-Körpereinsatz) bekommt ehrlicherweise den Weinkrampf sofort, rächt sich danach im Rollenspiel aber bitter am eigenen Selbst und wird gemein-persönlich.
Andere verstecken sich hinter großspurigen Geschichten von schnellen Porsches (bis sich herausstellt, dass sie sich nie damit zu fahren trauten): Thomas Sauerteig, eingesprungen für den erkrankten Hartmut Neuber, zeigt mit Adeline Schebesch virtuos den Parade-Macho, der seiner "Mary-Maus" nie zuhört - schließlich hat ihr Haushalt keine Millionenumsätze. Szenen einer Manager-Ehe.
Bei der allmählichen Wandlung dieser Erfolgreichen zu Schattengestalten, die neuen Halt suchen, geht die Bissigkeit, mit der Widmer die Top Dogs bloßstellt, zusehends flöten. Äußerst menschlich schwärmen die Ex-Manager, im ganzen Zuschauerraum verteilt, von Jobs als Zoowärter, vom Mord am Ex-Chef oder Karrieren in New York. Soweit, so verständlich.
Kollektiv wird in Ohnmachten gefallen, hektisch werden Stühle geschoben, später kriechen die Ex-Manager auf dem Boden und tragen im Chor die biblische Apokalypse vor - ein surrealer Boden für diese Inszenierung, die sich aber nie endgültig fürs Groteske entscheidet. Dass Frau Cüppers (zwischen schnippisch und weinerlich: Adeline Schebesch) schließlich für einen Erlanger Weltkonzern nach Korea gehen, unsicher die Treppe besteigen darf, die aus dem Kellerbunker führt, das kann einen dann doch nicht freuen. Schließlich kennt man ihren knallharten Ehrgeiz. Für intensive Schauspielerleistung gab's anhaltenden Premierenbeifall.

Heftig und bildkräftig: Urs Widmers "Top Dogs" in den Kammerspielen

Hans-Peter Klatt, NÜRNBERGER ZEITUNG
Apokalyptische Namens-Verwirrung
Der Regisseur überdreht das Spiel mit den Rollenspielen, aber die Darsteller sind top
Da redet die Theaterleitung von dringlichster Sanierungsbedürftigkeit der Kammerspiele - und was fällt uns bei der jüngsten Premiere sofort ins Auge? Der Bühnenhintergrund ist in voller Breite mit echter Mahagoni-Imitation vertäfelt. Doch damit nicht genug: Verschwenderisch und seidig schimmernd, breitet sich die feine rote Auslegeware bis in den Zuschauerraum aus. In der Bühnenmitte aber hat Ausstatterin Mitra Nadjmabadi stolz und steil eine Karriereleiter errichtet.
Die acht "Top Dogs", die nun diese durchgestylte Szenerie betreten, sind allerdings gerade die Treppe hinuntergestürzt. Einer der Spitzenmanager will es noch nicht wahrhaben. Er meint, seine Firma, die Lufthansa, habe ihn hergeschickt, um mögliche Synergie-Effekte auszuloten. Die Outplacement Agentur dient indes dazu, den freien Fall des Catering-Bosses abzufedern. Instituts-Chefin Kindermann, gewohnt temperamentvoll gespielt von Michaela Domes, kennt die Lage; dem Kranich-Mann hingegen muß erst ein Licht aufgehen.
Ein starker Auftritt für Jochen Kuhl. Irritierend daran ist nur, dass er "Herr Domes" heißt. Auf den Namen "Herr Kuhl" hört in André Bückers Inszenierung der Schauspieler Rolf Kindermann. Jeder Darsteller trägt somit den Namen eines anderen. Dieser bizarre Regie-Einfall will nicht einmal dem Schauspiel-Direktor einleuchten. Als er vor Premierenbeginn einen kurzfristig eingesprungenen Gast-Mimen ankündigt, bezeichnet er ihn als "den mit dem Porsche 911". Wohlgetan, Herr Kusenberg! Denn wie soll man dem Publikum erklären, dass Thomas Sauerteig den "Herrn Lorch" verkörpert, den eigentlich der erkrankte Hartmut Neuber spielen sollte, während Rainer Matschuck den "Herrn Neuber" darstellt?
Doch wie alles Schlechte im Theater geschieht auch dieses Bäumchen-Wechsle-Dich-Gekasper in bester Absicht. Rollenspiele sind nämlich das zentrale Therapie-Instrument der Outplacement Agentur. Die gestürzten Wirtschafts-Könige, die der Regisseur in seinem initialen Holzhammer-Schlag tatsächlich als gekrönte Häupter einmarschieren lässt, müssen jeweils den Part eines anderen übernehmen, um sich selbst zu erkennen. Also spielt Pius Maria Cüppers, der prinzipiell den "Herrn Matschuck" darstellt, nun seinen Oberboss, der ihn gefeuert hat. Den Entlassenen mimt hilfsweise Rainer Matschuck, der aber eigentlich unter "Herr Neuber" firmiert. Hartmut Neuber allerdings meldete sich krank, wie uns der Schauspielchef erklärte. Alles klar.
Am besten ist Matschuck - also der echte Rainer Matschuck, der den "Herrn Neuber", nicht den kranken, sondern den im Stück . . .
Geben wir es auf, sprechen wir von der Inszenierung. Man merkt ihr an, dass hier eine Choreographin (Teresa Rotemberg) mitgearbeitet hat. Immer wieder kommt es zu starken kumulativen Momenten. Beispielsweise rotten sich die Manager zu Kriegshaufen zusammen, die "mit dem Flammenwerfer in die Konkurrenz reingehen", mit der einen Hand das Fanal der milliardenschweren Gewinnsteigerung emporrecken, um gleichzeitig mit der anderen tausende von Beschäftigten hinauszuwerfen. Keine Katastrophe - es sei denn, die Führungskraft selbst steht plötzlich auf der Straße.
Ja, Urs Widmers brisantes Stück ist seit der Uraufführung 1996 womöglich noch dichter an der Realität. Bücker hat das richtig erkannt, auf die üblichen Regisseurs-Mätzchen der Stücke-Zertrümmerung gepfiffen und sich überraschend eng an den Text gehalten. Die Schauspieler ließ er tun, was sie gelernt haben. Daher erlebt der Zuschauer fulminante Gefühlsausbrüche von abgehalfterten Spitzenverdienern, die ihr Job zu Gefühlskrüppeln gemacht hatte und die jetzt, ihrer Statussymbole beraubt, ins Bodenlose fallen.
Doch halt, da ist ja noch das Institut von Frau Kindermann. Die betreibt den Wiederaufbau mit allen Tricks - von der fernöstlichen Entspannung bis zur Kampf-Technik: Naja, die Karate-Künste des Nürnberger Ensembles würden selbst für den grünen Gürtel nicht ganz ausreichen. Aber wie sich die acht dann am Schluß zum konvulsiven Managerknäuel formieren, die biblische Apokalypse skandieren und dazu die Namen der Weltfirmen als verzweifeltes Glaubensbekenntnis herausbrüllen - das hat Wucht. Optisch, akustisch, in jeder Beziehung.
Sogar, wenn sie sich am Boden wälzen, sind sie noch irgendwie großartig, unsere "Top Dogs". Wie sie auch heißen mögen. Apropos: Adeline Schebesch, die bei der Premiere nicht immer wusste, wie sich ihre Mitspieler nennen, hört auf den Namen Cüppers, während Stefan Lorch als "Herr Schebesch" auftritt und Pius Maria Cüppers . . .Ach, was soll's; Namen sind Schall und Rauch, und unser kranker Nachbar auch.

zu „Im Weißen Rössl“

Turbulenter Schwank im „Weißen Rössl“

Sommertheater der Landesbühne landete am Rosenhügel einen unterhaltsamen Volltreffer

Wilhelmshaven
Heut geh’n wir ins „Weiße Rössl“, sagten sich Sonnabend abend so um die 450 Theaterfreunde und wanderten, radelten oder kamen per P+R-Service ab Sportforum zum Rosenhügel am Stadtpark. Diesmal ohne Schal und Mantel, ohne Pullover und Regenschirm. Ein schöner, blitzblanker Sommertag neigte sich dem Abend zu. Regen-Wahrscheinlichkeit null Prozent. Dabei hätte es heuer ruhig tröpfeln dürfen, denn die Landesbühne Niedersachsen Nord hatte aus den Erfahrungen vergangener Jahre gelernt und für ihr Sommertheater am Rosenhügel ein komfortables Festzelt aufstellen lassen. „Ätsch“, dachte sich Wetterregisseur Petrus und stellte alle Regenprognosen auf den Kopf.
Das Singspiel „Im Weißen Rössl“ mit zündenden Melodien von Ralph Benatzky, Texte und Gesänge von Robert Gilbert, schafft nicht nur während der Aufführung echte Urlaubsstimmung. Wieder zu Hause angekommen, möchte man sofort die Koffer packen und ab nach St. Wolfgang im Salzkammergut. Aus dem urig-deftigen Gasthof mit der ansprechenden Rösslwirtin ist allerdings ein Romantikhotel, sprich Nobelherberge geworden. Wen stört’s, das Alpenpanorama, der Wolfgangsee und die Hütt’n sind als Kulissen-Blickfang geblieben.
Die Getränke sind serviert. Auf Geht’s! Das Spiel kann beginnen. Zunächst vollführt Stefan Diekmann als Kellner-Piccolo seine schelmischen Kunststücke und setzt zum Entzücken der Zuschauerinnen zum Striptease an. Der wagt sich was, doch nein. Beruhigung: Unterhalb der Gürtellinie bleibt alles bedeckt. Und dann stürmt die Touristengesellschaft über den Laufsteg aus dem Publikum auf die Bühne. Die „Kalbskogel Hillbillis“ machen Musik, Erich Radke im krachledernen agiert am Dirigentenpult, während sich der Piccolo mit dem Reisegepäck der Gäste abplagen muss. Stimme aus dem Publikum: Soll ich helfen? Das unterhaltsame Operetten-Geschichtchen des „Weißen Rössl“ amüsiert das Publikum pralle drei Stunden. Es soll hier nicht nacherzählt werden, schließlich sind noch zwölf weitere Vorstellungen im Festzelt am Rosenhügel vorgesehen. Wie gesagt, ohne Schal und Schirm. Empfindlichen Personen ist ein Sitzkissen zu empfehlen, denn die Wirtshausbänke sind hart und unnachgiebig.
Schnell hat das Publikum Holger Teßmann als Zahlkenner ins Herz geschlossen. Wenn er den Schlager-Evergreen „Es muss was Wunderbares sein, von Dir geliebt zu werden“ anstimmt, schmelzen die Mädchenherzen dahin. Nicht so das Herz der charmanten Rössl-Wirtin Josepha Vogelhuber, fast einen Deut zu elegant dargestellt von Suzanne Andres. Sie hat es auf den Rechtsanwalt Dr. Otto Siedler abgesehen, der bravourös von Thomas Sauerteig verkörpert wird. Mit sarkastischem Humor ausgestattet, berlinert Oskar Matull als Fabrikant Wilhelm Gieseke und Sommerfrischler durch die Szenen. Er würde viel lieber Ferien in Ahlbeck oder am Wannsee machen. Wenn da nicht seine Tochter Ottilie wäre, mit neckischem Augenaufschlag reizend gespielt von Masha Karell. Sie findet schließlich zu Dr. Siedler, und die charmante Rössl-Wirtin hat das Nachsehen. Schließlich kommen die Paare wohlgeordnet zusammen.
Da ist noch der schöne Sigismund Sülzheimer, den Christian Hettkamp mit Bravour spielt und singt. Er verliebt sich postwendend in Klärchen, des Professors Dr. Hinzelmanns Töchterlein, der Sabine Krings Gestalt und Stimme verleiht. Johannes Simons bringt als Professor den melancholischen Touch in die oft äußerst turbulente Handlung.
Schließlich folgt der Auftritt von Kaiser Franz Joseph mit Gefolge, der in stoischer Ruhe von Florian Worbs dargestellt wird. Wenn die Kaisergarde einrückt, könnte man denken, die Kicker des FC Bayern-München tauchen da auf. Das Publikum ist begeistert. Die Operettenstimmung hat sich im ganzen Festzelt ausgebreitet. Singende Schauspielerinnen und Schauspieler machen Operettenstars überflüssig. In weite Ferne gerückt ist die Alltagshektik, wird in die Aufführung doch der ganze Zeltbau einbezogen, so dass man glauben darf, ganz persönlich im Weißen Rössel am Wolfgangsee zu sein.
Inszeniert hat André Bücker mit leichter Hand die Aufführung, unterstützt von Erich Radket als musikalischem Leiter, in fabelhafter Ausstattung und Kostümen von Dorin Gilbert, Choreographie Susanna Panzner. Ein paar kürzbare Längen, die nach der Pause das rasante Tempo der Aufführung bremsen, sind schnell zu vergessen. Die Musik wird gemacht von Erci Freytag (Piano), Gerold Donker (Contrabass), Esther Beckert (Cello), Hans-Christian Jaenicke (1. Violine), Angelika Usselmann (2. Violine) und Oliver Spanuth (Drums).
Mit frenetischem Beifall werden die Mitwirkenden, die Musiker und die Regie verabschiedet. Das Ensemble singt, tanzt und spielt nochmals einen Querschnitt durch die Melodien des „Weißen Rössl“ am Wolfgangsee. Hingehen und den Alltag vergessen. (Ernst Richter)

zu „Das wilde Fest“

Der gereimte dekadente Partyabend

Ilka Hillger, Mitteldeutsche Zeitung/ Dessau-Roßlau, 15.09.2009

  Den Kater nach diesem Abend mag man sich nicht vorstellen. Es reicht, davon zu hören, wie die Party verlief, um eine Ahnung davon zu haben, wie der Tag danach aussieht. Manche wachen mit einem Filmriss auf, andere hinter Gittern. So kann es gehen, wenn man mit Joseph Moncure March feiert, ihn erzählen lässt von einem „Wilden Fest“.

 

Klassiker des Jazz-Age

 

March schrieb mit seiner gereimten Erzählung eines überbordenden und außer Kontrolle geratenden Abends 1928 einen Klassiker des Jazz-Age. Seine Wortgewalt war so plastisch und drastisch, dass der Text auf den Index kam.
Inzwischen lässt sich verkraften, was der Amerikaner einst reimte. Es lässt sich sogar spielen. Wie, das sahen am Freitagabend im Foyer des Anhaltischen Theaters die Besucher des Gastspiels „Das wilde Fest“. Zwölf Jahre ist diese Inszenierung alt, für die 1997 André Bücker, damals noch am Dortmunder Theater, die deutschsprachige Erstaufführung besorgte.
Bücker ist derweil Generalintendant des Anhaltischen Theaters, seine Arbeit aus frühen Theaterjahren aber wird immer noch gespielt. Sporadisch kommen die Schauspieler Jörg Ratjen und Michael Fuchs, Sängerin Susanna Panzner und Pianist Jan Gerdes zusammen und nehmen das Publikum mit auf die Reise in eine Zeit der Dekadenz und Ausschweifungen.
In Dessau geben rote Vorhänge dem Foyer einen Hauch von Verruchtheit, zwei Flügel dazu, Abendkleid und Frack - viel mehr braucht es nicht, um die Geschichte von Queenie und deren Liebhaber Burrs zu erzählen.
Ratjen und Fuchs gehen den Abend langsam an, Steigerungsmöglichkeiten wird es schließlich noch ausreichend geben. Sie zelebrieren die Worte, werfen sich die Beschreibungen des Partypersonals wie Bälle zu, lockern den Kragen, wenn March den Abend heiß werden lässt, und kommen gänzlich und gekonnt aus der Spur, wenn Queenie im Spiel mit Partygast Black die Situation entgleitet.
„Das wilde Fest“ ist ein Fest für diese beide Darsteller, die sich blind verstehen und virtuos in spielerische Höhen treiben, die noch weit über dem Deckel des Flügels liegen, auf dem die Party ihren Höhepunkt findet. Ratjen und Fuchs können alle Partygäste in einer Person sein, wechseln ihr Personal in Windeseile und finden nur dann Ruhe, wenn Susanna Panzner die Geschwindigkeit drosselt. Mit Jazz- Standards von Gershwin, Ella Fitzgerald und Sinatra setzt sie Zäsuren, singt glockenklar und tanzt „As time goes by“ ganz anrührend mit einem Herrn aus dem Publikum.

 

Pianist hat letztes Wort

Das ist fast zu schön, für das was später kommt. Denn natürlich geht diese Orgie nicht gut aus, kommt Eifersucht ins Spiel, reimt March auf Teufel komm raus und tut es ihm der geniale Übersetzer gleich. Der letzte Satz gehört dem Pianist: „Es war die Polente“.
Für das Publikum war es ein Fest, diese Party im Theater erleben zu dürfen.

 

Frivol am Klavier

Das Dortmunder Schauspiel feiert J. M. Marchs „Wildes Fest“
Von Ralf Stiftel (Westfälischer Anzeiger 15.01.97)
Dortmund (eig. Ber.). Nein, eigentlich hat die Bar schon zu, aber die Dame lächelt nett und bekommt noch einen Sekt, ein Bier. Dann aber hebt der eine Mann die Stimme: „Blond is geil“, und das Gemurmel an den runden Tischen erstirbt. Das Studio des Dortmunder Schauspiels wurde zur Kneipe, hier feiern sie es: „Das wilde Fest“ des Joseph Moncure March. Das ist eigentlich ein Gedicht aus dem „Jazz Age“, 1928 erstgedruckt. Regisseur André Bücker macht aus der deutschen Erstaufführung eine bezaubernde kleine Unanständigkeit.

Den Text lesen die Schauspieler Michael Fuchs und Jörg Ratjen vor, doch doch, sie bekommen jeder von der prachtvoll als blondes Gift zurechtgemachten Sängerin Susanne Panzner ein Buch in die Hand gedrückt und tragen Literatur vor. „Das wilde Fest“ geht so: Das halbseidene Liebespaar Queenie und Burrs gibt eine Versohnungsparty zur nach einem Hauskrach, und „die ganze Bagage“ tnzt an, inclusive Kate und Black, mit denen es zu einem kleinen Partnertausch kommt, etwas Bettgeschichten und einem handfest blutig tragischen Finale. March schrieb Jargon, den Slang der Kneipenleute und Fummeltunten und verkrachten Künstler, und noch in der anonymen Eindeutschung ist es ein musikalischer Text, elegant mit seinen vielen Anzüglich- und Mehrdeutigkeiten, köstlich in kleinen Charakterisierungen – etwa Oscar und Phil: „Undenkbar, dass sie je einen Schritt ohne ihr Patschuli täten – Gottchen, man wäre ja nackter als nackt und käm ganz schön in Schwulitäten!“ Und dazu die Reimakrobatik, die „Ton“ auf „Fonds“ legt und „Räson“, „davon“, „Person“.
In Dortmund gehören die Zuschauer dazu. Wenn Queenie einen schwer erotisierten Klammerblues tanzt, greift sie sich selbstverständlich einen Herrn aus der ersten Reihe. Gespielt, gesprochen wird ums Publikum herum, hautnah, was den Kitzel der Frivolitäten selbstverständlich steigert.
Zu einem Fest gehört Musik. Pianist Werner Lemberg schüttet sich den nächsten Whisky ein und spielt#s noch einmal, schöne alte swingende Standards wie „As Time Goes by“ oder „Lover Man“ oder „Embraceable You“, und „Queenie“ Panzner singt dazu mit rauchiger, kraftvoller Stimme, und ihre kleinen Vokalkunststücke sind ein eigener Genuss. Dazwischen lesen die beiden Herren.
Das ist erst köstlich! Ratjen und Fuchs machen uns ja keinen trockenen Rezitationsabend, sie schlüpfen in die Rollen von Queenie, Burrs und Black, flöten Verführungen, grollen Drohungen. Ein schneller Wechselvortrag, manchmal im Rap-Tempo und Gestus, aber immer aus der Haltung des Dandy. Als Queenie und Black die Lust übermannt, da reißen sie an ihren Fliegen, an den weißen Hemden und edlen Sakkos, Ratjen liegt seine todschicken Boxershorts mit den rosa Herzchen frei, sie würgen sich, sie zerren aneinander, sie küssen si.. doch da kommt schon die nächste Zeile in einer ganz anderen Stimmung. Das alles mit dem winzigen Augenzwinkern, mit der feinen Ironisierung, die jederzeit verrät, dass die beiden eigentlich wissen, dass sie hier nur im Theater vorlesen, und wenn einer „stecken bleibt“, sagt Susanna Panzner schnell: „Seite 23“.
Ein nonchalanter Verwirrungs- und Verbalhochseilakt zwischen Kunst und Leben, Text und Temperament. Für Genießer.

zu „Priscilla – Königin der Wüste“

Eine Reise der dritten Art

Famoser Coup des Jungen Theaters Göttingen: „Priscilla – Königin der Wüste“ im Omnibus

Von Daniele Palu (HNA 24.11.02)

Göttingen
Wenn Ihnen in Göttingen demnächst aus einem voll besetzten Bus drei lustige Gestalten Kusshände zuwerfen, dann ist das kein karnevalistischer Vorbote, sondern die neueste Attraktion der Universitätsstadt.
Das Junge Theater hat mit der Uraufführung des oscarprämierten Films „Priscilla, Königin der Wüste“ einen Coup gelandet. Die Handlung, wie es sich für einen Kultfilm gehört, ist ebenso simpel wie hanebüchen: Drei Travestiekünstler reisen in einem Bus namens Priscilla zu einem Engagement. In der Filmvorlage aus dem Jahr 1994 stoßen Bernadette (Haye Graf), Tick alias Mitzi (Michael Schwyter) und Adam/Felicia (Daniel Mezger) während ihrer Fahrt auf spießige Hinterwäldler im australischen Outback. Auch die fast dreistündige Tour durch „dieses langweilige, unerträgliche Nichts“ namens Göttingen mit 40 zivilen Passagieren an Bord birgt einige Begegnungen der dritten Art: Beim ersten Zwischenstopp trifft die ungewöhnliche Reisegruppe in einem Schützenhaus auf die völlig ahnungslose, befremdete Gesellschaft einer Familienfeier. Die prächtig kostümierten Paradiesvögel geben eine Showeinlage zum Besten, und schon sitzen wir wieder im Bus, auf dem Weg zu Ticks Ehefrau Marion (Brit Kirsten Hennig), die das Trio für eine Revue in ihrem Hotel engagiert hat. Regisseur André Bücker orientiert sich an der originellen Filmvorlage, ohne sie plump zu kopieren. Bückers „Priscilla“ ist eine schrullige Komödie voller Glitter und Glamour, voller bissiger Dialoge, enthält aber auch einige sentimentale Momente. Die Inszenierung braucht weder eine ausgeklügelte Handlung, noch künstlich herbeigeführte Wendungen.
Die Göttinger Uraufführung setzt ganz auf die Kraft ihrer Darsteller, deren überragende Leistungen das schräge Getümmel zum Ereignis machen. Es ist nicht zuletzt auch ein Plädoyer für Toleranz, die sich bei den zufälligen Begegnungen mit Nicht-Eingeweihten während der diversen Zwischenstationen in erstaunlich engen Grenzen hält. „Priscilla“ ist aber vor allein eines: Ein mitreißend-musikalischer Road-Trip durch Göttingen, mit atemberaubend opulenten Kostümen (Frank Lichtenberg), waghalsigen Choreografien zu Melodien von Abba bis Gloria Gaynor, die nicht selten das Zwerchfell schmerzen lassen und einem – bis in die Nebenrollen (Thomas Kornmann als liebenswerter Mechaniker und Sonja Elena Schroeder als dessen herrlich-ordinäre Ehefrau) – glänzend aufgelegten Ensemble.
Am Ziel der Reise im Jungen Theater angelangt, feiert die euphorische Reisegesellschaft eine unvergessliche Spritztour, die zweifellos das Zeug zum Klassiker hat.

Mit Schminke, Show und schönem Schein

„Priscilla, Königin der Wüste“ hatte am Sonnabend Premiere im Jungen Theater Göttingen

Mit großem Aufwand hat Regisseur André Bücker den australischen Kultfilm „Priscilla, Königin der Wüste“ auf die Bühne im Jungen Theater gebracht – und in einen Bus, eine Autowerkstatt und zwei Vereinsheime. Der Aufwand hat sich gelohnt: Auch die Theaterversion hat das Zeug zum südniedersächsischen Kult.

Von Peter Krüger-Lenz
Treffen ist im Foyer des Jungen Theaters, so wie immer. Alles, was dann kommt, unterscheidet sich allerdings gründlich von einem Theaterabend, wie man ihn kennt. Raus aus dem Gebäude an der Hospitalstraße, hinten wieder rein. Ab in den Bus, quer durch Göttingen. Raus, rein, bisschen Show, schon geht’s weiter. Noch zwei Stationen, irgendwann leuchtet ein Engel am Wegesrand, schließlich ein tröstliches Ende mit großem Showspektakel und Bewirtung. Schon die Tour durch das südniedersächsische Outback macht Spaß. Regisseur Bücker, seinem Ensemble und dem Kostümbildner Frank Lichtenberg vom Stadttheater Hildesheim ist es zu danken, dass die Rundfahrt nicht der einzige Spaß bleibt.
Grundsätzlich orientiert sich Bücker an der Geschichte der drei Transvestiten, die in einem klapprigen Bus quer durch Australien zu einem Engagement fahren. Eine Tour, die Bernadette, Tick und Adam zusammenweißt, nachdem sie sich erst fürchterlich auf die Nerven gegangen sind.
Bernadette, eine alternde Transsexuelle, ist auf der heimlichen Suche nach Liebe und Geborgenheit. Adam steht der Sinn nach Abba und Dauerparty, was ihm schon mal Prügel von einem Macho einträgt und Bernadette nervt. Tick schließlich, der die beiden Kollegen zu der Tour überredet hat, weil seine Ex-Gattin ihn mit leichtem Druck einlädt, in ihrem Nachtclub aufzutreten, ist sich über seine sexuelle Ausrichtung kaum im klaren. Trotz allem Pomp, Bombast und Tütü, den ein solches Travestie-Stück natürlich mit sich bringt, hat es Bücker geschafft, diese Menschlichkeiten einzuweben. Haye Graf, Michael Schwyter und Daniel Mezger ist gelungen, neben aller Lust an Schminke, Show und schönem Schein an den richtigen Stellen berührende Momente zu zeigen. Und die kriegen die Besucher – maximal 40 zahlende und eine schwankende Zahl von Zufalls-Zuschauern in den Vereinsheimen – hautnah mit. Denn sie sind dabei, wenn Tick und Adam sich in Mitzi und Felicia verwandeln und Bernadette den Fummel anlegt. Sie erleben Streitereien, Lebenslust und Katzenjammer unmittelbar, weil die drei Paradiesvögel sie in ihre Privatheit mitnehmen. Wer sich in den Bus begibt, wird auch mit seinem eigenen Voyeurismus konfrontiert. Dass das nie peinlich wird, dafür sorgen die drei Schauspieler, denen man selten so nahe kommt, wie in diesem Stück voller beeindruckendem Schauspiel, pompöser Show und prächtigem Spektakel. Das Premierenpublikum würdigte die großartige Leistung mit lange nahaltendem Beifall.